Wahn, Verbrechen und Heiligkeit Eine historische Betrachtung über das Ende des Zarenreiches vor 100 Jahren
von Magdalena S. Gmehling
Das Jahr 2017 wirft seine Schatten voraus. Schlaglichtartig soll auf Weltgeschichtliches verwiesen werden: 500 Jahre protestantische Glaubensspaltung, 300 Jahre Freimaurerei, 100 Jahre Marienerscheinungen in Fatima, 100 Jahre russische Revolution.
Vergegenwärtigen wir uns die russischen Verhältnisse um 1900. Ein allgemeiner Verfall des Volkswohlstandes setzte bereits 1891-92 ein. Missernte und Hungersnot brachten selbst wohlhabende Bauern an den Rand des Ruins. Es fehlte gänzlich an Vorräten. In den Fabriken waren die Arbeiter von den Unternehmern abhängig. Die Selbstverwaltungseinheiten (Semstwos) und die Intelligenz begnügten sich nicht mit abstraktem Mitleid und materieller Hilfe, sondern sie versuchten auch, die Regierung von der Notwendigkeit einer allgemeinen Änderung der Verwaltungsordnung zu überzeugen. Zar Nikolaus II., der am 1. November 1894 die Regierung übernahm, verstand die Stimme des Volkes nicht. Er hielt an einer autokratischen Politik fest und sah sich als konservativer Vertreter des Gottgnadentums. Am 26. November 1894 heiratete er–trotz familiären Widerstandes- die schöne Alix von Hessen, die vierte Tochter des Großherzogs Ludwigs IV. .Kennengelernt hatte sich das Paar 1884 auf der Hochzeit der älteren Schwester Elisabeth mit dem Großfürsten Sergej Alexandrowitsch Romanow, einem Bruder Zar Alexanders III. . Beide Schwestern waren streng lutherisch erzogen worden, Elisabeth nach dem frühen Tode ihrer Mutter von der Großmutter, der englischen Königin Victoria. Beide traten schließlich zur Orthodoxie über. Die junge Kaiserin, die nunmehr Alexandra Feodorowna hieß, war, wie auch ihre Schwester Jelisaweta Feodorowna, tief religiös.
Obwohl der neue Monarch friedliebende Erklärungen abgegeben hatte, überschatteten Kriege, militärische Niederlagen und der Verlust staatlichen Territoriums seine Regierungszeit. Innenpolitisch verweigerte er dringend benötigte Reformen und betrieb eine harte Russifizierungspolitik. Kompromisslos unterdrückte er die Selbstverwaltungsbestrebungen der nationalen Minderheiten (Finnen, Balten) Dem ehemaligen Königreich Polen verwehrte er die Autonomie. Der Russisch-Japanische Krieg verursachte einen enormen Autoritätsverlust und am 22. Januar 1905 wurde der friedliche Protest streikender hungernder Arbeiter vor dem Winterpalast blutig niedergeschlagen (Petersburger Blutsonntag). Revolutionäre Erhebungen folgten und nur mühsam konnte Nikolaus von der Notwendigkeit der Einführung bürgerlicher Freiheiten, einem allgemeinen Wahlrecht und der Schaffung einer Volksvertretung (Duma) überzeugt werden. Auch der Premier-und Innenminister des Zaren, Pjotor Stolypin, bekämpfte alle revolutionären Strömungen hart. Politische Morde häuften sich.
Bis zum Jahre 1905 trat die Zarin Alexandra Feodorowna öffentlich wenig in Erscheinung, ja sie wollte damals die Gegensätze gemildert sehen. „Man war ihr in der Hofgesellschaft und in der kaiserlichen Familie niemals besonders wohlgesinnt gewesen ... Alexandra Feodorowna ... war befangen, hochmütig schweigsam und zurückhaltend. Neben der außerordentlich liebenswürdigen, geschickt an die Öffentlichkeit tretenden Zarin Mutter machte Alexandra trotz ihrer edlen Schönheit eine unglückliche Figur.“ (Hans von Eckart: „Russland“. Bibliographisches Institut Leipzig, 1930). Die eigentliche Tragödie begann mit der Geburt des langersehnten Zarewitsch Alexei (1904). Seine Mutter hatte ihm das Erbübel des Hauses Hessen übertragen. Der bildschöne Knabe war Bluter. In der berechtigten Sorge um sein Leben zog sich das Zarenpaar in die Hauptsommerressidenz nach Zarskoje-Selo zurück, isolierte sich völlig und zeigte sich nur in den allernotwendigsten Fällen. Alexandra glitt in mystisch sektiererische Religiosität ab und geriet immer mehr unter den Einfluss der religiös überspannten Hofdame Anna Wyrubowa.
„Wenn die religiöse Übersteigerung und Verwirrung, die sich der Zarin in ihrer Einsamkeit bemächtigten auch mancherlei Intrigen und dunkle Machenschaften zu Folge hatten, so hätten diese, den Russen nicht ungewohnten Dinge, doch keine besondere Bedeutung erlangt, wenn sich die Kaiserin der Politik ...ferngehalten hätte. Das war jetzt nicht mehr der Fall. ...Der Fehler lag nicht in ihrem Wollen, wohl auch nicht in der Leidenschaft ihres Temperaments, sondern in der tragischen Unkenntnis der Verhältnisse. ... Dabei rächte sich die verhängnisvolle Isolierung der Kaiserin; wenn es schon für den Zaren nicht leicht war, sich über wichtige Fragen objektiv orientieren zu lassen, so war es für Alexandra schlechterdings unmöglich, zu erfahren was vorging. So wurde sie ein Opfer derjenigen Personen, die sich an sie drängten und ihr falsche Informationen zutrugen.“ (Hans von Eckart ebd.)
Eben jetzt tritt ein dubioser Prophet, Wunderheiler, wandernder Mönch und Scharlatan in das Leben der Kaiserin. Grigorij Rasputin, der „Heilige Teufel“ wie ihn seine eigene Tochter Marja nennt. Bis heute ranken sich wilde Gerüchte um seine Person. Tatsache ist, dass der sibirische Bauer mindestens zeitweise zweien der alten eleutherianischen Sekten angehörte, den Chlysten, einer Flagellantensekte, deren Mitglieder sich mit Peitschen und Ketten schlugen und den Stranniki (Wanderern). Letztere waren Leute, die plötzlich aus heiterem Himmel ihre Ausweispapiere verbrannten, Haus und Hof verließen, alle Kontakte abbrachen und an ferne Orte zogen. Rasputin verfügte über hypnotische Kräfte. Fernheilungen gelangen ihm. Auch beherrschte er schamanische Praktiken. 1907 erleidet der Zarewitsch bei einem Sturz ein Ödem. Bei Hämophilen kann der kleinste Stoß zu nicht enden wollenden Blutungen führen, da sich das Blut in den Gelenken und Geweben staut und unerträgliche Schmerzen verursacht. Die Ärzte sind machtlos. Man ruft Rasputin. Er bringt die Blutung durch Hypnose zum Stillstand. Dies ist der Beginn einer verhängnisvollen Einflussnahme, des seiner Ausschweifungen wegen verhassten Mönches. Die Zarin, welche die Bluterkrankheit des Sohnes unbedingt geheim halten wollte, verehrt Rasputin wie einen Heiligen. Noch mehrfach, selbst aus der Ferne, heilt er den Zarewitsch. Fortan wird er in allen persönlichen und politischen Fragen gehört.
Klarer, nüchterner, klüger und frömmer als Alexandra erweist sich ihre Schwester Jelisaweta. Die Großfürstin hat sich längst intensiv mit der sozialen Frage beschäftigt und widmet sich tatkräftig karitativen Tätigkeiten. Sie hat eine furchtbare Prüfung bestanden. Am 17. 2. 1905, zur Zeit der politischen Morde, explodiert unweit der Wohnung des großfürstlichen Paares eine Bombe. Diese tötet Sergej Alexandrowitsch Romanow. Sein Körper wird buchstäblich zerfetzt. Im Schnee kniend sammelt seine Gattin Jelisaweta eigenhändig die blutigen Überreste. Ja sie bringt die Größe auf, den Attentäter Iwan Kaljajew, vor dessen Hinrichtung aufzusuchen, um ihn zur Reue zu bewegen.
Als Alleinerbin ihres Gatten war die Großfürstin nun eine der reichsten Frauen Russlands. Sie nimmt den Ruf an, der innerlich an sie ergeht, verkauft ihren Besitz und ihren Schmuck. Mit dem Erlös gründet sie ein völlig neues und zukunftsweisendes Kloster, den Maria-Martha Konvent. Wie der Name bereits andeutet, wird eine Verbindung von meditativem Element und aktivem Engagement angestrebt.
Die politischen Verhältnisse spitzen sich inzwischen dramatisch zu. Während eine Annäherung Russlands an das Deutsche Reich scheitert, kommt es zu einer Verständigung mit Frankreich und Großbritannien (Triple-Entente). Nach den tödlichen Schüssen auf den österreichischen Thronerben Franz Ferdinand in Sarajewo am 28.Juni 1914, stellt sich Russland offen auf die Seite Serbiens. Am 29. Juli 1914 ergeht der Befehl des Zaren zur Generalmobilmachung. Das Ultimatum des Deutschen Reiches verstreicht ungenutzt. Deutschland erklärt Russland den Krieg.
Die Einmischung der Zarin in die Regierung und Staatsverwaltung machten „die Deutsche“ zunehmend verhasst. Als die Duldung der Ränke und der Intrigen Rasputins bekannt werden, kocht die Volksseele über. Man beschuldigte Alexandra die Dynastie und das Reich gefährdet zu haben, ja man nannte sie eine Spionin Deutschlands. Die Situation verschlimmerte sich vor allem deswegen, weil Nikolaus II. wegen der schlechten militärischen Gesamtlage im September 1915 gegen den Rat der Minister, den Oberbefehl über die Streitkräfte übernahm und seiner Frau die Regierungsgeschäfte überlies.
Die Großfürstin und Priorin Jelisaweta Feodorowna, versuchte persönlich ihre Schwester dem dämonischen Einfluss Rasputins zu entziehen. Der Wandermönch traf inzwischen Entscheidungen in Regierungsfragen. Mitglieder des Synods buhlten um seine Gunst. Jelisaweta hatte mit den Reformplänen Stolypins sympathisiert. Der Premierminister wurde jedoch, wie es der unheimliche sibirische Bauer 7 Tage zuvor prophezeit hatte, am 14. September 1911 ermordet. Schließlich fuhr die Großfürstin nach Zarskoje-Selo. In einem dramatischen Gespräch zwischen den beiden Schwestern lehnte es die Kaiserin entschieden ab, sich von Rasputin zu trennen und zwang ihre Schwester zur Abreise.
Der Publizist und Schriftsteller Theodor Wolff urteilt kompetent über den Wanderprediger: „Er hatte nicht göttliche Eingebungen, verkündete nicht in Wunderträumen empfangene Botschaften, wie seine Freundin, die Zarin, meinte, aber aus seinen unhöfischen, im Befehlston des Bußpredigers vorgebrachten Worten sprach, wenn es sich um Krieg und Frieden handelte, der Instinkt des russischen Bauern, der genau weiß, dass bei jeder Schlägerei sein Buckel am meisten geprügelt wird. Rasputin war mit all seiner Renommisterei, seiner moralischen Versumpftheit, seinen trunkenen Orgien, seinem geldmacherischen Geschäftstrieb, seiner ordinären Erotik nicht nur, wie die Philippe, Badamjew und Konsorten, ein gewöhnlicher Betrüger und Scharlatan. Er war die phantastische, bizarre Verkörperung der ungeheuren russischen Vitalität, er brachte in die ängstlich vor dem Volk gehüteten, dem Volk verschlossenen Prunkgemächer die Naturlaute des Volkes, und nur weil er einen ungebändigten Glauben an sich selbst hatte, suggerierte er den Empfänglichen den Glauben an seine Segenskraft.“ (Theodor Wolff in „Krieg des Pontius Pilatus“ Zürich 1934)
In der Nacht des 16./17. Dezembers 1916 wurde Rasputin im Haus des Fürsten Jussupow von einem kleinen Kreis von Leuten ermordet, die keinen anderen Ausweg aus dieser, die ganze Dynastie bloßstellenden Lage, sahen. Es gab keine richtige gerichtliche Untersuchung. Man verbannte die Attentäter ins Ausland.
Die politische Lage besserte sich jedoch nicht. Katastrophal war die Versorgung der Fronttruppen und der Zivilbevölkerung. Russland glich einem Pulverfass. Der Umsturz kündigte sich an. Die Zeit von März bis Oktober 1917 ist gekennzeichnet von ununterbrochenen Wirren und Unruhen. Die Truppen solidarisierten sich mit den hungernden Arbeitern und Bauern. Immer mehr Regimenter verweigerten dem Zaren die Gefolgschaft. Nikolaus II. dankte am 15. März 1917 ab und verzichtete für sich und seinen Sohn Alexei auf sämtliche Herrschaftsansprüche. Schließlich wurde er mit der ganzen Familie unter Hausarrest gestellt.
Die provisorische Regierung Kerenski verfügte aus Sicherheitsgründen eine Verbringung der Zarenfamilie in den Ural. Man quartierte sie im Sitz des Gouverneurs in Tobolsk ein. Alle Exilpläne zerschlugen sich. Nach dem Sieg der Bolschewiki im Oktober 1917 änderte sich die Situation radikal. Ohne Widerstand war es mit den beiden Schlagworten „Land und Frieden“ der extremen Richtung des russischen Sozialismus gelungen, die Herrschaft in die Hand zu nehmen.
Zar Nikolaus und seine Familie gelten von nun an als Gefangene. Man verbrachte sie nach Jekatarinburg. Mit Billigung des Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare, Wladimir Iljitsch Lenin, sowie des damaligen Partei und Staatschefs, Swerdlow, wurde die Zarenfamilie am 17. Juli 1918 von den sie bewachenden bolschewistischen Soldaten erschossen.
Auch Jelisaweta Feodorowna verhafteten die Bolschewiken, ungeachtet ihres vorbildhaften sozialen Wirkens. Man sah in ihr eine Vertreterin der „Reaktion“, denn sie gehörte zur kaiserlichen Familie und sie war aktives Mitglied der Kirche. Im April 1918 erschien ein Kommando in gepanzerten Wagen. Die Priorin erteilte dem Konvent den Segen. Sie und ihre treue Mitschwester und Freundin Barabra (Warwára) wurden nach Alapajewsk gebracht und mit anderen Adeligen in ein Schulhaus eingesperrt. Als sich die gegenrevolutionären Truppen der „Weißen Armee“ unter Admiral Koltschak der Stadt näherten, befürchtete man dass die Mitglieder der Familie Romanow zu „lebenden Bannern“ würden. Am 18. Juli mussten die Gefangenen Lastwagen besteigen. Die Fahrt ging zu einem verlassenen Bergwerksschacht. Über den Wipfeln des Tannenwaldes erblickten die Todgeweihten das Licht der Abendsonne. Die Priorin sang den Hymnus der orthodoxen Kirche: „Sei gegrüßt du mildes Licht.“ Nacheinander wurden alle in den 30 m tiefen Schacht gestürzt, Die Soldaten warfen einige Handgranaten hinterher. Jelisawta hatte noch in deutscher Sprache um Vergebung für ihre Mörder gebetet. Bauern der Umgebung sagten später aus, man habe tagelang Gesänge aus der Grube gehört.
Die Russisch Orthodoxe Kirche verkündete im April 1992 die feierliche Kanonisation der „Großfürstin Jelisaweta, der Gründerin des Martha-Marien-Konvents in Moskau“. Die Gebeine der Heiligen ruhen heute auf dem Ölberg in Jerusalem. |