Grenze und Maß Gerd-Klaus Kaltenbrunner – ein europäischer Prophet Zum 80. Geburtstag am 23. 2. 19
von Magdalena S. Gmehling
Wenn man die Gegenwart verstehen will, reicht es nicht aus, die Vergangenheit zu kennen, man muss auch ein wenig nach vorne schauen können, um die Impulse der Zeit zu erkennen. Oder, wie es Gerd-Klaus Kaltenbrunner, der 1939 in Wien zur Welt kam und ebendort Philosophie, Rechts- und Staatswissenschaften studierte, selbst treffend ausgedrückt hat: „Seine eigene Geschichte gewinnt nur, wer der Vorangegangenen gedenkt und ihre Gedanken erinnernd mit- und fortdenkt. (...) Man muss gelegentlich ausschweifend neugierig erkunden, um zu erkennen: Hier stehe ich, hier ist Europa.“ (Vom Geist Europas II, S.14)
Dass ihm Europa besonders am Herzen lag, hatte verschiedene Gründe. Inspiriert durch eine frühe Begegnung mit dem Gründer der Paneuropa-Bewegung, Richard Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi, wusste Kaltenbrunner um die besondere Bedeutung, welche gerade die europäische Kultur für die vitale Fortentwicklung von Nationen und Gesellschaften besitzt. Dieses Wissen spiegelt sich in den beiden Europa-Trilogien Kaltenbrunners, "Europa. Seine geistigen Quellen in Portraits aus zwei Jahrtausenden" (1981-1985) und "Vom Geist Europas" (1987-1992), wider. Diese bezeugen eindrucksvoll, was für ein Geistesaristokrat par excellence Kaltenbrunner war, auch wenn er für viele Zeitgenossen allzu schnell auf die Größe eines lediglich politisch denkenden Menschen reduziert wurde, man ihn als konservativen Widerstandkämpfer gegen das linksideologische Milieu der 68er Bewegung brandmarkte.
Doch Kaltenbrunner war mehr, wusste mehr und sah mehr. So schrieb er in der von ihm im Herder Verlag herausgegebenen Schriftenreihe "Initiative", mit der er zwischen 1974 und 1988 in insgesamt 75 Bänden das geistige Leben der alten Bundesrepublik entscheidend anregte, hellsichtig: „Europa ist mehr als ein großer Markt. Europa ist mehr als ein historisches Museum. Und es ist auch nicht unaufhebbar dazu verurteilt, ein Friedhof zu werden. Aber es wird auch seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und seine wissenschaftliche, technische und künstlerische Kreativität verlieren, wenn es die nur noch kurzfristige Chance verpasst, durch Zusammenschluss eine Weltmacht zu werden - mit einer gemeinsamen Armee, einer gemeinsamen Außenpolitik und weltweiten Aufgaben, insbesondere in Zusammenarbeit mit China und den Staaten Afrikas, die uns allein dauernde Sicherheit gewähren können.“ (INITIATIVE 56, S. 22) Die Vision eines ungeteilten Europas - Gerd-Klaus Kaltenbrunner hat sein Leben lang an ihr festgehalten. Auch in den 1990er Jahren, als er sich immer mehr von der Öffentlichkeit zurückzog, um sich stärker den Themen des christlichen Glaubens zu widmen und zu öffnen, was sich in seinen letzten Publikationen niederschlug: Anna Katharina Emmerick und Clemens Brentano, "Die Seherin von Dülmen und ihr Dichter-Chronist" (1992), "Johannes ist sein Name" (1993) und "Dionysius vom Areopag" (1996).
Echter Werte-Konservatismus blieb für den im Schwarzwald eremitenhaft lebenden Schriftsteller ein schöpferisches Prinzip, das auf reflektierte und sinnstiftende Traditionszusammenhänge zielte. So war Kaltenbrunner mit Jakob Burckhardt der Ansicht, dass ein Sichaussprechen aller Kräfte genuin europäisch sei und ein unverbrauchter Reichtum an Intelligenz, Energie und Schöpfertum europäischen Geist beseelen würden. Ein vereintes Europa, welches sich außenpolitisch mit einer Stimme Gehör verschafft, schwebte Kaltenbrunner vor. Er wies in diesem Zusammenhang immer wieder auf einen verkehrten Status quo hin, dass Europa westlich ein Bestandteil der amerikanischen, östlich ein Bestandteil der sowjetrussischen Imperialpolitik sei, nicht aber als selbständige weltpolitisch potente Größe existiere.
Hochgradig gegenwartsbedeutsam ist ein früher Text Kaltenbrunners, in welchem es um internationale Konflikte geht. „Der Krieg hat neue Gestalten angenommen. Er wird mit neuen Mitteln und Methoden geführt, und er hat zum Teil auch neue Träger. Drohung, Erpressung, ideologisch-moralische Zersetzung, Terrorismus und Subversion bestimmen die Szene. An Stelle der einen Supermacht führen kleinere Verbündete konventionelle Kriege, oder der Krieg geht über in den Bürgerkrieg, in den revolutionären Scharmützel-und Partisanenkrieg, der nicht mehr von Staaten geführt wird, sondern von weltweit kooperierenden Bewegungen ...“. (INITIATIVE 13, S.16) Mit dem ihm eigenen Spürsinn, gelang es dem Homme de lettres immer wieder hinsichtlich seines Standpunktes in überraschender Weise auch bei fast vergessenen Geistesgrößen fündig und bestätigt zu werden. So zitiert er warnend den katholischen Kulturjournalisten und Widerstandskämpfer Theodor Haecker. „Ohne den christlichen Glauben ist Europa nur ein Sandkorn im Wirbelwind der Meinungen, Ideen und Religionen, es wird morgen auf den Knieen liegen vor den Russen, übermorgen vor den Japanern, in drei Tagen vor den Chinesen, in vieren vor den Indern, (...): Es wird morgen das Matriarchat haben und übermorgen die Pornokratien, seine Literatur wird nur mehr kennen und sagen die ungeistigen Dinge, nämlich die gnostischen, die unterseelischen, nämlich die psycho-analytischen, die unterleiblichen, nämlich eben diese in Unzucht und Perversion“ (Zitiert nach M.S. Gmehling: Leitstern am geistigen Firmament. S. 80).
Die Notwendigkeit eines neuen Geschichtsverständnisses, das den Fortbestand der Gattung Mensch gewährleisten soll, war dem Zeitdiagnostiker Kaltenbrunner ebenso bewusst. 1976 prognostiziert er – damals bereits die heutige humanitäre Katastrophe im globalen Zeitalter andeutend - unter dem Aspekt einer kosmosfreundlich zu definierenden Ethik: "Wo 1950 zwei Menschen wohnten, werden es 1990 vier sein und um 2020 acht - in Mitteleuropa wohl weniger, doch in Indien, Ceylon, Südostasien und Lateinamerika vielleicht sogar sechzehn bis zwanzig. (...) Eine über das Wachstum der Nahrungsmittelproduktion hinausgehende Bevölkerungsexplosion ist für weite Bereiche der Erde kein widerlegtes Theorem, sondern grauenhafte Wirklichkeit. Bereits heute lebt über ein Drittel der Menschheit in ständigem Hunger. – Mit diesen Entwicklungen geht einher der immer noch zunehmende Raubbau an den Mineral-und Energieträgervorkommen unseres Planeten...“. (INITIATIVE 10, S.8)
Der Autor belegt dann, dass es nicht um ein Herumpfuschen in Detailfragen gehe, um einen oft fatalistisch betriebenen Umweltschutz, sondern darum, dass es dem Menschen verwehrt werden müsse, Kausalketten in Gang zu setzen, die in Selbstzerfleischung enden würden. Er verweist dabei auf den amerikanischen Schriftsteller, Umweltschützer und Staatsmann George Perkins Marsh (1801-1882), der vor über hundert Jahren hellsichtig vom Zeitalter menschlicher Kriminalität und Kurzsichtigkeit, von allgemeinem Elend, Barbarei und dem Erlöschen der menschlichen Rasse gesprochen hat. Mit eiserner Disziplin hat Kaltenbrunner persönlich in seinem verschwiegenen Haus im Ölmättle in Kandern jenes bescheidene zurückgezogene und naturnahe Leben geführt, welches ihm gewissermaßen als Sandkorn im größenwahnsinnig arbeitenden Getriebe der globalen Ökokatastrophe erschien. In seinem Werk „Wege der Weltbewahrung“ schreibt er: „Jegliche Illusion über die Zukunft des Menschen führt ins Desaster. Das bedeutet, dass der Konservative eine beträchtliche Reihe eigener Traditionen und Tugenden neu bewerten muss (...) das heißt: neue Formen von Anstrengung, Kampf, Heroismus und Askese, die vereinbar sind mit der Berufung des Menschen, die Schöpfung zu bewahren.“ (Wege der Weltbewahrung S. 11)
Die neue kosmosfreundliche Ethik welche dem zivilisationskritischen Warner Kaltenbrunner vorschwebte, war eine die Biosphäre einbeziehende „Ethik der Grenze“. Jenseits aller „Machbarkeit“ sollte diese auf einer Rückbindung (re-ligio) an geschichtliche Erfahrungen, an eine weltbewahrende Schöpfungstheologie und vorchristliche Weisheiten beruhen. Eine solche Ethik der Grenze und des Maßes forderte aus seiner Sicht Verzicht und das Ablegen des anthropozentrischen Hochmutes der Neuzeit. Und: Man sage nicht, Kaltenbrunner hätte keine praktikablen Vorschläge geliefert. In seinem immer noch hochaktuellen Bändchen „Elite. Erziehung für den Ernstfall“ diskutiert er das elitäre Prinzip der „Eukratie“ (guten Regierung) nach Vorschlägen des Ökonomen und Staatsphilosophen Friedrich August von Hayek (1899-1992) und des baltischen Rechtsphilosophen Ilmar Tammelo (1917-1982). Es solle demnach eine senatsähnliche Körperschaft gebildet werden, welche kompetent die öffentliche Meinung fern aller Sonderinteressen vertritt. Männer und Frauen ab 45 Jahren, die weder irgendwelchen schwankenden Moden noch dem Massengeschmack huldigen und auch nicht auf ihre Wiederwahl spekulieren, seien dort vertreten. Reife, im normalen Erwerbsleben erfahrene Menschen, werden für eine Periode von fünfzehn Jahren gewählt. Es würde sich also um ein elitäres Kontroll-und Beratungsform handeln, um eine Art nationaler Geistesaristokratie mit bewährter demokratischer Gesinnung. Kaltenbrunner zollte diesen Vorstellungen zumindest respektvolle Anerkennung. Stets war er der Meinung, dass eine numerisch unbedeutende Minderheit in der Lage sein müsse, die Massen aufzurütteln. Er selbst schreibt: „Im Ernstfall kommt es nicht so sehr darauf an, ob Demokratien hinreichend demokratisch sind, sondern ob sie auf fähige, kompetente und mitreißende Minoritäten zurückgreifen können.“ (Elite. Erziehung für den Ernstfall. S. 71)
Den Uomo universale im kleinstädtischen Kandern beseelte dazu der Wunsch, dem Konservatismus jene metaphysische Tiefendimension zu verleihen, die allein den kulturellen Niedergang aufzuhalten vermöchte. Als katholisch geprägter Österreicher und früher Mitstreiter seines Kaisers, Otto von Habsburg, wies er immer wieder auf den unendlichen Zusammenhang der Welt hin und darauf, dass die condition humaine sowohl prophetisch wie auch konservativ sei. „ ... überall gibt sich der Mensch, sofern er sich nur eines Funkens geistiger Gesundheit erfreut, prophetischen oder analogen Tätigkeiten hin. Indem er ahnt, vermutet, träumt, hofft, sich sehnt, vorausschaut, wettet, plant und warnt, niemals hat er es nur mit erforschten Tatsachen zu tun, sondern auch allemal mit einer noch offenen Zukunft, die ebenso Ort seiner Freiheit wie seiner Unsicherheit ist. ... Wo immer der Mensch steht, wo immer er denkt, ...ständig empfängt er Eingebungen, Erleuchtungen, Weissagungen, Offenbarungen... Der Mensch...hat einen Sinn für das Prophetische weil er in jedem Neugeborenen ein ‚Anfänger‘ ist, weil wir alle Tag für Tag neu beginnen müssen.“ (INITIATIVE 50, S. 21 f.)
Im Herbst 1995 schrieb Kaltenbrunner mir einen langen Brief. Er endete mit den Worten: „Welch ein Glück katholisch zu sein.“ Die Universalität und der geistige Reichtum des überlieferten Glaubens waren ihm Verpflichtung. Er betonte aber immer, dass es metaphysische Wahrheiten und mystische Lebenshaltungen gäbe, die nicht jedermann zugänglich seien. Scharf wandte er sich gegen einen „demütigen Utilitarismus“, nämlich eine Verleugnung der eigenen Gaben und Talente zugunsten einer betulichen Nächstenliebe, gegen einen, in Banalitäten und Geschwätzigkeit ausufernden geistlichen Materialismus. Zutiefst war er auch von der grundsätzlichen Asymmetrie zwischen Göttlichem und Menschlichem überzeugt. Gott als Mysterium - darin ließ er bei aller feinsinnigen Ästhetik nicht rütteln. Ahnungslose Dialoglust und dünkelhafte Ehrfurchtslosigkeit bereiteten dem Schriftsteller fast körperliche Qual. So heißt es in einem späteren Brief aus dem Jahr 1997: „Der Mensch versucht immer in den Verfall zu entwischen, zu entschlüpfen, auszuweichen. Dekadenz ist gemütlicher, bequemer, menschlicher – aber auch und vor allem: Feigheit, Verrat, Konformismus, Entspannung ... Auch die Christenheit trachtet geradezu hektisch immer tiefer in die Dekadenz zu entwischen.“ Die letzten beiden monumentalen Werke Kaltenbrunners sind religiöse, historische und legendarische Ideengeschichten. Wer sie aufmerksam liest, wird auf den Weg der Um- und Neuorientierung verwiesen. Ewige Lebendigkeit, Bewegung, Gestaltung und Wandlung, ja der symphonische Zusammenklang im Raum des Heiligen, all dies erachtete Kaltenbrunner als allein zukunftsträchtig. „Ein höheres Leben bedarf eines höheren Wissens. Aber auch das höhere Leben vernichtet nicht das niedrigere. Vielmehr erhebt es sich auf dessen geläuterter und lichtreicher Gestaltung.“ (Dionysius vom Areopag. Der Unergründliche die Engel und das Eine. Die graue Edition 1996 S. 197)
Am 12. April 2011 starb Gerd-Klaus Kaltenbrunner in Lörrach bei Basel.
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