MAUER ODER TÜR
von
Dr.P.Severin M. Grill, SOCist.
Ein treffliches Bild für Abwehr oder Einlass des Irrtums begegnet uns
im biblischen und talmudischen Schriftum in dem Gegensatz Mauer und
Tür. Im Hohenlied 8, 8-10 fragen die Brüder der Braut, was sie ihrer
Schwester tun sollen, wenn um sie geworben wird. Wenn sie eine "Mauer"
ist, soll sie eine Silberkrone erhalten, wenn eine "Tür", wollen die
Brüder diese mit Balken verrammeln.
Nach der symbolischen Auslegung des Hohenliedes bedeutet das Bild: Die
Engel (= die Brüder) verfolgen mit Aufmerksamkeit die Geschichte der
Kirche (1 Kor 4,9), ob diese ihrer Bestimmung treu bleibt oder ob sie
Irrtum einläßt. Da sagt die Braut: "Ich bin eine Mauer und meine Brüste
sind wie Türme", d.h. ich schütze die anvertraute Wahrheit und bin
reichlich fähig, die Menschen zu nähren.
Im Midrasch wird diese Festigkeit ausgesagt von Abraham. Wieder fragen
die Engel, was mit Abraham geschehen soll, wenn ihm Nimrod mit dem
Feuertod droht. Da sagt Gott: "Wenn er standhaft ist wie eine Mauer,
wollen wir eine Burg über ihn bauen (= soll das auserwählte Volk von
ihm abstammen). Wenn er aber schwankend ist wie eine Tür, dann soll er
verschwinden wie eine Figur auf einem Zeichenbrett" 1) Abraham war in
seinem Glauben eine Mauer und keine Tür. In der Kirchengeschichte des
Eusebius II, 23 wird vom Martyrium des Jakobus berichtet, er sollte von
der Zinne des Tempels vor der Volksmenge predigen: "Jesus war keine
Mauer um das Gesetz, sondern eine Tür, denn er hat den Irrtum
eingelassen." Jakobus stieg hinauf und predigte: "Jesus war eine Mauer
um das Gesetz und ist dessen Erfüller und Vollender" Darauf stürzten
ihn die Juden vom Tempel herab und erschlugen ihn mit einem Knüttel.2)
Im Lichte der Wendung "Mauer und Tür" verstehen wir auch die dunkle
Stelle vom "Oblias", die in dem erwähnten Bericht erscheint. Jakobus
war ein "Oblias"' was im Griechischen "perioche tou laou" heißt. Oblias
kommt von dem aramäischen "abul" (= geschlossenes Stadttor, weiterhin:
gedeckte Säulenhalle, Schutzdach). Der abulaja ist der wachsame
Torhüter, bildlich für den aufmerksamen Thoralehrer, der einen Zaun um
das Gesetz errichtet, daß dieses nicht verloren geht (Den 8,3)3).
Auf unsere Krisenzeit angewendet, müssen wir uns fragen, ob alle
Priester und Bischöfe eine feste Mauer um das Evangelium oder eine
schwankende Tür sind. Man meint ja heute, den biblischen Berichten jede
geschichtliche Realität absprechen zu müssen. Man glaubt heute, alle
Kirchenväter und Scholastiker ignorieren und die Autorität des
Tridentinums verachten zu können.
Auf diese Leute passen die Worte des Psalm 72 (73): ... sie achten
alles für nichts, reden übel davon, schwätzen und lästern gar sehr. Was
sie sagen, soll wie eine Himmelsbotschaft gelten und, soll nunmehr
gelten auf Erden. Zuwendet sich ihnen das Volk und wie Wasser schlürft
es ein ihre Lehre... Wie werden sie plötzlich zugrunde gehen und ein
Ende nehmen mit Schrecken. Denn du setzest sie auf schlüpfrigen Pfad
und bringst sie zum gewaltigen Sturz. Wie Traumerwachende wirst du sie,
o Herr, in deiner (himmlischen) Stadt beschämen. - Sie werden erkennen,
daß sie das anvertraute Glaubensgut, das Depositum fidei (1Tim 6, 20)
hätten beschützen müssen, daß sie reichlisch in der Lage gewesen wären,
das Volk zu belehren ohne Preisgabe von Wahrheiten und daß sie stark
genug gewesen wären, dem Kriegswagen des Pharao (Hl 1,9) erfolgreich
entgegenzutreten (Eph 6, 13-17).
Theologieprofessor Dr.P.Severin M. Grill, SOCist.
Anmerkungen:
1) W. Bacher. Die Agada der palt. Amoräer, Straßburg 1899, S.387
2) Kirchengeschichte des Eusebius Pamphili, Übersetzt von Phil. Haeuser, München 1937 Seiten 93f
3) Die Lesung "scheliach", wie sie vorgeschlagen wurde, empfiehlt sich nicht. Biblica 1943, S. 398
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