ICH BIN ALLEIN
von
Leon Bloy
Ich bin allein. Ich habe freilich eine Frau und zwei Töchter, die mich
lieben und die ich liebe. Ich habe Patensöhne und Patentöchter, die der
Heilige Geist auserwählt zu haben scheint. Ich habe zuverlässige und
bewährte Freunde in größerer Zahl als sonst die Menschen haben. Aber
trotzdem bin ich allein in meiner Art. Ich bin allein im Vorzimmer
Gottes. Wenn ich an die Reihe komme, vor dem Richter zu erscheinen, wo
werden dann jene sein, die ich geliebt habe und die mich geliebt haben?
Ich weiß wohl, daß ein paar Menschen, die zu beten verstehen, für mich
von ganzem Herzen beten werden, aber wie fern werden sie dann sein, und
welche erschreckende Einsamkeit vor meinem Richter! Je mehr man sich
Gott nähert, um so mehr ist man allein. Es ist die letzte Einsamkeit.
In diesem Augenblick dann werden alle die heiligen Worte, die ich so
oft in meiner dunklen Höhle gelesen habe, mir offenbar sein, und das
Gebot, Vater, Mutter, Kinder, Brüder, Schwestern und sogar seine eigene
Seele zu hassen, wenn man zu Jesus kommen will, wird auf mir lasten wie
ein glühender Granitberg.
Wo werden sie sein, die schlichten Kirchen mit ihren vertrauten Mauern,
in denen ich manches Mal für die Lebenden und für die Verstorbenen
voller Liebe gebetet habe? Wo werden sie sein, die kostbaren Tränen,
die meine Armesünderhoffnung waren, wenn ich es nicht mehr aushalten
konnte vor Lieben und Leiden? Und was wird aus meinen armen Büchern
geworden sein, in denen ich die Ge-schichte der barmherzigen
Dreifaltigkeit auszuspüren suchte? Auf wen, auf was mich dann stützen?
Werden die Gebete der so sehr geliebten Menschen, die ich der Kirche zu
geführt habe, die Zeit oder die Kraft haben anzukommen? Nichts gibt mir
Sicherheit, ob nicht sogar der Engel, der zu meinem Schutz bestellt
ward, selber vor Mitleid zittern und schlottern wird wie ein dürftig
bekleideter Armer, den man an einem eiskalten Tag vor der Tür vergessen
hat. Ich werde unsagbar allein sein, und ich weiß im voraus, daß mir
nicht einmal eine Sekunde Zeit bleibt, um mich in den Abgrund des
Lichtes oder in den Abgrund der Finsternis zu stürzen.
Ich muß dich anklagen! wird mein Gewissen sprechen, und meine
zärtlichsten Freunde werden in unendlicher Ferne ihre Ohnmacht
bekennen. Verteidige dich, so gut du kannst, du armer
Unglücklicher! Zwar verdanken wir dir, nach Gott, das Leben
unserer Seelen, werden sie schluchzend spre-chen, und das läßt uns
hoffen, daß mit deiner Seele in Sanftheit verfahren wird. Aber siehe...
zwischen uns und dir ist die große Kluft des Todes. Du bist für uns
unvorstellbar geworden und hast Teil an der unvorstellbaren Einsamkeit.
Wir können nur unsere Herzen auspressen, indem wir für dich beten. Wenn
du auch nicht mit aller Unbedingtheit ein Jünger gewesen bist, nicht
alles verkauft und alles verlassen hast, wissen wir doch, daß du dort
bist, wo tausend Jahre wie ein Tag sind, und daß ein einziger Blick aus
den Augen deines Richters die Schnelligkeit des Blitzes haben kann oder
die unsagbare Dauer aller Jahrhunderte. Denn wir erahnen nichts, als
daß du unbegreiflich allein bist und daß, selbst wenn einer von uns bis
zu dir gehen könnte, es ihm nicht gelingen würde, dich
wiederzuerkennen. Auch das ist uns nicht möglich zu verstehen. Leb wohl
denn in Gott bis zu der wahrlich unbekannten Stunde des allgemeinen
Weltgerichtes, das ein anderes, noch undurchdringlicheres Geheimnis
ist.
"Adjuro te per Deum vivum" ("Ich beschwöre Dich beim lebendigen Gott")
Matth. 26, 63, sagte der Hohepriester, um Jesus zum Sprechen zu
zwingen. Diese ungeheuerliche Aufforderung, über welche sich die
Gestirne verdunkelten, gilt noch immer, und sie wird der letzte
Aufschrei der Menschheit sein, wenn sie sich allein sieht am Ende aller
Zeiten in dem jedem Begreifen unzugänglichen Tal von Josaphat.
(aus "Méditations d'un Solitaire en 1916", zitiert nach: "Leon Bloy - Der beständig Zeuge Gottes" hrsg. von
Raissa Maritain, Salzburg 1955, S. 373 ff.)
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Sonderdrucke der Redaktion EINSICHT
Die modifizierte Neuauflage der DECLARATIO
S.E. Erzbischofs Ngô-dinh-Thuc vom März 1982, in welche wir auch einige
neue bzw. später erschienene Urkunden aufgenommen haben, kann bei der
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