Gebet in der Nacht
von Herbert Peter Maria Schaad
Der bei der letzten Station in den Zug gestiegene Herr musterte die ihm gegenübersitzende Dame auf dem anderen Fensterplatz. Sie hatte wieder das Buch aufgenommen, in dem sie gelesen hatte. Gerne hätte der quecksilbrige Südfranzose ein heimatliches Gespräch zum Zeitvertreib angeknüpft, aber er war zu wohlerzogen, um lästig zu fallen. Es würde sich schon Gelegenheit bieten, ins Plaudern zu kommen...
Die Dame öffnete die Handtasche, um ihr Taschentuch herauszunehmen. Ein Gegenstand fiel zu Boden. Der Herr hob ihn auf. Es war ein schöner Rosenkranz mit elfenbeinernen Perlen. Etwas verlegen reichte er ihn hinüber. "Sind Sie auch Franzose?" Der Herr bejahte. Das Eis war gebrochen. "Wie leichtsinnig von mir. Der Rosenkranz bedeutet mir unendlich viel. Mein Mann hat ihn mir vor dem letzten Krieg von einer Männerpilgerfahrt nach Rom mitgebracht. Er ist vom Heiligen Vater geweiht. Wir Bretonen sind dem Glaubenserbe unserer Väter verbunden geblieben. Und so wurde dieser Rosenkranz beim gemeinsamen Morgen- und Abendgebet benutzt. Seine Perlen gingen durch die Finger meines Mannes. Sie gingen durch meine Finger, wenn er auf Reisen war und ich mit unserem Töchterchen allein betete."
Sie schwieg - in die Erinnerung versunken. Dann stiegen Bilder aus der Vergangenheit vor ihr auf und wurden zu Worten: "Mein Mann hatte einen wichtigen Posten in der Widerstandsbewegung. Ich hatte ihn oft gebeten, auf diese gefährliche Betätigung um unsertwillen zu verzichten. Meine Nächte waren ein einziger Alptraum. Immer wieder träumte ich von seiner Verhaftung mit allen ihren schauerlichen Folgen.
Sehen Sie - und dann kam die Nacht, in der meine Träume Wirklichkeit wurden. Es war ausgerechnet die Nacht der Landung der Alliierten in der Normandie. Wir in der Bretagne wussten noch nichts. Unser Haus liegt am Meer. Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Ich trat hinaus auf den Balkon. Ich war hellwach. In der Ferne klang plötzlich Motorengeräusch auf Das Brummen wurde deutlicher. Scheinwerfer tasteten die Landschaft ab. Und das Motorengeräusch kam näher ... und plötzlich gingen die Scheinwerfer aus. Angsterfüllt trat ich ins Schlafzimmer zurück und weckte meinen Mann: "Pierre, Motorengeräusch. Es kommt näher. Vielleicht holen sie dich." Schlaftrunken wehrte Pierre ab. "Du mit deiner ewigen Angst. Meine Kameraden verraten mich nicht." Mich trieb es auf den Balkon zurück. Es war zu spät. Das Summen der Motoren war verstummt, aber ich spürte es, mehr als ich es sah - das Haus war umstellt. Unser Haus.
Am ganzen Leibe zitternd stürzte ich ins Schlafzimmer zurück. "Sie sind da." - "Wer ist da?", fragte Pierre immer noch schlaftrunken. "Die Soldaten" - "Die Soldaten…" In diesem Augenblick wurde die Haustüre aufgebrochen. Ich flüchtete mich ins Bett und klammerte mich an meinen Mann. Er wollte die Pistole aus dem Versteck im Nachtisch holen. Ich hielt ihn fest; es wäre sinnlos gewesen. Im ganzen Haus rumorte es. Sie durchsuchten die Zimmer nach Waffen. Und dann ging die Schlafzimmertür auf. Die Scheinwerfer von großen Taschenlampen flammten auf, huschten über uns hinweg. Jemand schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Pistolen richteten ihren dunklen Lauf auf uns. Vor der Tür standen weitere Soldaten, die Maschinenpistolen im Anschlag.
Ein deutscher Offizier rief in tadellosem Französisch meinen Mann an: "Sie sind verhaftet. Stehen Sie auf, und machen Sie sich fertig. Widerstand ist zwecklos." Die Soldaten durchsuchten das Zimmer. Im Nachttisch fanden sie die Pistole. Pierre wandte sich an den Offizier: "Mehr Waffen sind nicht im Haus. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort." Der Offizier sah ihn groß und prüfend an. "Gut", erwiderte er, "dann lasse ich die Betten nicht durchsuchen." Lisette, unser damals fünfjähriges Töchterchen, war von dem Lärm erwacht. Das Kind begriff nicht ganz, was sich abspielte. Aber es sah mit großen Augen auf die fremden Männer, auf den Vater, der sich mitten in der Nacht anzog, auf die Mutter, die das Kissen vor ihren Mund presste, um das Schluchzen zu ersticken.
Pierre trat ans Bett, neigte sich über mich und küsste mich auf die Stirn. In seinen Augen las ich den Abschied für immer. Rasch wandte er sich ab, ging an das Kinderbettchen und beugte sich über Lisette. Auch sie küsste er auf die Stirn. Sachte machte er die Händchen los, die sie um seinen Nacken geschlungen hatte. "Meine Herren, ich stehe Ihnen zur Verfügung."
Da geschah etwas völlig Unerwartetes. Lisette war in ihrem Nachthemdchen aus ihrem Bettehen gesprungen und hatte den Rosenkranz ergriffen, der auf dem Nachttisch lag. Sie kniete mitten im Zimmer nieder, ließ die Perlen durch die Fingerchen gehen, wie sie es bei uns gesehen hatte - und betete: "Lieber Gott, hilf unserem Vati." Es folgte ein Vaterunser. "Liebe Gottesmutter, hilf unserem Vati." Es folgte ein Ave Maria. Die Soldaten senkten die Waffen. Ergriffen starrten alle auf das betende Kind und den Rosenkranz in der Hand. Als es fertig war, reichte es ihn dem Vater.
Da trat der Offizier, der gedolmetscht hatte, an die Kleine heran, fuhr mit einer Hand über das blonde Lockenköpfchen und sprach die Worte, die wir kaum zu fassen vermochten: "Ich verspreche dir, dein Vati wird bald wieder zu Hause sein!>"< Und unser Vati kam schon am nächsten Tag heil und gesund zurück. Der Offizier hatte ihn kommen lassen, ihn an das Gebet seines Kindes und sein Versprechen erinnert und ihm die Freiheit angeboten, wenn er ehrenwörtlich verspreche, nichts gegen die deutschen Truppen zu unternehmen. Und er hatte gegen das gleiche Ehrenwort noch drei Kameraden, die vor ihm festgenommen worden waren, mitnehmen dürfen."
Schweigend hatte der Mann im Eisenbahnabteil zugehört. Die Erzählung hatte ihn gepackt. Und nun stellte er die erste Frage: "Kennen Sie diesen Offizier? Sind Sie mit ihm in Verbindung?" Die Frau lächelte. "Er hat uns nach dem Krieg geschrieben. Erst da haben wir seinen Namen erfahren. Und er schrieb, dass dieser geweihte Rosenkranz das Wunder gewirkt habe, und zwar ein doppeltes. Das Kind, das den Rosenkranz betete, habe ihn plötzlich an seine Mutter erinnert, die ihn als Kind das Rosenkranzgebet lehrte und ihm in den Krieg einen geweihten Rosenkranz mitgab - in der Hoffnung, dass er wieder zum Glauben zurückfinden werde.
Am 13. Februar [1945] war seine Vaterstadt Dresden unter dem feindlichen Bombenhagel in Schutt und Asche gesunken. Ein Kriegsverbrechen ... Und unter den Toten war seine Mutter. Als er dann nach langer schwerer Gefangenschaft in den frei gebliebenen Teil seines Vaterlandes zurückkehrte, hatte er Heimat und Mutter verloren, aber den Glauben wiedergefunden... "
"Und Sie sind sich nie mehr begegnet seit jener Nacht?", forschte der Mann weiter. "Mein Mann ist eben zu Besuch bei ihm. Und er bat mich, auch zu kommen und den Rosenkranz mitzubringen. Als Werkzeug des doppelten Wunders wollen wir ihn ihm schenken."
(zitiert nach "Mitteilungsblatt…" Okt. 2011, S. 50 ff.) |