Das Todesurteil des Pilatus
von Josef Blinzler
(aus: "Der Prozeß Jesu" Regensburg, Pustet 1955, S.170 ff.)
Pilatus kam nicht dazu, sein Vorhaben auszuführen, nämlich Jesu durch Verspottung von dessen Königtum frei zu bekommen. Sobald nämlich die Juden merkten, daß er im Begriffe war, sich über ihre Forderung endgültig hinwegzusetzen, spielten sie ihren letzten und gewichtigsten Trumpf aus: "Wenn du diesen freiläßt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich zum König macht, widersetzt sich dem Kaiser" (Joh 19,12b). Sie versteigen sich also zu der unverhüllten Drohung mit einer Denunziation beim Kaiser.
Eine groteske Situation! Der höchste kaiserliche Beamte Judäas muß sich von den Vertretern einer Nation, in der es wie kaum in einer andern Provinz allenthalben von leidenschaftlichem Haß gegen die römische Zwingherrschaft schwelte, der mangelnden Kaisertreue bezichtigen lassen.. So widersinnig die Drohung dem Prokurator vorkommen mochte, er konnte sich keinen Illusionen darüber hingeben, daß die Juden fähig waren, mit ihr Ernst zu machen, und daß dieser Schritt für ihn höchst fatale Folgen haben würde. Wurde er in Rom wegen Freilassung eines Menschen, der sich erwiesenermaßen als König der Juden ausgegeben hatte, angezeigt, dann mußte er beim kaiserlichen Gericht in den ernsten Verdacht der Nachlässigkeit und Untreue, der Begünstigung reichs- und kaiserfeindlicher Elemente kommen. Nach Lage der Dinge würde es ihm schwer fallen, sich von jenem Vorwurf zu reinigen, so daß er dann gewärtig sein mußte, selbst als Majestätsverbrecher behandelt und bestraft zu werden. Denn in solchen Dingen griff Rom damals rücksichtslos durch. Gerade von Kaiser Tiberius wird überliefert, daß er auf nichts strenger bedacht war als auf Sicherung des monarchischen Regiments und nichts unerbittlicher ahndete als sogenannte Majestätsverbrechen.
So brach unter dieser infamen jüdischen Drohung der Widerstand des Pilatus zusammen. Größer als seine Scheu vor der geheimnisumwobenen Person des Angeklagten, war seine Angst vor dem finstern und argwöhnischen Kaiser, wichtiger als die Heiligkeit des Rechtes erschien ihm seine persönliche Sicherheit. Er ließ den Gefangenen aus dem Prätorium herausführen, bestieg die Gerichtsbühne und setzte sich auf den Richterstuhl (Joh 19,13), um der Vorschrift gemäß e superiori und öffentlich, in Gegenwart des Angeklagten und der Ankläger das Urteil zu fällen, ein Urteil, das seiner richterlichen Überzeugung nicht entsprach, aber durch die jüdische Drohung unvermeidlich geworden war. Über die ihm aufgezwungene schmähliche Rolle erbittert, gab er aber seinem Richterspruch eine Form, die die Juden verletzen mußte. Statt bei Anerkennung der Schuld des Anklagten zu sagen: "Er hat sich zum König der Juden gemacht", bedient er sich der ironischen Worte: "Da ist euer König!" (Joh 19,14). Er stellte sich also, als erkenne er den Königsanspruch Jesu, den er jetzt als Staatsverbrecher verdammen muß, an: Dieser Hochverräter ist euer König.
So "rächte sich Pilatus an der angeblichen Staatstreue der Juden, indem er sie alle zu Staatsverbrechern stempelte". Als die erboste Menge schrie: "Hinweg, hinweg mit ihm, kreuzige ihn!", griff er diesen Ruf auf, um der Masse mit einer schneidend ironischen Frage ins Bewußtsein und Gedächtnis zu hämmern, daß das nun zu fällende Todesurteil auf ihr eigenes, ausdrückliches Verlangen und damit auf ihre Verantwortung hin erfolge: "Euren König soll ich kreuzigen?" Aber auch die Hierarchen blieben ihrer Rolle treu. Sofort parierten sie den Hieb mit den bedeutungsvollen Worten: "Wir haben keinen König als den Kaiser!" (Joh 19,15) Jetzt erst verkündigte Pilatus die Strafe für das von ihm bereits festgestellte Verbrechen. Das crimen laesae maiestatis wurde mit dem Tode, in den Provinzen regelmäßig mit dem Kreuzestod bestraft. Die Art der Todesstrafe mußte vom römischen Gericht näher bezeichnet werden. Bei Verurteilung zum Kreuzestod lautete die Sentenz gewöhnlich: Ibis in crucem (Du wirst das Kreuz besteigen).
Die Evangelisten sagen nun freilich nicht ausdrücklich, daß Pilatus ein formelles Todesurteil gesprochen hat. Daraus haben viele Forscher gefolgert, daß seine Entscheidung kein Urteilsspruch im technischen Sinn, sondern entweder ein Exekutionsbefehl unter Anerkennung des Synedrialurteils oder gar eine formlose Preisgabe des Angeklagten an die Juden gewesen sei. Was die letztere Auffassung betrifft, so ist sie sicher unrichtig. Sie beruht nämlich auf der Voraussetzung, daß in den Evangelien alle wesentlichen juristischen Vorgänge des Prozesses genau festgehalten sein müßten. Aber damit wird die Eigenart der Evangelien, denen es nicht um einen protokollarischen Bericht, sondern in erster Linie um den Aufweis der heilsgeschichtlichen Bedeutung der Geschehnisse geht, völlig verkannt. Nicht einmal bei Josephus dürfte man jene Voraussetzung machen; denn obwohl er unzählige Male und zwar nicht immer bloß beiläufig, von Exekutionen berichtet, erwähnt er kaum einmal den Wortlaut der Verurteilungssentenz oder auch bloß die Tatsache der formellen Urteilsverkündigung.
So verkehrt es wäre, daraus zu folgern, daß es sich in diesen Fällen um Hinrichtungen ohne Urteilsspruch gehandelt hat, so wenig darf ein derartiger Schluß aus dem Fehlen einer ausdrücklichen Erwähnung des Todesurteils in den evangelischen Berichten über den Prozeß vor Pilatus gezogen werden. Wenn wirklich, wie Rosadi meint, die letzten Worte des Pilatus in der Frage "Euren König soll ich kreuzigen?" bestanden hätten, wäre sowohl die Vollstreckung der Kreuzigung durch römisches Militär als auch die Bekanntgabe des Schuldtitels in der Kreuzesinschrift unbegreiflich; aus beidem ergibt sich zwingend, daß Pilatus die Verhandlung zu Ende geführt hat. Aber auch die Auffassung, der Prokurator habe im Verwaltungsverfahren das jüdische Urteil überprüft und am Schluß nur die Vollstreckung dieses Urteils angeordnet, läßt sich nicht halten.
Auf den ersten Blick scheint sie zwar durch den Ausdruck empfohlen zu werden, den sämtliche Evangelien in ihrem Bericht über die Schlußentscheidung des Pilatus gebrauchen: "Er übergab Jesus, daß er gekreuzigt würde". Johannes fügt dem Wort "übergab" noch das Dativobjekt "ihnen" (= den Juden) bei, wofür Lukas sagt: "ihrem Willen" (Mk 15,15; Mt 27,26; Joh 19,16; Lk 23,25). Wie der Fortgang der Passionsgeschichte zeigt, haben nicht etwa die Juden, sondern römische Soldaten die Hinrichtung vollstreckt. Das "Übergeben" ist also nicht im konkreten, sondern in einem übertragenen Sinn gemeint, was ja Lukas durch seinen Zusatz schon deutlich macht. Der Ausdruck "er übergab" hebt die Tatsache hervor, daß Pilatus mit seiner Entscheidung dem Begehren der jüdischen Ankläger nachgekommen ist. Darüber, ob diese Entscheidung die Bestätigung eines Urteils der jüdischen Richter oder ein selbständiges Urteil war, gibt jene Wendung demnach keinen Aufschluß. Vielleicht ist sie von den Evangelisten auch deswegen gewählt, weil sie im LXX-Text von Is 53,6.12 vom Todesleiden des Gottesknechtes gebraucht wird; wichtiger als eine Angabe darüber, ob die Entscheidung des Statthalters ein formelles Todesurteil war oder nicht, ist der urchristlichen Überlieferung der Hinweis, daß sich bei dieser Entscheidung die alttestamentliche Prophetie erfüllt hat.
Es fehlt nun aber nicht an Anzeichen dafür, daß Pilatus tatsächlich ein richterliches Urteil gefällt hat. Schon die Mitteilungen des Josephus und Tacitus und die Anspielung auf das römische Todesurteil in Lk 24,2o verstehen sich am ehesten in diesem Sinn, obgleich sie für sich allein nicht ausreichen, die Frage zu lösen. Einen festen Anhaltspunkt dagegen liefert die Mitteilung des Johannesevangeliums, wonach Pilatus seine Entscheidung vom Richterstuhl aus gefällt hat (19,13) Todesurteile mußten vom Richterstuhl aus verkündet werden, während alle sonstigen Urteile und Verfügungen de piano erfolgen konnten. Daß Pilatus den Richterstuhl auch dann bestiegen hätte, wenn er nur das jüdische Urteil zu bestätigen und dessen Vollstreckung anzuordnen gehabt hätte, ist undenkbar. Alle Evangelien machen ersichtlich, daß er seine Entscheidung erst nach erbittertem Ringen mit den jüdischen Anklägern gefällt hat. Nach Joh 19,12 f gab dabei die massive jüdische Drohung mit einer Denunziation beim Kaiser den Ausschlag. In solcher Stimmung kann dem Römer nichts ferner gelegen haben als die Absicht, die ihm abgetrotzte Entscheidung auch noch in besonders feierlicher Weise zu verkünden. Wenn er den Richterstuhl bestieg, dann deshalb, weil das unbedingt zum Verfahrensmodus gehörte, m.a.W., weil er ein Todesurteil zu erlassen hatte. Und daß er ihn bestiegen hat, bezeugt außer der klaren Angabe des Johannesevangeliums auch eine Notiz bei Matthäus; wenn dort nämlich berichtet wird, der Prokurator habe schon während des Prozesses den Richterstuhl eingenommen (27,19), dann ist es ausgeschlossen, daß er das Schlußwort de piano abgegeben hat.
Dazu kommt, daß der Schuldtitel, mit dem das Verfahren vor Pilatus endet, ein anderer ist als derjenige, der dem jüdischen Urteil zugrunde gelegen hatte. Im Synedrialprozeß ist Jesus des Verbrechens der Gotteslästerung für schuldig befunden worden. Das Verbrechen, das den Gegenstand des Verhörs vor dem römischen Gericht bildete und dessen Jesus schließlich auch für schuldig erklärt wurde, war das politische Verbrechen des Hochverrats. Pilatus eröffnet das Verhör mit der Frage: "Bist du der König der Juden?" (alle vier Evangelien). Er fragt nicht: "Bist du der Messias, der Sohn Gottes?", wie es angezeigt wäre, wenn er das jüdische Urteil zu überprüfen hätte. Lukas verdeutlicht den Sinn der neuen Anklage (23,2). Im Schuldspruch, den Pilatus zu Ende der Verhandlung abgibt, bezeichnet er den Angeklagten als "Judenkönig" (Joh 19,14). Vor allem aber erscheint dieser politische Schuldtitel in der Kreuzesaufschrift, die von allen vier Evangelien bezeugt wird. Während es also im Synedrialverfahren nur um die Frage eines religiösen Delikts ging, befaßte sich der römische Richter von Anfang bis Ende mit der Frage nach dem Vorliegen eines politischen Delikts. Die Verschiedenheit der zwei Anklagen wird nicht durch die Tatsache aufgehoben, daß beide zufällig auf ein und denselben Tatbestand zurückgeführt werden können, auf Jesu Beanspruchung der Gottessohn-Mes-sias-Würde. Der Umstand, daß der Messiastitel auch einen politischen Inhalt hatte, war insofern bedeutsam, als er den Juden einen bequemen Weg für die Anklageerhebung vor Pilatus gewiesen hat. Aber das Verfahren vor Pilatus hätte sich kaum anders abgewickelt und das Verhältnis der beiden Verfahren zueinander wäre auf keinen Fall anders zu beurteilen, wenn das Synedrium Jesus nicht auf Grund seines messianischen Selbstzeugnisses, sondern auf Grund irgendeiner anderen blasphemischen Äußerung (etwa wegen lästerlichen Aussprechens des Gottesnamens) verurteilt hätte. Wenn es aber im römischen Prozeß um eine wesentlich andere Schuldfrage ging als im jüdischen Prozeß, dann kann die Entscheidung des Prokurators nicht die Bestätigung des bereits ergangenen jüdischen Todesurteils im Verwaltungsverfahren gewesen sein, sondern nur ein eigenes, mittels eines neuen Gerichtsverfahrens unter Zugrundelegung des römischen Rechts gewonnenes Urteil.
Diese Auffassung wird auch von neueren Autoren, die den Prozeß Jesu im Lichte der antiken Rechtsgeschichte untersucht haben, geteilt, so von Robert Besnier, Professor für Rechtsgeschichte an der Sorbonne, und von Leopold Wenger, dem hervorragenden Kenner des antiken Rechts. Die Worte "Er übergab ihn zur Kreuzigung" (Mk 15,15 Parr) sind demnach als Umschreibung des Todesurteils zu verstehen. Wären die Evangelisten an der juristischen Seite des Vorgangs interessiert gewesen, dann hätten sie geschrieben: "Er verurteilte ihn zum Kreuzestod" oder - in direkter Rede -: "Er verkündete: Ibis in crucem". Das Urteil war sofort rechtskräftig und bedurfte nicht der kaiserlichen Bestätigung. Grundsätzlich konnte zwar gegen das Urteil eines kaiserlichen Delegaten an den Kaiser appelliert werden, aber diese Möglichkeit war vielfach und vermutlich auch im Falle Jesu durch die Delegation, die ja vor allem eine Entlastung des kaiserlichen Gerichtes bezweckte, von vornherein ausgeschlossen. Den Termin der Strafvollstreckung bestimmte der Richter nach freiem Ermessen. In der Regel wurde das Urteil unmittelbar nach seiner Verkündigung vollstreckt, und in den Provinzen wird man selten Ausnahmen gemacht haben. Bei Jesus mochte Pilatus die Gewährung von Strafaufschub schon mit Rücksicht auf die drohende Haltung der Juden für unzweckmäßig gehalten haben. Die durch einen Senatsbeschluß vom Jahre 21 n.Chr. erlassene Vorschrift, zwischen Verkündigung und Vollzug eines Todesurteils eine Minimalfrist von zehn Tagen einzuschalten, galt nicht für den statthalterlichen Prozeß, sondern nur für Todesurteile des Senates selbst.
Die Exekution wurde verfügt durch den Befehl des Staathalters an einen Offizier oder Soldaten, den Verurteilten abzuführen. Das Exekutionskommando, dem Jesus übergeben wurde, bestand aus vier Soldaten (Joh 19,23) und einem sie befehligenden Centurio. Da den Prokuratoren keine Legionen, sondern nur Auxiliartruppen unterstanden, kann es sich dabei nur um Angehörige einer Auxiliarkohorte gehandelt haben. Die Auxiliartruppen der Prokuratoren von Judäa rekrutierten sich aus der nicht-jüdischen Bevölkerung Palästinas, also hauptsächlich aus Syrern und Samaritanern, die meist erbitterte Judenfeinde waren.
Vielleicht hat Pilatus nach Beendigung des Prozesses Jesu sofort noch die zwei "Räuber" abgeurteilt, die gemeinsam mit Jesus gekreuzigt wurden. Da die Verhandlung gegen Jesus schon am frühen Morgen begann, ist es nicht wahrscheinlich, daß das Verfahren gegen die beiden vor dem Prozesse Jesu am Karfreitag stattgefunden hat; daß sie schon am Vortag abgeurteilt wurden, ist natürlich möglich, aber nicht sehr naheliegend, weil sie in diesem Fall gemäß der römischen Kriminalpraxis wohl noch am Vortag hingerichtet worden wären. Statt des Purpurmantels, den Jesus seit der Verspottung trug (Joh), gaben ihm die Soldaten jetzt seine Kleider zurück (Mk 15,20a). Sonst wurden die zum Kreuzestod Verurteilten unbekleidet zum Richtplatz geführt, da sie auf dem Wege dorthin, während sie den Balken trugen, gegeißelt wurden. Vielleicht wurde diese Sitte bei Jesus deswegen nicht eingehalten, weil er bereits gegeißelt war. Vielleicht aber vermieden es die Römer überhaupt, in Judäa einen Delinquenten unbekleidet durch die Stadt zu führen, da dies nach jüdischer Auffassung unschicklich war.
Von der Abnahme des Dornenkranzes wird nichts berichtet, weshalb man schon im 2./3. Jahrhundert gewöhnlich der Meinung war, Jesus sei mit der Dornenkrone auf dem Haupte gestorben. Aber wahrscheinlich wurde auch diese wie die übrigen Spottinsignien vor dem Gang zum Richtplatz entfernt. Pilatus hatte den Mummenschanz nur geduldet, weil er gehofft hatte, dadurch der Sache des Angeklagten eine bessere Wendung zu geben (Joh 19,4f) ; damit war es jetzt vorbei. Eine öffentliche Verspottung des Judentums war den römischen Soldaten gewiß auch gar nicht erlaubt. Von der Geißelung, die der römischen Kreuzigung immer vorausging, wurde bei Jesus Abstand genommen, weil er dieser Strafe bereits unterzogen worden war. Ihre Wiederholung hätte zweifellos seinen Tod zur Folge gehabt. Den Juden aber lag viel daran, daß er am Kreuze als "Fluch Gottes" sein Leben aushauchte. |