"Gott in uns haben"
Wir nehmen Gott wahr in der Liebe
vom hl. Bernhard von Clairvaux (* um 1090, + 20.8.1153)
(aus: "Sermones sancti Bernardi abbati clarevallensis super Cantica canticorum", Straßburg bei Flach, 1497)
"Wenn nun die eine Seele in sich eine solche Kluft zwischen den Dingen wahrnimmt (der vollendeten Ähnlichkeit des Bildes und der Unebenbildlichkeit der Sünde), muß sie da nicht, zwischen Hoffnung und Verzweiflung gestellt, ausrufen:
Herr, wer ist dir gleich? Wegen des großen Übels (der Unebenbildlichkeit) wird sie zur Verzweiflung getrieben; aber zur Hoffnung wird sie zurückgerufen von dem so großen Gute (der Fortdauer des Bildes in ihr. Je mehr sie sich darum in dem Übel mißfällt, das sie in sich sieht, um so glühender strebt sie dem Guten zu, das sie gleichfalls in sich erblickt, und verlangt das zu werden, wozu sie geschaffen ward (nicht nur zum Bild, sondern auch zum Ebenbild): einfach (durch Ausschalten der Begierde) und aufrecht (durch Ausschluß der Furcht), gottesfürchtig (nicht die Strafe fürchtend) und vom Übel sich abwendend. Denn warum sollte sie sich nicht davon abwenden können, konnte sie sich ihm doch zuwenden! Warum sollte sie sich dem nicht zuwenden können, von dem sie sich abwenden konnte? Beides aber wagt sie, wohlgemerkt, auf Grund der Gnade, nicht der Natur, ja nicht einmal der Anstrengung. Denn die Weisheit besiegt das Übel (Sap. 7, 30), nicht eigene Anstrengung oder die Natur. Auch fehlt es nicht an Anlaß zum Wagen: Geht doch ihre Bekehrung zum Worte hin (das Wort aber ist die Weisheit).
Es bleibt aber die adelige Verwandtschaft der Seele - worüber wir schon drei Tage lang sprechen - (Verwandtschaft besteht, weil das Wort die Imago, das Bild ist, die Seele aber nach dem Bilde geschaffen ist) und der Zeuge für die Verwandtschaft, die fortdauernde Ähnlichkeit (das Bild), beim Worte nicht müßig. Huldvoll läßt der (durch das Wort eingeführte) Geist die ihm wesensähnliche (Seele) zu seiner Gemeinschaft zu. Denn schon von Natur aus strebt Gleiches zum Gleichen. Stimme des Suchenden: Kehre zurück, Sunamitis, kehre zurück, damit wir dich schauen (Cant. 6, 12). Die Ähnliche wird er anschauen, der die Unähnliche nicht sah; aber auch selbst wird er sich schauen lassen. Wir wissen, wenn er sich einst zeigen wird (in der seligen Schau), werden wir ihm gleich sein, da wir ihn schauen werden, wie er ist (I. Joh. 3, 2). Nur der Schwierigkeit also, nicht der Unmöglichkeit entstammt jene angstvolle Frage: Herr, wer ist Dir gleich (Ps. 34, 10)?
Wenn du aber lieber willst, so nenne es einen Ausruf des Erstaunens. Ja wahrlich, bewundernswert und erstaunlich ist jene Ebenbildlichkeit, deren Begleiterin die Gottesschau ist, ja, die sogar die Gottesschau selber ist, nämlich die Schau in der Liebe! Die Liebe ist diese Schau, ist diese Ebenbildlichkeit (sie stellt ja das Ebenbild wieder her, und dieses führt zur Schau). Wer erstaunte nicht ob solcher Liebe eines verschmähten und uns doch wieder anrufenden Gottes? Mit Recht wird darum jener erwähnte Böse gerügt, der Gottes Ebenbild sich anmaßt (indem er sich selbst Gesetz sein will, was doch das Vorrecht Gottes ist); denn da er das Unrecht liebt (seinen Eigen-Willen), kann er sich selbst nicht lieben (er ist ja nicht mehr Er-Selbst, seit er das Ebenbild verlor) und auch Gott nicht mehr lieben (da er sich Gott vorzieht). So mußt du nämlich das Wort verstehen: Wer Unrecht liebt, haßt seine Seele (Ps. 10, 6). Ist darum die Ungerechtigkeit, die Ursache der teilweisen Unebenbildlichkeit, einmal behoben, dann stellt sich die Einheit des Geistes ein (denn die Ebenbildlichkeit zweier Geister schafft die Einheit); dann erfüllt sich die gegenseitige Schau (da jeder den andern erkennen kann, indem er sich erkennt); dann herrscht gegenseitige Liebe (denn Gleiches liebt sein Gleichnis).
Wenn so das Vollkommene (die Liebe) einzieht, wird das Unvollkommene (die Unebenbildlichkeit) ausgeschaltet sein. Nur mehr wechselseitig keusche und vollendete Liebe wird da in uns herrschen, volles wechselseitiges Wiedererkennen, unverhüllte Schau, eine dauerhafte Verbindung, ungeteilte Gemeinschaft, ein vollkommenes Ebenbild. Dann wird die Seele erkennen, wie sie erkannt ist (I. Kor. 13, 10-12); dann wird sie lieben, wie sie geliebt ist; und es freut sich der Bräutigam über seine Braut, erkennend und erkannt, liebend und geliebt, Jesus Christus unser Herr, Gott, über alles gelobt in Ewigkeit. Amen" (In Cant. Cant. s. 82, 7 u. 8). „Den Kirchen fehlen ihre Gemeinden von Gläubigen; den Gläubigen fehlen Priester und den Priestern fehlt jegliche Ehre. Alles was bleibt, sind ein paar Christen ohne Christus.“ Bernhard von Clairvaux
Der hl. Bernhard ist neben Wilhelm von St. Thierry und Hugo von St. Viktor einer der großen Mystiker des Mittelalters. Sie haben sich in ihrer Theologie um die Bedeutung der Liebe im theologischen Erkenntnisprozeß besondere Verdienste erworben. Da diese Betrachtungen der Liebe und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung für unser Problem, nämlich nach den Wissensbedingungen von Christus als Gottes Sohn zu fragen, zur Klärung beitragen können, führe ich diese Betrachtungen hier an. Diese theologischen Untersuchungen sind auch entscheidend für die Ausprägung von Bernhards Mystik, die den Orden in seiner Spiritualität entscheidend mitgeprägt hat.
Einer, der sich um die Bedeutung dieser Mystik besonders verdient gemacht hat, ist Stefan Gilson ("Die Mystik des heiligen Bernhard von Clairvaux" Wittlich 1936 - in der Übersetzung von Philotheus Böhner O.F.M.). Er faßt Bernhards mystischen Ansatz folgendermaßen zusammen:
"Wollte man seine Lehre wahrhaft begreifen, wie sie wirklich ist, dann müßte man in einem einzigen, einfachen Blick das Werk eines Gottes erfassen können, der den Menschen schafft, um ihn durch die Seligkeit als sein Ebenbild sich zuzugesellen; der dem Menschen sein verlorenes Ebenbild zurückschenkt, um ihm seine verlorene Seligkeit wieder zu schenken, und, solange sein Werk noch nicht vollendet ist, zu einer ähnlichen Glückseligkeit aus Gnade jene Seelen erhebt, die das Geschenk der Liebe bereits seiner Natur - Deus charitas est - so eng angeglichen hat, daß sie schon hienieden von seinem seligen Leben kosten. Dann herrscht zwischen Gott und dem nach seinem Bild geschaffenen Geschöpf jene vollkommene Gleichgestaltung, diese Einheit des Geistes, in der die menschliche Substanz endlich ihre volle Lebensentfaltung findet; in ihr vollendet sich das große Werk der Schöpfung, denn sie wird das, wozu sie gemacht worden war: ein helleuchtender Spiegel, worin Gott nur noch sich schaut und die Seele nur mehr Gott schaut, eine geschaffene Teilnahme an seiner Herrlichkeit und seiner Seligkeit."
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Die Bedeutung der Kunst im religiösen Bereich
von Eberhard Heller
Es werden sich etliche Leser gefragt haben, warum ich in meiner Abhandlung "Die Irrtümer des II. Vatikanums und ihre Überwindung" unter Punkt 5 die "Darstellung der religiösen Inhalte und Ideen in den verschiedenen Sparten der Kunst" zu den Bedingungen gezählt habe, die zur Restitution der Kirche führen sollen, wo doch die aufgeführten Maßnahmen nur die wichtigsten sein sollten. Warum kann man der künstlerischen Darstellung des Religiösen solches Gewicht beimessen?
Dazu kann ich sagen, daß das Christentum von Beginn an versucht hat - neben der Verkündigung des Evangeliums - die Glaubensaussagen auch in künstlerischen Formen - d.i. in Bildern und Figuren, Musik, Dichtung, Architektur - darzustellen, ihnen Ausdruck zu verleihen.
Warum? Um Gott zu verherrlichen und um diese religiösen Ideen darzustellen, sie frei zu vermitteln im interpersonalen Bereich: die Kirchenbauten, ihre innere Ausstattung durch Bilder und Figuren und die Liturgie, die in ihnen gefeiert wurde, sie waren in die Intention einer freien künstlerischen Gestaltung eingebunden. Selbst in den Zeiten der Verfolgung, im Untergrund spielte die Kunst eine wichtige Rolle, man denke nur an die Katakomben-Malerei oder an die alten Kirchenbauten in Saloniki oder an das Kloster Hosios Lukas in Böotien in Griechenland aus dem 11. Jahrhundert mit den wunderschönen Mosaiken.
Die Liturgie bediente sich der Musik als eigenständiger Kunstform. Zunächst geschah das über die menschliche Stimme, um Gottes Lob zu verkünden; man spricht auch vom himmlischen Gesang, der bereits früh ausgestaltet wurde. Ich denke da an die Gregorianik, an die "heiligen und göttlichen Liturgien" des hl. Basilius (+ 379) und des hl. Johannes Chrysostomos (+ 407), die nicht nur der Orthodoxie, sondern auch der katholischen Kirche angehören, auch wenn sie heute in der Ostkirche gefeiert werden. Die Musik übte z.B. auf die Indianer in Paraguay eine solche Faszination aus, daß sie das Christentum deswegen annahmen, weil sie in der Musik Gott sprechen hörten. Die Liturgie war für die Russen unter der kommunistischen Herrschaft die Quelle des Glaubens, wodurch die Religion bei ihnen überlebt hat, denn Religionsunterricht - die vornehmste Art der Glaubensvermittlung - war verboten.
Ich mache einmal einen gewaltigen Sprung aus der Frühzeit der Kirche in unsere heutige Zeit. Was wäre die Adventszeit in Bayern ohne die schlichten Weisen, in denen die Ankunft des Jesus-Kindes besungen, mit denen ihm gehuldigt wird in aller Demut? (N.b. ich merke an, daß in diesen bayerischen Volksweisen die frühere Volksfrömmigkeit bewahrt bleibt - trotz und gerade wegen des massiven Einbruchs des Konziliarismus auch in den ländlichen Bereichen. In ihnen bleibt die Ehrfurcht vor dem zentralen Wunder der Menschwerdung Gottes bestehen, bleibt lebendig, auch wenn sich im übrigen der Glaube an die wirkliche Fleischwerdung Gottes verflüchtigt hat.
Die religiöse Kunst konnte sich nur in diesen Formen ausprägen, weil sie zur künstlerischen Ausgestaltung auf präzise religiöse Ideen und Konzepte zurückgreifen konnte. Man denke an die romanischen, gotischen oder byzantinischen Kirchenbauten, die nach einem bestimmten theologischen Konzept gebaut wurden: die Ostung des Altars, die Grundlegung des Kreuzes als Grundriß des Kirchenbaus, weil das Heil des Neuen Bundes vom Kreuz herabgestiegen war; die Vierung ward häufiger als Hinweis auf die Beschreibung des himmlischen Jerusalems gedeutet (in der Apokalypse des hl. Johannes durch die Aufhängung des 12-armigen Leuchters), die Hinwendung der Kirchenschiffe auf den Altar hin, die Stellung des Priesters versus Deum (im Tabernakel) und nicht versus populum (wie es die Reformer tun, für die der Priester auf Grund seiner Zuwendung zum Volk nicht mehr die Rolle des Vermittlers zwischen Gott und den Menschen übernimmt wie in vorkonziliarer Zeit. Um das zentrale Geschehen in der Messe, die Wandlung, gegenüber dem Kirchenvolk abzugrenzen, zur Wahrung des Mysteriums, benutzen die Orthodoxen heute noch die Ikonostase, während in der römischen Kirche der Lettner, der die gleiche Funktion hatte, im Mittelalter aufgegeben wurde, heute aber noch im Breisacher Stephansmünster oder in St. Maria im Kapitol in Rom zu sehen ist.
Die architektonische Gestaltung sah für die Aspiranten, die noch nicht getauft waren, aber zur Kirche übertreten wollten, einen eigenen Raum vor, den sog. Vortempel oder Vorhalle, den Pronaos. In gotischen Kirchen findet man häufig im Altarraum die bildhaften Darstellungen des Lebens Jesu und Mariä. Die Bildabfolgen, die einem bestimmten stereotypen Muster folgten, waren nicht nur Darstellungen im eigentlichen Sinne, sondern sie übernahmen auch katechetische Funktionen, denn Bücher als Handschriften gab es für die Glaubensunterrichtung (noch) nicht.. Die Maler, die diese Fresken ausgestalteten, wurden aus allen Teilen Europas herbeigerufen. So malte Simon von Taisten, Hofmaler der Görzer Grafen, nicht nur gegen Ende des 15. Jahrhunderts die eindrucksvollen Fresken in der Wallfahrtskirche Maria Schnee in Obermauern/Osttirol aus, sondern arbeitete als Kirchenmaler u.a. auch in Niederdorf, auf Schloß Bruck bei Lienz, wo er zwischen 1492-96 die Kapellen ausmalte, in Teisten. Bis etwa 1500 waren Paola von Görz-Gonzaga und deren Gemahl, der letzte Görzer Graf Leonhard von Görz, wichtige Auftraggeber für Simon von Taisten. (Man vgl. auch die Titelbilder für die EINSICHT, 15. Jahrgang Nr. 1 vom April 1985 und die Nr. 5 vom Dezember 1985)
Auch die Bauhütten zogen von einer Stadt zur anderen, um Aufträge für Kirchenbauten auszuführen. So gestaltete die Hütte von Parler, einer Familie von Steinmetzen, Bildhauern und Baumeistern, die die gotische Architektur in ganz Europa mitgestaltete und neben dem Kölner Dom auch für die Errichtung des Heilig-Kreuz-Münsters von Schwäbisch Gmünd, des Veitsdomsund der Karlsbrücke in Prag, für St. Sebaldus in Nürnberg, für den Dom der heiligen Barbara in Kuttenberg in Böhmen (Kutná Hora), das Rathaus in Krakau, die Münsterkirchen von Ulm, Freiburg und Basel verantwortlich war.
Es ist ein wenig in Vergessenheit geraten, daß neben den Baumeistern, den Malern, den Bildhauern und Stukkateuren auch diejenigen, die die theologischen Konzepte für eine Kirche entwarfen, in ihrer Zeit große Bedeutung erlangten und berühmt wurden. Viel-fach waren es die zuständigen Pfarrer, die mit ihren Baumeistern sich darum bemühten, die Ideen für die Gestaltung und die Durchführung eines Kirchenbaues im Detail festzulegen. Es galt, den Grundriß festzulegen, die Höhe der Schiffe, die Gestaltung des Hochaltares, der Seitenaltäre, wem sollte die Kirche dediziert werden, wie sollte man diese Weihe durch welche Bildnisse und welche Altar-Retabel darstellen, wie sollte die Orgelempore gestaltet werden etc? Die Festlegung eines solchen theologischen Konzeptes für einen Kirchenbau kann man ganz gut in Kloster Rottenbuch/Oberbayern, einem ehemaligen Augustiner-Chorherren-Stift, welches Mitte des 18. Jahrhunderts von dem Wessobrunner Stukkateur Joseph Schmuzer im Rokokostil ausgeschmückt wurde. Zunächst könnte man annehmen, es handele sich um eine Christi-Geburts-Kirche. Bei näherem Betrachten der Details und der theologischen Würdigung derselben wird einem bald klar, daß es sich um eine Kirche handelt, die Mariä Geburt geweiht wurde.
Man stelle sich die Welt des christlichen Abendlandes vor ohne Zeugnisse der Kunst, die errichtet wurden "Ad maiorem Dei gloriam" - „zur größeren Ehre Gottes“ (aus den Dia-logen des Papstes Gregors des Großen) oder „Omnia ad maiorem Dei Gloriam“ - „Alles zur größeren Ehre Gottes“. Ohne die Dome, die Kirchenbauten der Orden, ohne die vielen Kapellen, die ihre Entstehung häufig der Privatinitiative von einzelnen Gläubigen oder Familien verdanken, ohne die bildnerischen Darstellungen, den Figurenschmuck, dir "musica sacra", ohne die geheimnisvolle mystische Innenausstattung einer Asam-Kirche in München. Es wäre kalt in dieser Welt, bitterkalt, und wir wären alle schon "erfroren". Die Kunst, die sich an kein "Muß" gebunden weiß, sondern sich über alle Zwänge frei erhebt, die dem Künstler gerade deswegen nur ein Leben in Askese zubilligt, ist das Zeugnis unserer freien Geistigkeit, in der sich unsere Vernunft über alles bloß Naturhafte erhebt.
So könnte man die einzelnen Stilrichtungen durchgehen, von den prä-romanischen Zeugnissen über die Romanik, die Gotik, die Renaissance, den Barock bis zu dessen Spätausformung im Rokoko, das seine Blütezeit in Bayern hatte, um die spezifisch religiösen Aussagen, die die einzelnen Epochen zum Ausdruck bringen wollten, die in ihnen relevant waren, aufzulisten.
Wenn man die romanischen Christusdarstellungen am Kreuz betrachtet, so fällt auf, daß das Gesicht nicht gezeichnet ist von Schmerz und Verzweiflung ("Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" - Joh 19,26-27), sondern eher von Verklärung, von einer Person, die trotz der aktuellen elenden Situation den schrecklichen Tod am Kreuz bereits überwunden hat oder den Sieg über den Tod vorwegnimmt. Ich denke dabei u.a. an den Volto Santo von Lucca, ein hölzernes Kruzifix aus dem 11. Jahrhundert in der dortigen Kathedrale. Es wird seit dem Mittelalter als Reliquie verehrt. Der Volto Santo zeigt den Gekreuzigten im langen Gewand, mit Bart und geöffneten Augen. Von ihm geht eine ungeheure Ausstrahlung aus, die den Betrachter zu einer tiefen Andacht anregt.
Ganz anders stellt die Gotik Christus am Kreuz dar. Er ist der Gekreuzigte, der vor Qualen - geistigen und physischen - vergeht. Die Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald (1460 - 1528) in Colmar, des vermutlich in den Jahren 1506 bis 1515 geschaffenen Hauptwerks, zeigt Christus im Sterben mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einem sich verdüsternden Hintergrund, der in Nacht überzugehen scheint.
Das barocke Zeitalter war fähig, die Fülle des diesseitigen Lebens auf dem Hintergrund des Abgrundes zu sehen und darzustellen, der von der Einseitigkeit dieser Ebene ausging. "Vanitas! Vanitatum vanitas" ("Eitelkeit der Eitelkeiten") heißt es in einem Gedicht von Andreas Gryphius: "Ich seh wohin ich seh, nur Eitelkeit auf Erden, Was dieser heute bawt, reist jener morgen ein."
Es gibt in der Biographie Emil Noldes, des expressionistischen Malers, der u.a. durch seine farblich sehr ausdrucksstarken Blumen-Aquarelle bekannt wurde, folgende Begebenheit. Er hatte 1909 das "Letzte Abendmahl" in expressionistischer Malweise in Öl gemalt in der Absicht, daß es in seiner Heimatgemeinde die dortige Kirche zieren würde. Doch diese Absicht machte der Kirchenvorstand zunichte. Er untersagte die Hängung, weil die Darstellung dem künstlerischen und religiösem Verständnis dieses Gremiuma nicht zusagte.
Wie könnte demnach eine Kunst aussehen, die spezifisch die religiösen Befindlichkeiten zum Ausdruck bringen wollte, die sich in unserer Zeit ausgeprägt haben? Sie müßte, um der Wiedergewinnung der zentralen Wahrheit, daß nämlich Gott Mensch geworden ist, daß Christus dieser Gott-Mensch ist, von dem aus unsere Existenz (im Neuen Bund) gestaltet werden soll, Rechnung tragen. Sie sollte sich der Darstellung dieses zentralen Mysteriums widmen. Das könnte auch in Analogien und Metaphern geschehen, gleichnishaft, wie ja auch Christus in Gleichnissen geredet hat. Man kann sie aber nicht einfach vorbestimmen, denn die künstlerische Verarbeitung bzw. Umsetzung einer Sichtweise bleibt in die Originalität und die Inspiration des Künstlers gestellt. Man darf aber erwarten, daß das Produkt für Menschen, die in diese zerrissene Welt hineingeworfen sind, verstanden werden kann, daß seine Sprache keine unverständliche Sprache ist, die nur wenige entschlüsseln können bzw. eines Dolmetschers bedürfen, oder die so gestaltet ist, daß sie sich jeder Übersetzung entzieht.
Aber in einer Zeit der Düsternis haben wir allen Grund, das verdunkelte Bild der Sonne, welche Christus ist und welches von tiefem Verrat verhangen wird, wieder aufleuchten zu lassen zu seiner Ehre, zu seinem Ruhm. (EINSICHT vom Dez. 2013, Nr. 4, S. 122-125)
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