Über das Papsttum der Römischen Bischöfe, die Eigenart des Apostolischen Stuhles und eine Kirche ohne Papst
von
Prof. Dr. Diether Wendland
II. Fortsetzung
3. Kapitel: Die große Wende von Cäsarea Philippi und die Rangstreitigkeiten
der Apostel
Die Antworten "der Leute" aus dem Volke auf die oben gestellte erste
Frage waren allesamt grundfalsch und verwirrend zugleich; das waren
nicht bloß "falsche Vermutungen" oder nur harmlose "religiöse
Glaubensirrtümer", wie manche Exegeten und Theologen zu interpretieren
belieben, weil sie eine einzigartige Situation nicht erfassen, die sich
heilsgeschichtlich nie mehr wiederholen wird. Außerdem sah der "Prophet
aus Nazareth" in Galiläa (!) überhaupt nicht wie einer von den
vermeintlichen Personen aus und verhielt sich auch ganz anders. Ja, es
fragte sogar einmal der ehemalige Johannesjünger Nathanael aus Kana in
Galiläa: "Kann denn aus Nazareth (überhaupt) etwas Gutes kommen?" (Joh
1,46). - "Die Leute" wußten eben nicht, "wer Er ist und woher Er
gekommen war". Dafür sorgten schon die Hierarchen und Synedristen in
Jerusalem und ihre Anhänger mit ihren Geifereien und Verleumdungen!
Daran aber wird sich auch künftig nichts ändern; im Gegenteil, es wir
noch schlimmer werden, so daß Christus bald ermahnend und tröstend
zugleich, die Aussage machen wird: "Fürchte dich nicht, du kleine Herde
1)! Denn es hat eurem Vater gefallen, euch das Reich zu geben." (Lk
12,32)
Die Antwort des Apostels Simon-Petrus 2) auf die zweite Frage ist
sicherlich richtig, aber es läßt sich doch sehr bezweifeln, daß er die
nachfolgenden aussagen Christi auch wirklich verstanden hat. Denn dafür
gibt es kein einziges Indiz. Im Gegenteil! Er wird kurz darauf seine
momentane Stellung als Sprecher und Erster einer erwählten Gruppe
mißbrauchen und so sich selbst disqualifizieren, ohne daß ihm dies
bewußt wird. Er begriff auch nicht, warum Christus allen Aposteln und
somit ihm ebenfalls verboten hatte, irgendjemand zu sagen, "daß Er der
Messias sei " (Mt 16,20); denn dies hätte doch nur zu weiteren
Verwirrungen geführt durch Aufrühren alter Irrtümer unter den Juden.
Außerdem hatten auch die Apostel selbst immer noch eine irrige
Auffassung vom verheißenen Messias, wie sich aus dem nachfolgenden
Geschehnis ergibt, als Petrus in seiner Anmaßung Christus "zur Seite
nahm und ihm Vorhalte zu machen begann" (V. 22) wegen Seiner nun
beginnenden (oft-maligen) Aufklärung über den 'wahren Messias' des
Leidens und Erlösungsleidens! In dem beschwörenden Protest des
Simon-Petrus kam weder übergroße Liebe (wie manche behaupten) noch
'Kleingläubigkeit' zum Ausdruck, sondern blanker Unglaube! Und nur so
begreift man die sofortige scharfe Zurechtweisung Christi: "Zurück von
mir, Satan (=Widersacher)! Du bist mit ein Ärgernis, denn du denkst
nicht das, was Gottes, sondern was der Menschen ist." (V. 23), d.h. was
nur im Interesse von Menschen liegt, nämlich die Erringung von
politischer Macht und großem gesellschaftlichen Einfluß. Das muß für
den Apostel Petrus eine äußerst peinliche Situation gewesen sein, die
gewiß auch die anderen mitbekommen haben werden.
Alle Apostel waren schockiert von der Ankündigung Christi: Er werde
jetzt ohne große Umwege "nach Jerusalem hinaufgehen, (wo er) von den
Ältesten, den Hohenpriestern und Schriftgelehrten vieles leiden und
(durch einen Justizmord) getötet werden müsse, am dritten Tage aber
auferstehen werde." (V. 21) Die Apostel hatten es wohl auch nicht so
recht geglaubt, daß man in Jerusalem auf eine Tötung des Nazareners,
dieses "Volksverführers", sann; die Frage war nur, wie dies am besten
gemacht werden könnte, weil ihnen Christus immer 'entgangen' war. Nach
der ersten Leidensankündigung dachte kein Apostel mehr an Christi
Erklärung des Bekenntnisses Petri und an die drei Verheißungen für
diesen Apostel, der sich zum 'Widersacher' aufgeschwungen hatte.
Bereits in Cäsarea Philippi und dann auf dem Rückweg nach Kapharnaum
wurde offenkundig, daß Simon-Petrus immer noch völlig ungeeignet war
(trotz seines Bekenntnisses), "Träger des Primats" zu sein (er blieb
auch weiterhin nur ein 'primus inter pares'), und daß es selbst für
Apostel unvorstellbar gewesen ist, daß aus ihrem verehrten 'Herrn und
Meister' ein zu Tode geschundener Messias werden würde - obwohl die
Weissagungen des Isaias und anderer Propheten doch nicht gänzlich
unbekannt gewesen sein konnten. Zudem kann man auch nicht von einer
'imponierenden' oder gar 'wunderbaren' "Einheit der Zwölf" reden, da
die Apostel nach der ersten und unmißverständlichen Leidensankündigung
unter sich gespalten waren (wie schon vorher die Jünger nach der Großen
Epourania-Rede in Kapharnaum, die sogar zu einem Teil-Abfall führte,
nicht bloß zu einer Spaltung). Deshalb rief Christus schon auf dem
Rückweg als der wahre Messias "das Volk samt seinen Jüngern (und
Aposteln) zu sich und sprach zu ihnen: 'Wer mir nachfolgen will, der
verleugne sich selbst, nehme (zuerst) sein Kreuz auf sich und folge mir
(dann) nach. - Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren,
wer aber um meinetwillen und um des Evangeliums willen sein Leben
verliert, der wird es erhalten.'" Und "wer sich meiner und meiner Worte
schämt vor diesem ehebrecherischen (= die 'Bundesehe' mit Gott
brechenden) und sündhaften Geschlecht, dessen wird sich der
Menschensohn schämen, wenn er in der Herrlichkeit seines Vaters kommen
wird mit den heiligen Engeln'." (Mk 8,34.35.38.) - Wer von den Aposteln
wird diese Rede verstanden und beherzigt haben? Der Judas Iskariot
gewiß nicht!
Vor allem die Apostel gerieten durch die Leidensankündigung Christi in
Furcht, ja vielleicht sogar in Angst und Schrecken bei dem Gedanken,
daß Er bald nicht mehr unter ihnen weilen werde. Damit aber stellte
sich zwangsläufig die bange Frage: wie soll es dann weiter gehen mit
uns, den Aposteln, und mit dem Rest der Jünger und überhaupt mit der
ganzen "Kleinen Herde", wenn der "gute Hirte" fehlt?! Hier kommt ein
schwerwiegendes Problem zum Vorschein und das nur Christus, der HERR,
lösen konnte, nicht jedoch eine Gesellschaftsgruppe christgläubiger
Menschen, die sich aus einer 'religiösen Bewegung' in Galiläa, Peräa
und Judäa gebildet hatte. Doch zuerst tat Christus wieder einmal etwas,
das keiner von "den Zwölf" vermutet hat. Denn Er wählte aus ihnen drei
aus, die bei Seiner Verklärung anwesend sein sollten, damit sie
Hoffnung schöpfen und sich Ihm noch enger anschließen könnten, nämlich:
Simon-Petrus und die beiden Zebedäussöhne, Johannes und Jakobus.
Christus tat nichts ohne Grund und ohne einen bestimmten Zweck. Das
hatten die Apostel ständig erlebt, so daß sie sich sehr wunderten. Die
Verklärung jedoch hat dem leicht zu beeindruk-kenden und
kurzschlüssigen Petrus fast den Verstand geraubt. Denn "er wußte nicht,
was er (da) redete", als er zu Christus die unsinnige Bemerkung machte
und Ihm vorschlug: "Meister (! ), gut ist es, daß wir hier sind: wir
wollen drei Hütten bauen, dir eine, dem Moses eine und dem Elias eine!"
(Mk 9,6.5) Dies wirft ebenfalls ein Licht auf die vorausgegangene
Situation in Cäsarea Philippi.
Indessen begriffen alle drei Apostel nicht, warum ihnen Christus
befahl, über das Gesehene zu schweigen und was Er damit meine "bis der
Menschensohn von den Toten auferstanden sei", nicht jedoch zu schweigen
über das von Gott Gehörte: "Dieser ist mein geliebter Sohn, der
Auserwählte; auf ihn (allein) sollt ihr hören!" (Mk 9,9.7). "Auf ihn
hören" bedeutet, Ihm in allem zu gehorchen und zuzustimmen, was Er sagt
und anordnet. Als jedoch ein wenig später Christus erneut zu den
Aposteln sprach (sprechen mußte):"'Der Menschensohn wird in die Hände
der Menschen über-liefert werden, und sie werden ihn töten, aber am
dritten Tage wird er auferweckt werden'. Da wurden sie sehr betrübt"
(Mt 17,22.23); zudem "begriffen sie das Wort nicht, scheuten sich
jedoch, ihn zu fragen" (Mk 9,32). Das heißt, es fehlte ihnen an
Vertrauen, und anstatt dessen brach unter ihnen erstaunlicherweise
sogar ein Rangstreit aus, und zwar der erste. Da kann man doch nur
sagen : "arme Kleine Herde"! Christus litt unverkennbar (auch) an den
Aposteln, die Ihm mehr und mehr zu einer Last wurden! Es ist ziemlich
töricht, dies zu leugnen und "den Zwölf" einen Heiligenschein
aufzusetzen oder 'zu übersehen', wie sie wirklich waren.
Dieser Rangstreit konkretisierte sich in der Frage: "Wer (von uns
Aposteln mit Einschluß des Judas Iskariot) ist wohl der Größte (=
Ranghöchste) im Himmelreich?" (Mt 18,18) und worunter sie nach wie vor
ein 'himmlisches Reich in der Welt' verstanden, in dem sie Macht und
Herrschaft ausüben würden (mehr noch als die in Jerusalem). Noch
erhellender aber heißt es bei Markus 9,33-35: "Sie kamen nach
Kapharnaum und im Hause (des Simon Petrus) angelangt, fragte Er sie:
'Wovon habt ihr unterwegs gesprochen?' (Sicherlich nicht über die
Leidensnachfolge!) Sie aber schwiegen (wie ertappte Sünder), denn sie
hatten unterwegs darüber gestritten, wer (unter ihnen) der Größte sei."
Sie sprachen nicht darüber, wer nach dem Tode Christi der oberste Hirte
Seiner Herde sein soll oder sein könnte! Vielmehr steckt in ihrer Frage
alles, was zum "messiani-schen Reich" Christi "in dieser Welt" (welches
die Kirche ist) im Widerspruch steht, vor allem Machtgier,
Herrschsucht, Ehrsucht und eitles Ansehen. Denn die Antwort Christi
verfing bei ihnen überhaupt nicht, sie hatten im biblischen Sinne
"taube Ohren", so daß es zu einem zweiten Rangstreit kam, der noch
absurder war als der erste, und dies wiederum nach einer
Leidensankündigung (!), der dritten in der Nähe von Jericho, die sie
ebenfalls nicht verstanden (Lk 18,34), obwohl es sich um eine ziemlich
detaillierte Aussage handelte.
Damals schoben, was sogar lächerlich anmutet, die Zebedäussöhne,
Jakobus und Johannes, ihre Mutter Salome als Interventionsperson vor
mit der überheblichen Bitte an Christus (verständlich für eine naive
Mutter, aber verwerflich für erwählte Apostel!): "Gewähre uns, daß wir
in deiner Herrlichkeit (= in deinem Reiche) einer zu deiner Rechten und
einer zu deiner Linken sitzen!" (Mk 10, 37). Wer von uns die beiden
höchsten Machtpositionen rechts oder links neben dir einnehmen solle,
das mögest du dann selbst bestimmen! Als jedoch "die Zehn" dies hörten,
"fingen sie an, über Jako-bus und Johannes (gelinde ausgedrückt)
unwillig zu werden" (V. 41), weil diese beiden sich solche Positionen
anmaßten. Indes fruchtete bei "den Zwölf" die Antwort Christi, die man
aber auch (wie sooft) nicht mißverstehen darf, ebenfalls nichts. Denn
es kam zu einem dritten Rangstreit (Lk 22,24-26), und diesmal zu allem
Übel sogar noch am Ende des Paschamahles (nicht: Abendmahles), als
Judas Iskariot noch anwesend war und bei dem Christus von seiner
"Erfüllung im Reiche Gottes" sprach (V. 16), die erst kommen wird. In
diesem Zusammenhang aber verbot Christus in seinem Reiche grundsätzlich
ein despotisches Herrschen "wie die Könige der (Heiden-) Völker" oder
auch wie die "Fürsten" (Gewalthaber) über von ihnen gedrückte und
unterdrückte 'Untertanen'. Denn diese autonomen Gewalttätigen verhalten
sich niemals wie (gottesfürchtig) "Dienende", auch wenn sie sich
"Wohltäter des Vaterlandes" oder "Vater des Vaterlandes" (pater
patriae) nennen. Ein solches Herrschen steht im radikalen Widerspruch
zum Machtvollzug der Vorgesetzten im messianischen Reiche des
göttlichen Menschensohnes. Warum konnten die Apostel dies alles nicht
verstehen - noch nicht ?! Was hinderte sie denn daran? Dabei war man
noch nicht einmal in der Situation, welche Christus mit den Worten
offenbarte: "Simon, Simon, siehe (= beachte, was ich jetzt sage), der
Satan hat sich ausbedungen, euch wie den Weizen zu sieben." (ebd. V.
31). Dieses 'Sieben' hat nie aufgehört ...
Immer wieder bricht sogar bei den Aposteln eine eingefleischte irrige
Auffassung vom Messias und seinem Reiche durch, dessen konkrete
gesellschaftliche Gestalt die Kirche (Ek-klesia) ist, die zwar schon
gegründet, aber noch nicht aufgebaut ist . ("Gründung" und "Aufbau"
eines religiösen Gesellschaftsgebildes sind nicht dasselbe, und Aufbau
setzt Gründung voraus, nicht etwa umgekehrt.) Auch Simon-Petrus, ein
echter Jude, der zudem noch sehr auf Lohn bedacht war (vgl. Lk 18,
28-30), ist von den obigen Übeln nicht frei gewesen. Und schon bevor es
zur Verhaftung Jesu Christi kam, gab es im Garten von Gethsemani drei
'große Schläfer', die - diesmal abgesondert von "den Elf" - auch nicht
mehr beteten und wachten, nämlich die schon bekannten Simon-Petrus,
Jakobus und Johannes. Nach der Gefangennahme Christi aber trat ein, was
zu befürchten war: "Da verließen ihn alle und flohen" aus Furcht (Mk
14,50), und "alle wurden an ihm irre" mehr oder weniger (vgl Mt 16,31).
Nur einer folgte Christus und der Kohorte "von ferne" (in größerem und
sicherem Abstand), nämlich Simon-Petrus (der die Verhaftung mit einem
ganz unmöglichen Mittel verhindern wollte) - aber nur "bis in den Hof
des Hohen-Priester-Palastes" (Mt 26,58), wo er seinen Herrn und Meister
dann dreimal verleugnete und dabei sogar geschworen hatte: "Ich kenne
den (diesen) Menschen nicht!" (Mt 26,72). Judas Iskariot, der Verräter,
aber suchte sich einen Strick und hängte sich auf.3) Der Apostel
Thomas, welcher "der Zwilling" genannt wurde und aus dem später 'der
Ungläubige' wurde, hatte schon früher resigniert, als er zu seinen
Mitaposteln sprach: "Laß auch uns (nach Jerusalem) gehen, damit wir mit
ihm sterben." (Joh 11,16). Thomas war ein Mensch, der zur Schwermut
neigte und zum Pessimismus, im Gegensatz zu dem sich überschätzenden
Optimisten Simon-Petrus. (cf. bereits die Situation in Mt 14,28-31)
War dies das Ende der 'Apostelherrlichkeit'? Äußerlich betrachtet und
in gewisser Hinsicht, ja! Denn nur ein einziger stand unter dem Kreuz
Jesu Christi auf Golgotha, sein 'Lieblingsjünger'. Schon die üblen
Rangstreitigkeiten und zudem noch nach Leidensankündigungen hatten es
offenkundig gemacht, daß nicht einmal die 12 "Erwählten" gegen das
Wirken Satans, "des Fürsten dieser Welt", gefeit waren, das sich immer
zuerst gegen den Wahren Glauben richtet, um ihn zu zerstören, und
insbesondere gegen Jesus Christus als "den Begründer und Vollender des
(göttlichen) Glaubens" (Hebr. 12,2), eines Glaubens, der zum Heil
notwendig ist. Von der "divina et vera fides" (dem göttlichen und
wahren Glauben) aber weiß man heutzutage fast gar nichts mehr. Die
"Kleine Herde" jedoch hatte plötzlich keinen Hirten mehr. Es ist recht
merkwürdig, daß alles dies so oft übersehen oder gar nicht richtig
gewertet wird. Der Herde Christi, die sich doch nicht in Luft aufgelöst
haben konnte, fehlte der "Hirte" und damit eine gesellschaftliche
Autorität, die weder eine staatliche noch eine familiäre4) ist, um das
lebende Ganze zusammenzuhalten, das sonst kraft einer zentrifugalen
Eigendynamik auseinanderstrebt.
Die "Kleine Herde" macht ab Karfreitag den Eindruck, als sei sie von
einer Totenstarre befallen. Indes wußten die Hierarchen und
Synedristen, wie sie durch ihr Verhalten und ihre Vorkehrungen
beweisen, ganz genau, daß die 'Kirche Jesu Christi' mit dem Tode ihres
Gründers nicht untergegangen war. Deshalb mußten auch weiterhin Lügen
ausgestreut werden, die man in der Hl. Schrift nachlesen kann. Außerdem
gab es sogar Ratsherren im Synedrium, die sich als heimliche "Anhänger
Christi" 'entpuppt' hatten, wie z.B. dieser Nikodemus, den Christus
über die Notwendigkeit seiner Taufe belehrt hatte, oder der reiche
Joseph von Arimathäa, der seine Grabkammer dem Leichnam Jesu zur
Verfügung gestellt hatte, so daß er nicht zerstört werden konnte. Es
gab aber auch Frauen, welche aus bestimmten Gründen die Grablegung
genau beobachteten; denn sie "besahen sich das Grab und die Art und
Weise, wie sein Leichnam beigesetzt wurde." (Lk 23,55) Dazu aber
gehörte viel Mut in dieser furchtbaren Situation, die zudem noch
gefährlich war. Dies kann man sich heutzutage kaum noch so richtig
vorstellen. Aber man sollte es wenigstens versuchen.
Hier stellt sich auch die unvermeidliche Frage: Was alles benötigt in
concreto eine zerstreute religiöse Gesellschaft, die aus Jüngern,
Aposteln und (ständigen) Anhängern Christi besteht, um sich wieder zu
sammeln, sich zu konsolidieren und zu einem geordneten Aufbau zu
gelangen, wenn ihr Gründer nicht mehr da ist und seine Leitung
ausfällt? Nun, doch wohl zuerst einmal eine sichtbare Autorität mit
großer Machtbefugnis. In diesem Zusammenhang aber ist es höchst
bedeutsam, daß damals niemand von der Herde Christi auf den Gedanken
verfiel, man könnte in einer solchen 'Notsituation' sich doch selbst
eine Autorität zum Wohle aller setzen, gleichgültig wie, um nicht
unterzugehen in dem Hexenkessel von Jerusalem und Judäa. Davor jedoch
schreckten alle wahrhaft Christgläubigen zurück, auch eingedenk jener
Worte Christi: Ich allein "bin der gute Hirt und ich kenne die Meinen
und die Meinen kennen mich, so wie mich der Vater kennt und ich den
Vater kenne." (Joh 10, 14. 15). Und "wer nicht mit mir sammelt (der
sammelt nicht nur nicht, sondern), der zerstreut." (Mt 12,13b). Den
Aposteln aber hatte der HERR noch ausdrücklich gesagt: "Ich bin der
Weinstock, ihr seid die Reben; wer in mir bleibt und ich in ihm, (nur)
der bringt viele Frucht (andernfalls nicht!); denn ohne mich könnt ihr
gar nichts tun (was irgendeinen Wert hat)." (Joh 15,5). Es ist aber
auch nicht anzunehmen, daß sich niemand mehr an die Worte Christi in
Galiläa erinnert haben könnte: "Der Menschensohn muß in die Hände der
Sünder (in Jerusalem) überliefert und gekreuzigt werden, am dritten
Tage aber wieder auferstehen." (Lk 24,7). Ein solches Wort spricht sich
herum und wird nicht so leicht vergessen.
Zudem hatte Christus in Cäsarea Philippi dem Apostel Simon-Petrus so
manches verheißen, das immer noch auf seine Erfüllung oder
Verwirklichung wartete. Denn alles, was der göttliche Menschensohn und
Messias verheißt, das tritt auch ein, angefangen mit seiner
Auferstehung von den Toten. Die echten Schafe der Herde des einzig
"guten Hirten", die Ihn wirklich kannten, wußten zumindest, daß bei
Gott kein Ding unmöglich ist (wie die von Christus von den Toten
Auferweckten und andere) und erwarteten Seine Auferstehung, weil Er
dies vorausgesagt hatte. Das Problem lag für diese nur in der
Wie-Frage, wie dies wohl geschehen werde, denn die Grabkammer war
verschlossen, versiegelt und von Soldaten bewacht. Auch gebildete
Leute, wie z.B. die Hierarchen in Jerusalem, wußten nichts vom
Seins-Zustand der Verklärung eines Menschen mit Leib und Seele, den
drei Apostel für eine kurze Zeit sogar einmal zu sehen bekamen. Hatten
sie dieses Ereignis vergessen oder in ihrer Verblüffung nicht richtig
verstanden? Und warum hat ihnen die Erinnerung an so etwas
Außergewöhnliches jetzt nicht geholfen?
Die den Aposteln von Christus prophezeite Verwirrung muß eine sehr
große gewesen sein. Dies alles kann man sich nicht durch Furcht vor den
Hierarchen und Synedristen oder vor dem jüdischen Pöbel erklären. Am
Karfreitag waren die Apostel als Apostel gleichsam 'erledigt' - einzige
Ausnahme Johannes, weil ihm Christus vom Kreuze herab Maria, Seine
Mutter, auf mystische und zugleich rechtserhebliche Weise zum Schutze
ihres Lebens anvertraut hatte. Maria, die "voll der Gnade" war, wußte
um die Auferstehung ihres Sohnes, was ihren Schmerz jedoch nicht
verringerte. Niemand, außer dem Gekreuzigten, konnte wissen, was sie
wirklich durchmachte. Und auch nur so wurde sie 'Miterlöserin', zumal
da sie auch die einzige 'Vorerlöste' gewesen war. Warum versucht man
nicht, durch die Hinweise der Hl. Schrift die damalige existentiale
Situation der Jünger und Apostel Christi möglichst realistisch zu
erfassen? Selbst der göttliche Messias hatte sie darüber nicht im
Unklaren gelassen. Oder haben sie Ihm etwa nicht geglaubt? Von einem
Judas Iskariot und den von Ihm abgefallenen Jüngern aus Judäa kann man
das sicherlich annehmen.
Was war das nur für eine seltsame Verheißung, die Jesus Christus, der
HERR, auf Simon-Petrus bezogen hatte und die der nämliche Apostel zu
diesem Zeitpunkt gar nicht verstanden hat (denn er fragte nicht einmal
nach ihrer Bedeutung)?: "Und ich werde dir die Schlüssel des
Himmelreiches (genauer: des Reiches der Himmel) geben. Was du binden
wirst auf Erden, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf
Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein." (Mt 16,19).
Diese Verheißung haben auch die anderen Apostel gehört und werden
ebenfalls gehört haben, als was kurz darauf Simon, der 'Fels'5), von
Christus bezeichnet wurde, um seine Anmaßung sofort zurückzuweisen. Am
Karfreitag und Karsamstag wird niemand mehr an das Ereignis von Cäsarea
Philippi gedacht haben, verständlicherweise! Anderseits müssen
Verheißungen Christi doch in Erfüllung gehen und gegebenenfalls bald
nicht erst in ferner Zukunft! Es ist auch nicht bekannt, wo sich "die
Elf" und einige Jünger nach dem Tode Christi aufgehalten haben, vor
allem jene, die noch Hoffnung auf die Auferstehung hatten.
Die Juden hatten noch nie etwas von "Schlüsseln des Himmelreiches"
gehört, geschweige denn etwas von übertragbaren. Außerdem darf man die
hier gemeinten "Schlüssel" nicht verwechseln mit "dem Schlüssel des
Davidhauses" (Is 21,22), da nur Christus "den Schlüssel Davids hat, der
öffnet und niemand schließt zu, der zuschließt, und niemand öffnet"
(Offb 3,7), nämlich den Zugang zum Reiche Gottes. Warum aber bezog sich
Christus hier allein auf Petrus und was die anderen Apostel doch
sicherlich nicht wenig verärgert hat? Denn bald darauf kam es ja zum
ersten Rangstreit, wodurch sich die Apostel doch als ziemlich 'traurige
Jüngergestalten' entpuppten. Man kann die Geduld Christi mit seinen
Aposteln wirklich nur bewundern. Diese begriffen auch die spätere
Prophetie nicht: "Viele Erste aber werden Letzte sein und viele Letzten
Erste" (Mk 10,31), nämlich im Reiche Christi jetzt und in der
'zukünftigen Welt'. Eine Verheißung Christi zieht immer ihre Erfüllung
oder Realisierung nach sich; nur der Zeitpunkt ist und bleibt
diesbezüglich ungewiß. Dies gilt auch für den Bau oder Aufbau Seiner
Ecclesia, der sich allein durch Ihn ermöglicht und von Ihm abhängt
(nicht etwa von den 'Gläubigen' oder irgendeiner
'Glaubensgemeinschaft'). Die Kirche Jesu-Christi ist nicht von dieser
Welt, auch wenn sie in ihr existiert und sogar in gewisser Hinsicht von
ihr lebt (aber wiederum nicht aus ihr oder durch sie!). Immer wird auch
die Frage Christi von Cäsarea Philippi im Raum stehen:"Für wen halten
die Leute den Menschensohn?"! Simon-Petrus hatte Ihn verleugnet, Judas
Iskariot verraten und die übrigen waren mehr als irritiert. Letzteres
kann man auch für den Rest der Jünger annehmen, nicht bloß für die zwei
"Emmaus-Jünger" (Lk 24,13 f.), wahrscheinlich zwei hoffnungslos
gewordene Judäer.
Anmerkungen:
1) Christi Wort von der "Kleinen Herde" ist ein
symbolischer Terminus, ein bildhafter Ausdruck, der sich nicht auf die
Quantität einer Ansammlung von Menschen bezieht, sondern auf die
Qualität und Struktur oder Gliederung eines besonderen
Gesellschafts-Gebildes. Dieses besteht aus christgläubigen Jüngern,
Aposteln und (ständigen) Anhängern, und wobei noch zu beachten wäre:
alle Apostel sind Jünger, aber nicht alle Jünger sind Apostel; die
Anhänger wiederum sind weder Jünger noch Apostel. Alle zusammen von
dieser 'Herde' (congregatio) aber sind gläubige Glieder eines solchen
Gesellschafts-Ganzen, die bedingungslos an Jesus-Christus glauben, d.h.
sie erhoffen und erwarten sich nur von Ihm das ewige Heil und glauben
deshalb auch nur Ihm und Seinem, die Erlösung bringenden,
Wahrheits-Wort, da er selbst "die Wahrheit ist".
2) Diese Antwort gab der Apostel nur für sich selbst, nicht jedoch auch
für die anderen, was aus der Erklärung Christi folgt, nämlich daß
Petrus dies weder aus sich selbst noch durch eigene Erkenntnisfähigkeit
weiß und wissen kann, sondern nur aufgrund einer ihm gegebenen
(Privat-)Offenbarung von seiten Gottes, des Vaters Jesu Christi. Und
auch nur deswegen ist der Apostel "Simon, Sohn des Jona (Bar/Jona),
selig" (Mt 16,17), nicht jedoch aus eigenem geistigen Vermögen, oder
weil ihn dies ein anderer Mensch gelehrt hat.
Wie oft wird die Erklärung Christi überhaupt nicht verstanden oder
einfach verschwiegen, weil sie nicht verstanden wird oder erhellt
werden kann?! Es ist auch ein Irrtum, wenn großspurig behauptet wird,
daß mit dem "'Petrusbekenntnis'" die "Jüngerunterweisung (!) ein erstes
Ziel erreicht" hätte. Das erste Ziel der Jünger- und
Apostelunterweisung ist die Vermittlung der Erkenntnis vom leidenden
Messias, welcher Nachfolge fordert. Solche falschen und
vernunftwidrigen Interpretationen haben immer nur Verwirrungen
gestiftet und aus Simon-Petrus ein Phantom gemacht. Christus wählt
(paradoxerweise) oft den Schwachen, um den Starken zu beschämen. Denn
nur der Hochmütige besitzt keine Scham.
3) Eine Verleugnung kann unter bestimmten Bedingungen noch vergeben
werden; ein Verrat jedoch niemals. Deshalb verlor Simon-Petrus nicht
die 'Verheißung des Primates' von Cäsarea Philippi, obwohl er als
'primus inter pares' jämmerlich gescheitert war.
4) Eine 'religiöse' "Famlie Jesu", von der manche Theologen und naive
Gläubige phantasierten, hat es nie gegeben. Das war ein abwegiger und
unrealistischer Gedanke.
5) Katholiken sollten den Wert dieses besonderen Beinamens nicht
übertreiben und das Wort vom 'Felsenmann' vermeiden. Denn es handelt
sich in dieser Sache nicht nur um eine Auszeichnung, sondern auch um
einen 'Prüfstein' für seinen Träger. Alle Apostel (ja sogar diese)
waren bekanntlich "Kleingläubige" (mehr oder weniger), so daß immer die
Gefahr bestand, als Einzelpersonen zu einem 'Ungläubigen' zu werden.
Warum wurde und wird dies von gewissen Leuten immer verschwiegen.
Apostel mußten nicht bloß 'erwählt', sondern besonders belehrt und
erzogen werden. Simon-Petrus, der sich bei der Gefangennahme Christi so
unbesonnen gebärdet hatte, war nicht einmal bei dessen Grablegung
dabei, sonst würde der Evangelist Markus, der Apostelschüler Petri,
sicherlich nicht bloß die zwei Frauen erwähnt haben, die "zusahen, wo
er (der Leichnam) hingelegt wurde" (Mk 15,47).
(Fortsetzung folgt)
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