Kleine Heiligenlegende aus der Diaspora
aus: "Auf Gottes Waage - Christen in Glaubensnot und Zerstreuung" Paderborn 1956, S. 222-226
In das kirchliche Verzeichnis der Heiligen sind sie allerdings noch nicht aufgenommen, meine kleinen Heiligen aus der Diaspora, und werden es wahrscheinlich auch nie. Aber das wesentliche Merkmal der Heiligkeit, den heroischen, das heißt den heldenmütigen Grad der Tugendübung haben sie trotzdem, und das ist ja schließlich die Hauptsache. Und wenn sie auch noch mit manchen menschlichen Unvollkommenheiten behaftet sind - eins darf man nicht vergessen: in der Diaspora zählt jede Tugend doppelt. Wer in dieser Umgebung von Gleichgültigkeit und Glaubensfeindlichkeit etwas Gutes tut, der hat doppelt soviel Widerstand überwunden wie der gute Mensch in katholischer Gegend, wo man nur so mit dem Strom zu schwimmen braucht, um in den Himmel zu kommen.
Da tauchen sie auf aus der Vergangenheit, längst schon vergessen, die Kinder, die Männer und Frauen, denen der Priester für einige Zeit Führer auf dem Weg zu Gott sein durfte. Als einer der ersten stellt sich vor, frisch und ein wenig keck, wie er es auch im Leben war, der kleine Johann.
Das war ein drahtiger Bursche von elf oder zwölf Jahren mit blondem Schopf und blauen Augen, der keiner Prügelei aus dem Wege ging und immer herumlief, als suche er jemanden zum Verhauen. Er hat uns - weiß der Himmel! - Schwierigkeiten im Unterricht genug gemacht. Eine katholische Schule hatten wir nicht. Die Kinder kamen am Mittwoch- und Samstagnachmittag freiwillig Zur "Pasterstunde". Aber da die Lehrer evangelisch, die Eltern zum Teil gleichgültig1e oder ausgesprochen ungläubig waren, so konnte von einem regelmäßigen Besuch des Religionsunterrichtes keine Rede sein. So kam auch unser kleiner "Heiliger" manchmal, und manchmal kam er nicht. Sein Vater war ein rechtlich denkender Mann, aber unreligiös bis auf die Knochen. Fabrikarbeiter ziemlich radikaler Gesinnung. Die Mutter ging aus, zu waschen und zu plätten; sie war katholisch; aber in der Kirche sah man sie fast nie. Mit unserm Johann war es nicht viel besser. Im Unterricht saß er meist, die Hände in den Hosentaschen, die Lippen verächtlich geschürzt. Wenn ihm irgend etwas nicht einleuchtete, dann nahm er nicht den geringsten Anstand, seine Zweifel laut in die Klasse hineinzurufen. - Schöne Ordnung das! wird da vielleicht mancher sagen, Ja, leicht gesagt! Man soll mir das einmal vormachen, Ordnung zu halten unter Kindern, denen gegenüber man nicht ein einziges Machtmittel hat. Die Lehrer und die Eltern stehen meist nicht auf Seiten des katholischen Geistlichen. Mit Strenge ist gar nichts zu erreichen. Die Kinder kommen freiwillig. Als einmal einer von den größten Lausbuben, nachdem er mit Tintenfässern geworfen hatte, eine Ohrfeige bekommen hat, stand er auf, sagte mit Nachdruck: "Ich koom nich wedder!", verschwand und ward nicht mehr gesehen ... Einmal war im Unterricht die Rede von einem Wunder gewesen. Alle hörten andächtig zu. Nur unser Johann machte ein unnachahmlich zweifelndes Gesicht, und plötzlich rief er laut in die Stille hinein:
"Dat glöw ich nich!" - Nun war sein Maß allerdings voll. Er sollte ausgeschlossen werden. Keine Stunde wollte ich ihn noch unter den guten Schäflein dulden. Wie es kam, daß er trotzdem noch blieb, ist mir nicht mehr erinnerlich. Jedenfalls hing alles an einem Haar - aber er kam weiter zum Unterricht, regelmäßig und unausstehlich wie zuvor.
Dann kam der Erstkommunionunterricht, und nun ging mit unserm kleinen Heiligen eine merkwürdige Veränderung vor sich. Er wurde stiller und interessierter. Er fing an, Fragen zu stellen nach dem, was Sünde sei und was nicht, immer noch in jener poltrigen Tonart, die sonst das Kennzeichen offener Widersetzlichkeit ist, aber mit unverkennbarem Ernst. Er saß nun nicht mehr die Hände in den Taschen. Er kam regelmäßig, pünktlich, nicht ohne ein paar andere Jungen über den Haufen gestoßen zu haben, aber doch schon etwas manierlicher. Und im Unterricht war er von nun an der Aufmerksamste von allen. Er ließ kein Auge mehr von mir. Ich spürte die Blicke des unbeweglich Sitzenden, wo immer ich stand, und ich ertappte mich manchmal dabei, wie ich nur für diesen redete und warb. Langsam wurden die Augen freundlicher, aufgeschlossener und klarer, und eines Tages spürte ich, daß der Kontakt gefunden, die Verbindung von Seele zu Seele hergestellt war ...
Man kann sich das oft nicht erklären. Es war eigentlich nichts geschehen, kein gewaltiges und erschütterndes Ereignis, kein Blitz und Donnerwetter; kein Engel war vom Himmel gekommen. Aber nachdem menschliche Erziehungskunst am Ende war, trat eine andere Großmacht auf den Plan, die natürliche Hilfsmittel nicht braucht - die Gnade. Vom Tage der ersten heiligen Beichte an war Johann unser eifrigster Apostel. Er missionierte zunächst innerhalb seiner Familie, und da war auch genug zu tun. Bald sah man seine Mutter wieder in der Kirche. Gott mag wissen, wie er es fertigbrachte. Nach einigen Wochen kam die Großmutter, die seit Jahrzehnten keine Kirche mehr von innen gesehen hatte, und bat sich ein Gebetbuch aus. Bei Onkeln und Tanten missionierte er. Und wenn man in der Folgezeit manchmal den einen oder anderen bei der heiligen Messe sah, dann wußte man, wer dahinter steckte. Natürlich hat er nicht alles erreicht, was er erreichen wollte. Aber das eine hat er gewiß getan: eine Familie, die drauf und dran war, dem Glauben verloren zu gehen, noch soeben vor dem Abgrund zurückgerissen.
Einmal - es war am Tage vor Fronleichnam - kam er ins Pfarrhaus. Ich sehe ihn noch an der Tür stehen mit einem brummigen Gesicht, die Mütze wie ein Rad zwischen den Fingern drehend. Sein Vater wollte nicht, daß er morgen zur Kirche ginge, brachte er schließlich stockend heraus. Und auch der Mutter habe er verboten, zur Messe zu gehen oder ihn in eine Messe gehen zu lassen. Natürlich würde er hingehen. Er würde zwar Prügel bekommen, aber das wäre nicht so schlimm. Deswegen kam er auch nicht, aber es wäre mal so. Wenn er hinginge, dann müßte seine Mutter es büßen, die wahrscheinlich von ihrem Manne geschlagen werden würde ... Und nun wüßte er nicht, ob er verpflichtet sei, zur Kirche zu gehen oder nicht ... Allmählich scheint der Vater anderen Sinnes geworden zu sein. Später hat er Mutter und Sohn anstandslos an jedem Sonntag zur Kirche gehen lassen.
In der Schule stand er ebenfalls seinen Mann. Er hatte jahrelang einen Lehrer, der sich ein Vergnügen daraus machte, die katholische Religion lächerlich zu machen, einen ehemaligen evangelischen Theologen, der anscheinend mit seinem Glauben auch die Hochachtung vor der Überzeugung anderer verloren hatte. Zwischen den beiden wurde mancher Strauß ausgefochten, denn unser Johann schwieg nicht still, wenn die alten Ladenhüter vom Ablaßverkauf und von der Anbetung Mariens aufs Tapet kamen. - Bei seinen Schulkameraden hat er es verstanden, den katholischen Glauben, der bis dahin als "Polakkenglaube" verschrien war, zu Ansehen und Achtung zu bringen. Disputieren über Glaubenssachen tut er gern. Ich habe ihn in Verdacht, daß er wenigstens in der ersten Zeit auch manchmal die Fäuste hinzuzog, wenn seine Beweisgründe nicht ausreichten, um den Gegner zu überzeugen. Später hat er es bestimmt nicht mehr getan. Ja, er kam sogar auf das Gymnasium. Dort war er immer einer der ersten. Beim Turnen und Spielen war er unumstritten der Führer, aber auch in der literarischen Schülervereinigung errang er sich den ersten Preis. Mit seinen Lehrern stand er, von dem erwähnten "Katholikenfresser" abgesehen, auf dem besten Fuße. Daß sie sämtlich andersgläubig, zum Teil sogar ungläubig waren, hinderte sie und ihn nicht, mit Ernst und Eifer und mit aufrichtiger Hochachtung vor der Überzeugung des Nebenmenschen zusammenzuarbeiten.
Ob er seinem Glauben treu geblieben ist? - Das will ich meinen! In ein paar Jahren wird er nämlich - seine erste heilige Messe feiern. Mit Hilfe guter Menschen, mit Stundengeben und Stipendien schlägt er sich schon seit ein paar Semestern recht und schlecht auf der Universität durch, und wenn er diesen Artikel zu lesen bekommt - was der Himmel verhüten möge! - dann wird es mir sicherlich eines Tages noch schlecht ergehen. Aber - es ist doch gut, daß ich ihn damals nicht hinausgeworfen habe ... |