DER ATHEISMUS
von Papst Pius XII.
Die Gegenwart hat, indem sie den Irrlehren der Vergangenheit neue Irrtümer hinzufügte, diese zu Extremen getrieben; aus ihnen konnte nichts anderes als Verwirrung und Zerstörung folgen. Denn die tiefste und letzte Wurzel der Übel, die Wir an der modernen Gesellschaft beklagen, ist die Leugnung und Ablehnung einer allgemeingültigen sittlichen Norm, sei es für das Leben des einzelnen, sei es für das der Gesellschaft und für die internationalen Beziehungen; das heißt die in unserer Zeit so weit verbreitete Verkennung und das Vergessen des Naturgesetzes selbst, das seinen Grund in Gott hat; in Gott, dem allmächtigen Schöpfer und Vater aller, dem obersten und unbedingten Gesetzgeber, dem allwissenden und gerechten Vergelter der menschlichen Handlungen.
Wenn Gott geleugnet wird, dann wird jede Grundlage der Sittlichkeit erschüttert, wird die Stimme der Natur erstickt oder wenigstens erheblich geschwächt, die sogar die unbelehrten und nicht zu einer höheren Bildungsstufe gelangten Völker lehrt, was gut und was böse, was erlaubt und was verboten ist, und die die Verantwortlichkeit für das Handeln vor einem höchsten Richter in der eigenen Seele fühlen läßt.
Die Leugnung der Grundlage der Sittlichkeit hatte in Europa ihre erste Wurzel in der Loslösung von der Lehre Christi, deren Wahrer und Verkünder der Stuhl Petri ist, einer Lehre, die einst Europa geistigen Zusammenhalt verlieh, jenem Europa, das durch Christi Kreuz erzogen, geadelt und veredelt und zu einem solchen Grade bürgerlichen Fortschritts gelangt war, daß es die Lehrerin anderer Völker und anderer Kontinente wurde. Durch die Loslösung vom unfehlbaren Lehramt der Kirche jedoch sind viele der getrennten Brüder so weit gekommen, daß sie das zentrale Dogma des Christentums, die Göttlichkeit des Erlösers, umstürzten und damit den Prozeß der geistigen Auflösung beschleunigten.
Ein Trugbild schillernder Sätze Viele hatten vielleicht, als sie sich von der Lehre Christi entfernten und diese Trennung als Befreiung von einer Knechtschaft proklamierten, keine volle Erkenntnis davon, daß sie von einem schillernden Trugbild genarrt wurden. Sie sahen auch nicht die bitteren Folgen des Tausches voraus zwischen der Wahrheit, die befreit, und dem Irrtum, der knechtet; noch dachten sie daran, daß sie sich mit dem Verzicht auf das unendlich weise und väterliche Gesetz Gottes und die einigende und erhebende Liebeslehre Christi der Willkür einer armseligen und unbeständigen menschlichen Weisheit unterstellten. Sie sprachen von Fortschritt, während sie rückwärts schritten; von Erhebung, da sie herabsanken; vom Aufstieg zur Reife, da sie in Knechtschaft fielen. Sie sahen nicht, wie eitel alle menschlichen Bemühungen sind, an die Stelle des Gesetzes Christi irgendein anderes Gesetz zu stellen. Nachdem der Glaube an Gott und an [esus Christus geschwächt worden war und das Licht der sittlichen Grundsätze sich in den Seelen verdunkelt hatte, war das einzige und unersetzbare Fundament jener Festigkeit und Ruhe, jener inneren und äußeren, privaten und öffentlichen Ordnung untergraben, das allein die Wohlfahrt der Staaten bewirken und sichern kann. (1)
Wo findet die Seele des Menschen Frieden? Im staunenerregenden materiellen Fortschritt, in den Siegen des menschlichen Geistes über die Geheimnisse der Natur, über die Kräfte der Elemente von Erde, Meer und Himmel, in dem gierigen Wettstreit, erreichte Leistungen zu übertreffen, auf dem Felde kühner Forschung, in den Errungenschaften von Wissenschaft und Industrie, in Laboratorien, Werkstätten, in der Jagd nach Gewinn und Vergnügen, in der Spannung gegenüber einer überragenden Macht, mehr gefürchtet als erstrebt, mehr beneidet als erreicht, in dem Aufruhr des ganzen modernen Lebens: wo findet da die von Natur aus christlicher Seele des Menschen noch Frieden? Etwa darin, daß sie sich mit sich selber zufrieden gibt? Vielleicht in dem eitlen Ruhm, Herrin des Universums geworden zu sein? In dem nebelhaften Wunschgedanken und der Täuschung, die den Stoff mit dem Geist, das Menschliche mit dem Göttlichen, das Zeitliche mit dem Ewigen verwechselt? Nein, in solch aufwühlenden Träumen findet der Sturm der Seele und des Gewissens keine Ruhe. Nähert euch diesen Menschen, befragt sie! Sie werden euch antworten in der Sprache des Kindes, nicht in der des Erwachsenen. Sie hatten keine Mutter, die sie auf einen Vater im Himmel hinwies, sie wuchsen auf zwischen Wänden ohne Kruzifix, in Häusern, in denen die Religion verstummt, in Gegenden fern von Altar und Kirche; sie lasen Bücher, die den Namen Gottes und Christi nicht enthalten; sie hörten Priester und Ordensleute beschimpfen; sie gingen vom Lande, aus den Städten, vom häuslichen Herd in die Werkstatt, in den Laden, in die Hörsäle der Universität, zu jedwedem Handwerk, zu jeglicher Arbeit, ohne je eine Kirche zu betreten, ohne ihren Pfarrer zu kennen, ohne einen guten Gedanken im Herzen. (2)
Allzu bekannt sind die geistigen und sittlichen Gefahren und Verlockungen, die heute mehr denn je die christlichen Glaubens- und Lebensgrundsätze in den Seelen bedrohen. Eine ungeordnete Menge neuer und gegensätzlicher Meinungen, Eindrücke und Anreize beunruhigen sie die Volksmassen und dringen auch in Kreise ein, die in ruhigeren Zeiten gewillt waren, sich von klaren und weisen Normen beraten und leiten zu lassen. Sie legen dem christlichen Gewissen eine beständige und unermüdliche Wachsamkeit auf, seiner Richtung und Berufung treu zu bleiben.
In den leidenschaftlichen Wirbel der Ereignisse hineingezogen, ist der Mensch heute in Gefahr, daß seine Bereitschaft, die Ereignisse nach den reinen und unerschütterlichen Lehren des göttlichen Gesetzes zu beurteilen, geschwächt und verdunkelt wird. Und doch muß der Christ, stark im Glauben und ohne in seiner Pflicht nachzulassen, bereit sein, an den Ereignissen, den Aufgaben und den Opfern des Tages teilzunehmen. Nicht weniger muß er bereit sein, die Irrtümer seiner Zeit zurückzuweisen, und zwar so, daß er sich um so mutiger zeigen muß und um so bereitwilliger, das Licht Christi erstrahlen zu lassen, dem Irrenden Führer, Lenker und Geleit hin zu dem von so vielen vergessenen oder verlassenen geistlichen Erbe zu sein, je mehr sich die Finsternis des Unglaubens und des Bösen verdichtet. Er wird, unzugänglich den Umgarnungsversuchen anderer, voranschreiten, ohne in der Nacht der irdischen Dunkelheit vom Weg abzuirren. Er wird den Blick zu den Sternen erheben, die am Firmament der Ewigkeit funkeln, dem trostvollen Ziel und Lohn seiner Hoffnung. Je härter und beschwerlicher die Opfer sein werden, die von der Menschheit gefordert werden, um so kräftiger und tätiger wird er in der eigenen Seele die Kraft des göttlichen Gebots der Liebe werden lassen und den brennenden Wunsch, sie zur Führerin seines Trachtens zu machen. Und wenn ihn der gottlose Atheismus die Frage stellt: Ubi est spes tua? - wo ist deine Hoffnung? - dann wird er ohne Furcht für Gegenwart und Zukunft mit den Gerechten des Alten Bundes antworten: "Führt nicht solche Reden! Wir sind Kinder der Heiligen und erwarten das Leben, das Gott denen geben wird, die in ihrer Treue von ihm niemals ablassen" (Tob.2,16,18). Nolite ita loqui; quoniam filii sanctorum sumus, et vitam illam expectamus, quam Deus daturus est his, qui fidem suam nunquam mutant ab eo.
Der Glaube an Gott und die unwandelbare Treue zu ihm ist das Fundament der Hoffnung der christlichen Helden, jener Hoffnung, die nicht zuschanden wird. Alle jene, die ihr Glück hienieden im Sturm des Krieges haben untergehen sehen, alle jene, die als Opfer unvorstellbarer äußerer und innerer Leiden dahinsiechen, die leidenden Brüder der ersten Gläubigen weisen Wir hin auf die Schar alter und neuer Helden und Heldinnen, und wir rufen mit dem Völkerapostel: "Fratres ... non contristemini, sicut et ceteri, qui spem non habent. - Brüder, seid nicht traurig wie jene, die keine Hoffnung haben" (I. Thess. 4,13). - Ist nicht der stärkste Trost die Hoffnung, die uns verheißen ist, und die wir als sicheren und festen Anker der Seele besitzen, die bis jenseits des Schleiers vordringt, der den Himmel verhüllt, in den als unser Vorläufer Jesus Christus eingegangen ist? (3)
Auch die Irrlehren kennen
Es ist aber Pflicht der katholischen Theologen und Philosophen, die die große Aufgabe haben, die göttliche und menschliche Wahrheit zu verteidigen und den Herzen der Menschen einzupflanzen, diese mehr oder weniger vom rechten Weg abirrenden Ansichten zu kennen und zu beachten. Ja, diese Lehrmeinungen selbst sollen ihnen gut bekannt sein, weil schon Krankheiten nicht gut geheilt werden können, wenn sie nicht richtig erkannt sind, dann auch, weil in falschen Ansichten häufig ein Körnchen Wahrheit liegt; endlich auch drängen diese dazu, eifriger zu untersuchen und durchzudenken.
Wenn unsere Philosophen und Theologen aus der gründlichen Untersuchung dieser Lehren nur solche Früchte suchen wollten, hätte das kirchliche Lehramt keinen Grund, Einspruch zu erheben. Aber wenn Wir auch wissen, daß die katholischen Lehrer sich im allgemeinen vor diesen Irrtümern hüten, so fehlt es doch heute, wie in den apostolischen Zeiten, nicht an solchen, die allzusehr das Neue suchen oder aber auch fürchten, in den Dingen des wissenschaftlichen Fortschritts für unwissend gehalten zu werden, und darum sich der Leitung des heiligen Lehramtes zu entziehen trachten; so laufen sie Gefahr, sich unmerklich von den geoffenbarten Wahrheiten zu entfernen und auch andere mit sich in den Irrtum zu ziehen!
Es zeigt sich auch eine andere Gefahr, die um so größer ist, als sie mehr vom Anschein der Tugend verhüllt ist. Viele, die den Zwiespalt und die Verirrung der Geister betrauern, lassen sich von einem unklugen Eifer treiben, von ihrem Innern drängen und brennen in unüberlegtem Verlangen, die Umzäumungen zu entfernen, durch die gute und aufrechte Menschen voneinander getrennt sind; sie geben sich einem solchen "Irenismus" hin, daß sie unter Beiseitesetzung der trennenden Fragen nicht nur auf den Atheismus schauen, den sie mit vereinten Kräften bekämpfen, sondern auch auf die Beseitigung der Gegensätze in den Glaubenslehren. Und wie es eine Zeit gab, da sich manche fragten, ob nicht die herkömmliche Apologetik mehr ein Hindernis sei, die Seelen für Christus zu gewinnen, so fehlt es- auch heute nicht an solchen, die so weit zu gehen wagen, daß sie ernstlich die Frage vorlegen, ob nicht die heutige Theologie und ihre Methode, die von der kirchlichen Autorität gebilligt werden, nicht nur vervollkommnet, sondern ganz reformiert werden müßten, damit das Reich Christi auf der ganzen Welt, unter Menschen jeder Kultur und jeder religiösen Anschauung, wirkungsvoller verbreitet werden könne. (4)
Anmerkungen 1 Aus der Enzyklika "Summi Pontificatus", 20. Oktober 1939 2 Aus der Ansprache an die Leiter der Katholischen Aktion, 3. Mai 1951 3 Aus der Ansprache an das Heilige Kollegium, 2. Juni 1940 4 Aus der Enzyklika „Humani generis“ 12. Ugust 1950 aus: „Pius XII sagt“ Frankfurt am Main 1956, S. 238 f. und 252 ff. |