IM PUNKT OMEGA
von
Eugen Banauch
"So sind wir abermals auferstanden mit Christus, der die Fülle allen
Menschseins sinnbildet. Und wahrhaft österlich ist unsere Freude,
geliebte Christen aller Weltanschauungen - denn jeder Menschl sei er
durch Wasser getauft oder durch seine ihm selber vielleicht unklare
Begierde, jeder Mensch, der nur alle Möglichkeiten seines Menschseins
zu verwirklichen sich befleißt, der nur ganz Mensch sein möchte wie
unser freilich nie ganz erreichbares Vorbild, wie es uns, immer
authentischer, aus den von allem historischen Beiwerk und allen
unnützen Wiederholungen sorgfältig gereinigten, mit pastoralem Bedacht
in unsere modernen Umgangesprachen übersetzten heiligen Schriften
entgegenleuchtet, ist ein Christ und ein Glied unserer heiligen Kirche,
wie wir heute wissen - wahrhaft österlich ist unsere Freude, da uns die
ganze Welt, diese herrliche, in jeder Hinsicht nahezu vollkommene
moderne Welt, auferstanden dünkt von der Finsternis und Totenstarre
jener Epoche, die wir heute die präkonziliare oder die mythologische
nennen, auferstanden zu einer einzigen, einigen, universalen und
sozialen, wahrhaft katholischen Kirche, in welcher nun, dem Willen
ihres genialen Stifters gemäß, alle Menschen, alle Bekenntnisse, alle
kulturellen Formen ihren Platz, ihre Heimat haben. Endlich nähern wir
uns, allen reaktionären Umtrieben zum Trotz, dem Höhepunkt der
Entwicklung des Menschengeschlechts! Wie hätten die Christen der ersten
Zeit, deren Glaubenskraft wir nicht nur wieder erreicht, sondern
vielfach übertroffen haben, diese Freude verkostet, die ein deutlicher
Vorgeschmack der künftigen ist, ja, eine mystische Teilnahme an der
visio beatifica im Punkte Omega! Alleluja!"
Nachdem der Papst diese Worte gesprochen hatte, erteilte er der Menge
auf dem Petersplatz geschwind seinen Segen, grüßte sie nochmals mit
einer eleganten Bewegung seiner ausgebreiteten Arme, schaltete das
Mikrophon ab, schloß das Fenster und kehrte an seinen Schreibtisch
zurück. Dort, hinter seinen drei Telephonen - eines war weiß, das
andere himmelblau, das dritte rosa - ließ er sich tief aufatmend in den
Lehnstuhl sinken.
Er trug, wie dies schon während des vorigen Pontifikats bei allen
offiziellen Anlässen üblich geworden war, einen weißen Frack; an der
Brust hingen einige hohe weltiche Auszeichnungen; die am deutlichsten
sichtbare war das Ehrenkreuz der Großloge von Frankreich.
Hier, in der sachlichen Atmosphäre seines Arbeitezimmers, das nur mit
den Bildern des amerikanischen Präsidenten, des sowjetischen Partechefs
und des chinesischen Diktators geschmückt war, fühlte er sich am
wohlsten; hier pflegte er sich auszuruhen und zu meditieren.
Ein Mädchen servierte ihm eine Erfrischung. Er ersuche, bis zum Dinner
nicht sehr gestört zu werden, sagte der Papst. Und kurz nachdem das
Mädchen gegangen war, geschah es, daß er, übermüdet von den Strapazen
des Vormittags, überwältigt von der mittäglichen Hitze, im Sitzen
einschlief. Er träumte von der Predigt, die er vorhin gehalten, ja, er
hielt sie, Satz für Satz, noch einmal (nicht umsonst hatte er sie so
sorgfältig einstudiert).
Als er endlich auf die Christen der ersten Zeit zu sprechen kam, war es
ihm, als entstünde unter der Kollonade gegenüber eine Unruhe, doch als
er genauer hinsah, erkanute er, daß nicht dort der Herd dieser Unruhe
war, sondern daß sich die Blicke aller dem Eingang des Domes zuwandten,
von wo aus sich die Bewegung offenbar fortgepflanzt hatte. Und da er
spürte, daß ihm niemand mehr zuhörte, weil alle zum Domportal blickten,
erstarte ihm das Wort im Munde.
Dort, auf dem Gefälle der Stiegen, teilte sich jetzt die Menge und
bildete eine Gasse vom Tor der Peterskirche bis zum Eingang des
päpstlichen Palastes. Unter der entralen Loggia, von welcher aus die
Päpste der mythologischen Epoche den österlichen Segen "urbi et orbi"
gespendet hatten, wurde eine weißgekleidete Gestalt sichtbar, welche
nun, die Gläubigen immer wieder mit der erhobenen Rechten segnend,
langsam die Stufen herabschritt. Manche fielen ganz unzeitgemäß auf die
Knie, manche wandten sich demonstrativ ab; viele aber schienen dem
Störenfried durch ein verlegenes Einziehen des Kopfes zu huldigen.
Unwillig zog sich der Papst vom Fenster zurück, diesmal ohne Segen oder
irgendeine weitere Geste, und setzte sich an seinen Schreibtisch, um
den merkwürdigen Gast zu erwarten; denn keinen Augenblick zweifelte er
daran, daß dieser den Herrn des Palastes zu sprechen wünsche. Und
in der Tat stand der Eindringling plötzlich vor ihm, als wäre er nicht
durch die Tür, sondern durch die Mauer in das Gemach eingetreten. Der
Besucher war in prächtige Pontifikalgewänder gekleidet und trug eine
Tiara auf dem Haupt. Diese Aufmachung registrierte der hinter seinen
drei Telephonen Sitzende als völlig unhistorisch, wußte er doch
wunderbarerweise sofort, um welchen seiner Vorgänger es sich handelte,
der nun folgende Worte zu ihm sprach:
"Vernimm, du Sohn des Verderbens, diese Botschaft: Das Ende ist nahe,
sehr nahe. Deshalb bin ich gekommen, dir deine ewige Strafe vor Augen
zu stellen. Denn dies ist das einzige, was dich etwa noch zur Umkehr
bewegen könnte." Der Nachfolger hatte sich bei diesen Worten hinter
seinem Schreibtisch erhoben (es lag aber nicht an den Worten, sondern
an der hoheitsvollen Kraft, welche von der Erscheinung ausging) und
starrte den heiligen Petrus haßerfüllt an. So standen sich die beiden
Päpste eine Zeitlang wortlos gegenüber. "Wir verachten heute solche
Methoden" sagte schließlich der im weißen Frack und seine verkrampften
Lippen brachten ein überlegenes Lächeln hervor. "Wir haben eure
zelotische Unmenschlichkeit abgelegt und pflegen ausschließlich mit den
Waffen der Barmherzigkeit zu kämpfen."
"Schweig," erwiderte der Heilige. "Du stehst vor einem, der dich und
deiner Lügen Ursprung kennt. Ja, glaubst du wenigstens die Lüge, in der
du Meister bist, wirklich, es werde dir besser: so glaubtest du nämlich
irgendetwas. Die Wahrheit, die du vor mir doch nicht verbergen kannst,
ist vielmehr, daß du überhaupt nicht mehr glauben willst, nicht einmal
an den Menschen, dem deine Afterreligion zu dienen vorgibt, geschweige
denn an Den, der für uns Mensch geworden und die Last unserer Sünden
auf sich genommen. Als Kind lerntest du das Irdische verachten um des
Himmlischen willen; nun du den Glauben, die Hoffnung und die Liebe
schuldhaft verloren hast, ist dir nur eine grenzenlose Verachtung
geblieben aller Dinge und du verachtest die Welt ebenso wie das wahre
Licht, welches die Welt erleuchtet. So ist auch dein eigenes Ich, das
du anbeten möchtest, ohne an es glauben zu können, nicht ausgenommen
von dieser Verachtung. Der geistige Ort deines Wandels, schwankend
zwischen Selbstvergötzung und Selbstverachtung, ist weder der Himmel,
noch die Erde, sondern das Nichts dein wahrer "Punkt Omega".
Dieser Ort - begreife es wohl - wird deine Hölle sein. Dort wirst du
über alle, die du in die Verdammnis geführt hast, weiter die Herrschaft
ausüben, obwohl diese die Lüge ebenso als Lüge erkennen werden wie du.
Du magst meine Worte und mein Erscheinen nach dem Erwachen abtun wie
irgendeinen anderen Traum, als Spiel der Einbildungskraft,
hervorgerufen durch eine Überreizen der Nerven. Dennoch wirst du die
Wahrheit meiner Worte nicht leugnen können und schließlich einsehen
müssen, daß es der Vorbote des Gerichts war, der dir erschien. Höre, du
Sohn des Verderbens, meine Weissagung: Verachtest du meine Worte, so
wird der Herr dich verachten und das Gericht wird dich ereilen, indem
es an dir vorübergeht."
"Hinaus!" schrie wütend der Nachfolger Petri - und erwachte.
Er erhob sich, trat ans Fenster und blickte verächtlich hinunter auf
den leeren Petersplatz, der im gleißenden Mittagelicht dalag. Neben dem
stetigen Rauschen der Springhrunnen war das Gelärme des Stadtverkehrs
auf der anderen Seite des Tibers nur als ein leises Summen zu
vernehmen. "Ein Spiel der Einbildungskraft" murmelte er. "Alles ein
Trug; alles ein Traum." Als er so eine Weile am Fenster gestanden war,
brach plötzlich eine Düsternis herein, wie er dergleichen noch nie
gesehen hatte. Es waren keine Gewitterwolken aufgezogen, sondern ein
grauer Schatten hatte sich jählings über die Sonne gebreitet, sodaß sie
wie erloschen, gerade noch erkennbar, am Himmel stand. Unbewegt starrte
der Papst auf dieses unerwartete Naturschauspiel. "Alles ein Traum,"
wiederholte er und beobachtete das Anwachsen der Düsternis, welche
jetzt nur mehr die groben Umrisse der Gebäude erkennen ließ. Es war
totenstilI, auch die Springbrunnen waren verstummt.
Nun verschmolz die Sonnenscheibe gänzlich mit ihrem verfinsterten
Hintergrund. Es erschienen aber einige Sterne und große Sternschnuppen,
die mit ihren leuchtenden Bahnen senkrecht den Himmel aufrissen, sodaß
der Eindruck entstand, als fielen die Gestirne herunter auf die Erde .
Von fernher war ein eigentümliches Getöse zu vernehmen. "Alles ein
Trug!" sagte er noch einmal, mit etwas erhobener Stimme. Da erschien am
Himmel das Zeichen des Menschensohnes. Der Papst erbleichte. Er wich
zwei Schritte zurück und nahm, ohne sein Auge vom Himmel abzuwenden,
hastig den Hörer des Haustelephons - es war das hellblaue - auf; mit
zitternder Hand wählte er die Nummer des Kardinal-Staatssekretärs. Er
verlangte den letzleren zu sehen, sofort. Etwas Ungeheuerliches sei
geschehen. Er legte den Hörer auf und blieb stehen, ohne sich zu
rühren. Einen Augenblick lang leuchtete das Zeichen auf, strahlender
als die Sonne. Dann war ihm, als verschöbe sich das riesige Lichtkreuz,
das auf dem tiefschwarzen Himmel stand, langsam nach rechts. Das Zimmer
ward abermals in Dunkelheit getaucht. Das Getöse verklang. Die letzlen
Worte Petri hallten in ihm nach: "Das Gericht wird dich ereilen, indem
es an dir vorübergeht." Er bedeckte die Augen mit der Hand. So konnte
er nicht sehen, daß es allmählich wieder heller wurde. Der rotbefrackte
Kardinal trat ein, ohne anzuklopfen, und blieb an der Türe, die er
hinter sich geschlossen, stehen. "Was ist geschehen, heiliger Vater -
sprechen Sie!" Der Papst deutete, ohne die Hand von den Augen zu
nehmen, auf den Himmel. Es war jetzt ganz hell geworden, draußen schien
die Sonne wie ehedem. Der Rolfrack trat näher. "Was meinen Sie,
heiliger Vater?"
Der Angesprochene ließ seine Hand sinken und öffnete langsam die Augen.
Sein Antlitz - so schien es dem Kardinal - war weiß wie seine
Gewandung. "Heiliger Vater, was ist Ihnen? Sie benötigen wohl - den
Arzt?" Der Papst schüttelte den Kopf. "Da!" sagte er, nochmals auf den
Himmel deutend, und als er gewahrte, daß dort nichts Außergewöhnliches
mehr zu sehen war, ging er ans Fenster. Unten lag der leere Petersplatz
im gleißenden Mittagslichte, rauschten die Springbrunnen.
"Nichts!" sagte er tonlos.
"Nichts?" erwiderte der Staatssekretär etwas gereizt.
"Nichts...", wiederholte der Papst.
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