„Man raubt Familien die Luft zum Atmen" - Warum die Sozialpolitik zutiefst ungerecht ist und Deutschland Kinderarmut selbst produziert –
Sozialexperte Jürgen Borchert im Interview mit Pavel Jerabek
Immer mehr Familien sind armutsgefährdet, auf dem Wohnungsmarkt sind vor allem Familien mit kleinen Kindern zunehmend abgehängt. Was lauft da falsch? Der Sozialexperte Dr. Jürgen Borchert, ehemals Vorsitzender Richter am Hessischen Landessozialgericht, kritisiert, daß „ausgerechnet die sogenannten Solidarsysteme die Familien systematisch verarmen lassen". Er fordert eine Reform der Sozialversicherung und daß künftig alle Gesetze auf ihre „Familienverträglichkeit" überprüft werden.
Herr Dr. Borchert. trotz guter Konjunktur steigt die Kinderarmut in Deutschland. Immer mehr Familien sind armutsgefährdet. Was läuft falsch in diesem Land?
Zunächst gilt es, diesen unglaublichen Befund genauer anzuschauen: Die Geburtenzahl hat sich seit 1964 halbiert und gleichzeitig hat sich der Anteil der Kinder in Armut auf das 16-fache erhöht! Damals war jedes 75. Kind unter sieben Jahren zeitweise oder auf Dauer in der Sozialhilfe, heute ist jedes vierte, in manchen Regionen sogar schon jedes dritte Kind in Armut zu finden ...
... mit negativen Folgen für die Entwicklung des Kindes und seine Bildungschancen, wie Studien zeigen.
Mit verheerenden Wirkungen! Das läßt sich schon allein daran ablesen, daß von jedem Jahrgang fast 20 Prozent, also jedes fünfte Kind die Schule verläßt, ohne ein Minimum an den Kulturtechniken des Lesens, Schreibens oder Rechnens zu beherrschen. Für einen Hightech-Standort wie Deutschland ist das katastrophal!
Was sind denn die Ursachen der Kinderund Familienarmut?
Über Jahrzehnte hat uns die Politik erklärt, das seien die „faulen" deutschen Mütter, die im Durchschnitt weniger erwerbstätig seien als im europäischen Umfeld. Doch das hat sich längst geändert; mittlerweile ist Deutschland hinter den Dänen bei der Erwerbsbeteiligung der Frauen und Mütter weit vorne. Das zweite, was uns gesagt wird: die Arbeitslosigkeit. Natürlich hat Arbeitslosigkeit auch Auswirkungen auf die Familienfinanzen. Aber wir erleben, daß die Kinderarmut trotz eines Rückgangs der Arbeitslosenzahlen steigt.
Das heißt, die entscheidenden Ursachen liegen woanders?
Das heißt, wir müssen uns Gedanken machen über viel komplexere Zusammenhänge. Wenn man sich anschaut, wie sich die Armutsquote bei Kindern im Lauf der Jahrzehnte entwickelt hat, erkennt man eine absolute Parallelität mit dem Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge ...
... also der Beiträge zur Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und zur Rentenversicherung...
Ja. Die Sozialversicherung ist eine Kinderarmutsproduktionsmaschine. Wir produzieren die Kinderarmut! Das ist nicht irgendein soziales Schicksal, sondern die systematische Folge unserer Sozialversicherung, die ja circa dreimal soviel an Beiträgen einnimmt wie der Fiskus an Lohn- und Einkommenssteuer. Ausgerechnet die sogenannten Solidarsy-steme lassen die Familien systematisch verarmen.
Das müssen Sie jetzt aber erklären.
Die Sozialversicherung knüpft die Beitragspflicht an die Löhne. Die Löhne sind aber völlig familienblind. Die berücksichtigen nur den einzelnen Beitragszahler und seine Arbeitskraft und fragen nicht danach, wie viele Menschen davon zu ernähren sind. Dazu muß man sich klar machen, daß die Belastungswirkung der Sozialversicherungsbei-träge immer nur gemessen werden kann am Existenzminimum ...
... also am Grundbedarf eines Menschen für das Überleben.
Das bedeutet, dass eine Familie mit drei, vier oder fünf Kindern ein viel höheres Exi-stenzminimum hat als der Single. Trotzdem zahlt der Single - bei gleichen Bruttoeinkommen - den gleichen Beitragssatz Wie die fünfköpfige Familie. Da Wird nicht differenziert. Bezogen auf das Existenzminimum bedeutet. das: Je mehr Kinder da sind, desto härter Wirkt der Beitragssatz. - Das ist das Geheimnis, warum wir in Deutschland seit den 60er-Jahren diese unglaubliche Entwicklung von Kinderarmut haben. Das ist die zwingende Folge des Anstiegs der Beitragssätze von damals 18 auf über 40 % heute.
Um der Kinderarmut zu begegnen, schnürt die Politik immer wieder „Familienpakete". Haben Sie, der Sie seit Jahrzehnten an der Front der Familien- und Sozialpolitik stehen, den Eindruck, dass man in Berlin den Ernst der Lage erkannt hat?
Seit Jahrzehnten beobachte ich eine Familienpolitik, in der Vater Staat Geschenke zu verteilen vorgibt. Bei genauem Hinschauen sieht man dann aber, daß unter dem Strich Familien regelmäßig an anderer Stelle für die Gegenfinanzierung „bluten" müssen und am Ende schlechter dastehen als vorher. Der schlitzohrige Sozialminister Blüm nannte das immer „einschneidende Verbesserungen" ... Die jüngste Kindergelderhöhung ist nur der Tatsache geschuldet, daß das Existenzminimum anzupassen war - entsprechend der Veränderungen in der Lohn- und Preisentwicklung. Wenn die Kindergelderhöhung als großer familienpolitischer Fortschritt bezeichnet wird, jongliert die Bundesregierung wieder einmal mit der Tatsache, daß das Kindergeld kein Geschenk des Staates ist, sondern zum größten Teil die Rückgabe von Diebesgut.
Diebesgut?
Das Kindergeld hat eine Doppelfunktion, die es schwer macht zu verstehen, was da von „Rabenvater" Staat eigentlich geleistet wird. Im Einkommensteuergesetz, das auch das Kindergeld regelt, steht drin, daß der Staat zunächst einmal das Existenzminimum von Kindern im Prinzip genauso steuerfrei zu stellen hat wie das Existenzminimum von Erwachsenen. Tatsächlich wird aber in den meisten Fällen das Existenzminimum besteuert und erst am Jahresende dann geguckt, ob die Günstigerprüfung möglicherweise dazu führt, daß sich statt des Kindergeldes der Kinderfreibetrag besser auswirkt.
Was bedeutet das?
In jedem Euro Kindergeld steckt ein Ausgleich der verfassungswidrigen Besteuerung des Kinderexistenzminimum drin. Wenn also das Kindergeld erhöht wird, folgt dies in den meisten Fällen der Tatsache, dass auch das Kinderexistenzminimum sich verändert hat und deswegen die Freibeträge und mit ihnen das Kindergeld anzupassen sind. Das ist kein Geschenk des Staates, sondern das bedeutet, dass der Staat Diebesgut zurückgeben muss, das er verfassungswidrig eingenommen hat.
Ganz schön schwierig ...
Natürlich ist das schwierig. Das ist ja das Problem: daß die Verteilungsverhältnisse in Deutschland so total intransparent sind! Das fängt bei der Sprache an. Kindergeld wird als Geschenk verkauft, ist aber zum größten Teil Rückgabe von Diebesgut. Die beitragsfreie Mitversicherung, die uns immer als großes Geschenk in der Krankenversicherung genannt wird, ist, wenn man genau hinschaut, überhaupt keine beitragsfreie Mitversicherung, sondern die Kinder zahlen de facto ihre eigenen Beiträge.
Wie geht das denn?
Das Unterhaltsrecht verpflichtet die Eltern, von ihrem laufenden Einkommen das, was die Kinder benötigen, sofort an die Kinder abzugeben. In dem Augenblick, in dem Eltern Geld verdienen, entsteht der Anspruch der Kinder auf Unterhalt. Diese Beträge werden aber nicht aus der Beitragspflicht herausgenommen, sondern voll verbeitragt. Damit zahlen in Wirklichkeit die Kinder ihre eigenen Beiträge.
Und wie steht es mit den vielen anderen familienpolitischen Leistungen?
Es ist wie mit allen Wohltaten, die der Staat verteilt: Man muss immer fragen: Wo kommt das Geld eigentlich her, was Vater Staat da in Spendierhosenpose so großzügig zu verteilen scheint. Da stoßen wir auf die Tatsache, daß die Familien fast 70 Prozent des gesamten Steueraufkommens finanzieren. Diese Zahl wurde erst jüngst von dem Bochumer Ökonomen Martin Werding bestätigt.
Manchmal ist zu hören, direkte Zahlungen an die Familien wie etwa das Kindergeld oder auch das neue bayerische Familiengeld seien nutzlos; man solle lieber in den Bildungssektor investieren ...
Die Frage, ob Geld bei den Familien ankommt oder ob das Kindergeld möglicherweise für "Quersubventionen" der Brauereien verwendet wird, ist in hohem Maße ahnungslos und diskriminierend. Aus allen Erhebungen der Vergangenheit wissen wir, daß sich Eltern eher für die Bildungsbedürfnisse ihrer Kinder verschulden als das Geld für sich oder für Flachbildfernseher auszugeben. Bis auf einen minimalen Prozentsatz an sozial Kranken, die es aber in jeder Gesellschaftsschicht gibt, tun die Familien, was sie können, um mit ihren bescheidenen Bordmitteln ihren Kindern die bestmögliche Bildung zukommen zu lassen. Das Problem ist doch, daß Familien durch die staatlichen Abgabesy-steme immer mehr stranguliert werden. Man raubt ihnen die Luft zum Atmen. Die Folgen sieht man dann in allen Marktbereichen. Ein Paradebeispiel sind doch die Wohnverhältnisse in Deutschland. Wir erleben, daß die Familien mit kleinen Kindern und großen Bedarfen nicht genügend Einkommen haben, um sich auf dem Wohnungsmarkt durchzusetzen, weil sie einer Konkurrenz von Singles gegenüberstehen, die sie mit ihren überschießenden Einkommen in die Randlagen verdrängen.
Sie kämpfen seit vielen Jahren für Familiengerechtigkeit in der Sozialversicherung und sind der Architekt von entsprechenden erfolgreichen Verfassungsbeschwerden. Wie kann es eigentlich sein, dass die Politik nicht schon längst reagiert hat?
Die Wählerstrukturen haben sich gegenüber den 1950/60er- Jahren völlig verändert, denn die Haushalte mit unterhaltsberechtigten Kindern sind zur 20-Prozent-Minderheit geschrumpft. Die Politik steht immer vor dem Dilemma, daß, wenn sie die Familieninteressen berücksichtigt, sie das Geld bei 80 Prozent Nicht-Familien besorgen muß. Wenn wir in der Sozialversicherung für Gerechtigkeit sorgen, müssen wir den Familien ihre Existenzminima beitragsfrei stellen. Das würde aber eine entsprechende Erhöhung der Beiträge von denen fordern, die aktuell keine Kinder zu versorgen haben - also auch von den Eltern erwachsener Kinder. Und das ist die erdrückende Mehrheit. Davor schreckt die Politik zurück. Die einzige Institution, die die Macht - und die Pflicht! - hat, diese grundlegenden gesellschaftlichen Fragen zu entscheiden, ist das Bundesverfassungsgericht.
Wie sähe eine vernünftige Lösung aus?
Ganz einfach: Was in Gestalt der Freistellung der Existenzminima bei der Einkommens- und Lohnsteuer billig ist, muß bei der Sozialversicherung recht sein! Diese Reform ist überfällig. Das wäre das einzig Vernünftige. Erst recht, wenn man in Rechnung stellt, dass die heutige. Kindergeneration Dreh- und Angelpunkt unserer zukünftigen sozialen Sicherung ist. Nur wenn wir dafür sorgen, daß diese Kindergeneration ausreichend groß ist und ausreichend beruflich qualifiziert ist, können wir mit einer gesicherten Zukunft rechnen. Aber von dieser Einsicht entfernen wir uns immer weiter.
Wie können sich Familien eigentlich besser Gehör verschaffen?
Spannende Frage. Leider haben wir in den Medien, die die Meinungen in Deutschland beeinflussen, einen zunehmenden Anteil an Personen, die mit Familie nichts am Hut haben. Es ist doch ein Unding, wenn wir beobachten, dass die Gender- Mainstreaming-Bewegung es geschafft hat, dass jedes Gesetz mit Blick auf das Gender-Mainstreaming überprüft werden muß, bevor der Bundestag darüber abstimmt, wir aber keine Familienverträglichkeitsprüfung haben. Wir brauchen eine Familienverträglichkeitsprüfung in der Gesetzgebung, die analysiert, wie sich ein Gesetz unterm Strich eigentlich auswirkt. Das würde verhindern, daß wir Gesetze bekommen, bei denen sich die Politik auf die Fahnen schreibt, wie gut sie zu den Familien ist, aber verschweigt, daß im Hintergrund Verteilungsprozesse der Gegenfinanzierung laufen, indem andere familienpolitische Leistungen zurückgefahren und familienfeindliche Abgaben erhöht werden.
Was können Familien konkret tun?
Die Familien müssen sich erstmal klarmachen, daß sie nicht beschenkt, sondern in großem Umfang regelrecht bestohlen werden. Sie müssen sich auf die Hinterbeine stellen und dürfen sich das nicht gefallen lassen. Immerhin haben wir ja fast 3000 Familien, die den Rechtsweg beschritten haben im Elternaufstand, den ja der Familienbund der Katholiken in Freiburg und der Deutsche Familienverband gemeinsam unterstützen. Das, wofür sie kämpfen, ist nicht nur die zentrale Frage sozialer Gerechtigkeit, sondern es geht auch um die wichtigste wirtschaftliche Grundlage unserer Gesellschaft, um unsere Kinder, das „Humanvermögen"! Ich habe keinen Zweifel daran, daß das Bundesverfassungsgericht hier eine fundamentale Reform verlangen wird - und zwar vermutlich schon 2019.
(aus: „Familienbunt“, Zeitschrift des Familienbundes Augsburg) |