Das erzieherische Wirken der Kirche
von Karl Adam (aus: "Das Wesen des Katholizismus", Düsseldorf 1936, S. 239-257)
"Heilige sie in der Wahrheit! Dein Wort ist Wahrheit." (Joh. 17, 17)
Nach dem katholischen Rechtfertigungsbegriff beruht die Heilandsaufgabe der Kirche nicht bloß darin, das Reich Gottes zum Menschen, sondern auch den Menschen zum Reich Gottes heranzubringen, d.h. durch Predigt und Kirchenzucht den sittlichen Willen des Menschen für Christus und Seine Gnade zu erziehen und in dieser Gnade mehr und mehr zu festigen. Neben die sakramentale, gnadenbringende Seelsorge der Kirche tritt also ihre ethische Erziehungstätigkeit, ihr angestrengtes Bemühen, daß "der Baum, gepflanzt an Wasserbäche, seine Frucht bringe zu seiner Zeit, und daß sein Laub nicht abfalle" (Ps. 1. 3).
Im Dienst dieser ihrer erzieherischen Aufgabe steht vor allem ihr Vollmachtsanspruch, die besondere göttliche Sendung, die sie bei der Verkündigung des Gotteswortes geltend macht. Wohl predigen auch nichtkatholische Gemeinschaften von Christus und Seinem Reich. Und wir danken Gott, daß sie von Ihm predigen. Aber die katholische Kirche allein predigt gleich ihrem göttlichen Meister wie eine, die "Gewalt hat". Durch die Reihenfolge ihrer Bischöfe steht sie in einem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit Christus und den Aposteln. Sie allein kann in einem wahren Sinn sagen: Sieh, hier ist Christus, hier sind die Apostel. Und die unzerstörte Einheit ihres Glaubens und ihrer Liebe bürgt dafür, daß ihr zeitlich-räumlicher Zusammenhang mit Christus auch ein Zusammenhang des Geistes ist, das Wehen des Pfingstgeistes. Keine menschliche Größe hat sich hier einschleichen können, wo Christus allein predigt. Als die eine in Raum und Zeit sich ausweitende Jüngergemeinde Jesu kann sie, sie allein, vor die Menschen hintreten und für ihre Verkündigung das Wort Jesu an Seine Jünger in Anspruch nehmen: "Wer euch hört, der hört Mich; wer euch verachtet, der verachtet Mich; wer aber Mich verachtet, der verachtet den, der Mich gesandt hat" (Lk.1O, 16).
Darum bringt der Gläubige dem kirchlichen Lehrwort ungeheuchelte Ehrfurcht und unbedingtes Vertrauen entgegen. Für ihn gibt es keine Sondermeinung und keine zuwartende oder ausweichende Haltung. Christus und die Kirche liest er in ein Wort zusammen. So eignet der kirchlichen Predigt eine schlechthin bezwingende Gewalt, eine unbedingte Geltung. Sie hat Normcharakter, sie ist Gesetz. Aber nicht ein Gesetz, das an den Gläubigen wie etwas Äußerliches und Fremdes herantritt, dem man sich resigniert fügt wie dem Machtgebot eines absoluten Herrschers. Eine derartige fremdgesetzliche (heteronome) Sittlichkeit, die sich einem Gebot unterwirft, weil und insofern es Fremdgesetz ist, gibt es im Katholizismus nicht. Einstimmig lehnen die Theologen eine geistige Haltung ab, die sich in ihrem sittlichen Handeln von der Furcht und dem Zwang allein bestimmen ließe. Der Katholik erblickt in der ordentlichen und außerordentlichen Lehrverkündigung der Kirche den Willensausdruck Gottes. Er weiß, daß die Kirche das göttliche Glaubens- und Sittengesetz zwar nicht schafft, wohl aber maßgebend in seinem Bestand und seiner Geltung bezeugt. Das Gesetz selber ist die Forderung Gottes und als solche Forderung nicht ein Ausdruck göttlicher Willkür - kein angesehener Theologe, auch Duns Scotus nicht, hat das göttliche Gesetz jemals in diesem Sinn verstanden -, sondern die Offenbarung der göttlichen Weisheit, Heiligkeit und Güte. Es ist die in bestimmten Anweisungen sich spiegelnde Idee des Menschen, wie sie die ewige Weisheit und Liebe verwirklicht haben will - der neue Mensch, wie er im Plan Gottes sein soll. Es besagt also seinem Gehalt nach nicht eine Belastung, sondern eine Bereicherung, Erfüllung, Vollendung des menschlichen Wesens. Es ist Lebenswahrheit, Lebensgesetz. Und darum bejaht es der Gläubige im Licht seiner praktischen Vernunft und macht es sich in freiem, sittlichem Entscheid zu eigen. So wird es sein eigenes Gesetz, eine Tat seiner sittlichen Freiheit, eine Setzung seines sittlichen Gewissens. Das Gewissen versubjektiviert also die objektive Gesetzesforderung. Insofern ist es in formaler Hinsicht die nächstverpflichtende, unmittelbare Norm des menschlichen Handelns, aber eine Norm, die sich an der objektiven Gesetzesforderung orientiert. Nichts Willkürliches ist daran. Das Gewissen ist, um mit dem hl. Thomas zu reden, "das Kommen eines göttlichen Gebotes zum Menschen" (perventio praecepti divini ad hominem, De verit. qu. 27 a. 3. 4. ad 2). Denn auf nichts anderes ist beim normalen gesunden Menschen der im Gewissensentscheid sich betätigende praktische Vernunftwille hingeordnet als auf das Reich des objektiv Guten und Heiligen, d.i. auf das, was Gott will. Die Sittlichkeit des Gläubigen ist darum weder fremd- noch eigengesetzlich (heteronom-autonom), sondern eine Sittlichkeit um Gottes willen (theonom), insofern sich sein Gewissen an die objektiven Normen der göttlichen Offenbarung gebunden weiß.
Immerhin ist es möglich, daß die praktische Vernunft eines Menschen hier und dort versagt, daß sie eine göttliche Forderung nicht klar und deutlich als solche erkennt oder sich gar in unüberwindlichen Irrtum verstrickt. In diesem Fall ist der Gläubige nicht an dieses objektive Gottesgesetz, sondern an das gebunden, was als Gotteswille vor seinem Gewissen steht, mag sein Gewissensurteil auch objektiv falsch sein. Kein Geringerer als St. Thomas betont diese unbedingt verpflichtende Autorität auch des irrigen Gewissens mit Nachdruck. Selbst wenn es um ein so wesenhaftes, heilsnotwendiges Gut wie den Glauben an Christus ginge, würde ein Mensch sittlich schlecht handeln, der diesen Glauben bekennen wollte, obschon ihn seine Vernunft als sittlich böse beurteilte (Summ. Theol. 1, 2, 19 a. 5; vgl. Quodlib. 3, 27). Da sich nirgends die entscheidende Bedeutung, welche die Kirche dem Gewissensurteil zuspricht, das Verhältnis der subjektiven Gewissensnorm zur objektiven Gesetzesnorm, so durchsichtig erkennen läßt wie in der Frage, ob ein Katholik jemals berechtigt sein kann, der Kirche den Gehorsam zu künden, sei sie eindringender behandelt.
Von ihrem Bewußtsein aus, unfehlbare Verkünderin der Offenbarungswahrheit und die alleinseligmachende Heilsanstalt Christi zu sein, kann die Kirche niemals zugeben, daß sich die Gläubigen "in der gleichen Lage" mit jenen befinden, die noch nicht zum Glauben gelangt sind, so daß die Katholiken "einen gerechten Grund" haben könnten, den Glauben, den sie unter dem Lehramt der Kirche bereits angenommen haben, "mit einstweiliger Zurückhaltung ihrer Zustimmung so lange in Zweifel zu ziehen, bis sie den wissenschaftlichen Beweis der Glaubwürdigkeit und Wahrheit ihres Glaubens zu Ende geführt haben" (Vat. sess. ¥3 cap. 3 can. 6).
Die geistige Einstellung des gläubigen Katholiken gegenüber dem großen Reich der übernatürlichen Wirklichkeit und den von ihm aufgegebenen Fragen ist somit nach dem Vatikanum von vornherein eine andere denn die eines Andersgläubigen. Zu zahlreich (multa) und zu außerordentlich (mira) sind nach dem Konzil die göttlichen Beglaubigungen, auf die sich die Kirche, sie allein, berufen kann, als daß der katholische Glaube durch ernsthafte, objektiv gültige Bedenken erschüttert werden könnte. So tief ist der kirchliche Wahrheitsanspruch im harten Granit der geschichtlichen Tatsachen und der logischen Zusammenhänge verankert, so innig ist er mit den letzten, tiefsten Forderungen des Gewissens, mit seiner Ehrfurcht vor dem Heiligen und Göttlichen verbunden, daß er jeder möglichen Fragestellung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überlegen standzuhalten vermag. Aber auch einem bloß subjektiv begründeten, auf persönlichen Vorurteilen, auf falschen Voraussetzungen oder irrigen Folgerungen beruhenden Zweifel kann der Katholik so lange nicht zum Opfer fallen, als er sich dem Licht der Glaubensgnade, die keinem versagt wird, der nur guten Willens ist (vgl. Vat. sess. 3 cap. 3), nicht in stolzer Selbstsicherheit verschließt. Immer wird dieses Licht hell und stark genug sein, um die Fehlerquellen seines verkehrten Denkens aufzudecken und ihn vor dem Versinken in einen "unüberwindlichen" Irrtum (error invincibilis) zu bewahren. Der katholische Gläubige ist also gemeinhin vor jenem Radikalismus der Fragestellung geschützt, der sich bewußt von den Vorgegebenheiten des kirchlichen Christentums innerlich loslöst und gleichsam vis-à-vis de rien in der Wollust einer bis zum äußersten Mißtrauen gesteigerten rein kritischen Haltung die Frage nach Christus und nach der Kirche stellt. Anderseits ist es nicht so, als ob ihn die Kirche nötigte oder es ihm auch nur erlaubte, vor aufstehenden religiösen Problemen krampfhaft die Augen zu verschließen. Das Vatikanum verpönt jeden Köhlerglauben und fordert mit dem Apostel (vgl. Röm. 12, 1), daß unser Glaubensgehorsam der Vernunft entsprechend sei (obsequium rationi consentaneum, l. c.). Es obliegt deshalb dem Katholiken die sittliche Pflicht, sich über seinen Glauben jene Rechenschaft zu geben, die seine Bildungsstufe und seine persönlichen Verhältnisse je und je von ihm heischen. Es mag sein, daß in unserer von erkenntnis- und bibelkritischen Fragen belasteten Zeit eine solche Rechenschaft in schwere seelische Kämpfe verstrickt, daß der Gläubige mit Gott ringen muß, bis daß Er ihn segnet, daß ihm niemand helfen kann als die Gnade allein.
Nur dort, wo einer diesem Gnadeneinfluß absichtlich sich verschließt und sich bewußt den Gefahren des selbstmächtigen, einsamen Denkens überantwortet, da mag es geschehen, daß er vor dem wirren Knäuel abwegiger Möglichkeiten den freien Blick auf das Wesenhafte, auf das Entscheidende der kirchlichen Selbstbezeugungen verliert, daß er mehr und mehr an der kirchlichen Wahrheit irre wird. und daß sein geistiger Zustand zuletzt auf einen Punkt hintreibt, wo er sich um der sittlichen Wahrhaftigkeit willen zum Austritt aus der Kirche genötigt sieht. Aber gerade hier, in dieser äußersten Spannung von Autorität und Gewissen, wird von neuem der ungeheure Ernst sichtbar, mit dem die Kirche die Rechte des Gewissens, selbst des irrigen Gewissens, schützt. So wenig es in den gewöhnlichen Fällen zweifelhaft sein kann, daß in diesem von der Kirche wegführenden Prozeß die tiefsten Gründe des Abfalls nicht auf dem Gebiet des vorurteilslosen, reinlichen Denkens, sondern auf dem des selbstischen Empfindens und Wollens, also auf sittlichem Gebiet liegen, zumeist insofern, als die ehrfurchtslose, selbstherrliche Grundeinstellung des Gläubigen sein Forschen und Fragen dem kirchlichen Lebens- und Segensstrom, im besonderen dem Einfluß der Glaubensgnade, fortschreitend entzieht und die anfänglichen Bedenken und Zweifel zu unüberwindlichen Irrtümern verkrustet, so einhellig hält die gesamte katholische Theologie an der Lehre fest, daß der ehemalige Gläubige innerlich an diese seine irrige neue Haltung gebunden ist, solange sie als echte, unüberwindliche Gewissensüberzeugung besteht. Auch in diesem Fall ist also der irrende Mensch seinem Gewissen allein verpflichtet, mag das Gewissensurteil auch objektiv falsch und seinem Werdegang nach in ethischem Betracht nicht einwandfrei sein (1).
Im Licht dieses Tatbestandes ist es ein unbilliger, unhaltbarer Vorwurf - der dadurch, daß man ihn immer wiederholt, nicht haltbarer wird -, der von der Kirche geforderte unbedingte Glaubensgehorsam, der Anspruch auf göttliche Vollmacht, knechte die Gewissen. Als berufene Verkünderin der Wahrheit Jesu wird die Kirche niemals aufhören, für diese Wahrheit wie eine, die "Gewalt hat", Zeugnis zu geben und die Gewissen, alle Gewissen immer wieder daran zu binden. Aber sie will die Gewissen nicht überwältigen, sondern überzeugen. Sie will nicht ihr äußerliches, sondern ihr innerliches Ja. Und wo dieses Ja nicht gegeben werden kann, da überläßt sie solche Gewissen der Barmherzigkeit Gottes und gibt sie frei. Das ist nicht Fanatismus und Härte. Das ist Dienst an der Wahrhaftigkeit und inneren Reinlichkeit. Die Kirche kann und darf nicht dulden, daß sich unter ihren Gliedern "Gläubige" finden, die nur den Namen von Gläubigen haben. Sie fordert, daß alle diese aus ihrer neuen Gewissenshaltung die Folgerung ziehen und ihre Gemeinschaft verlassen. Sie schützt damit die Wahrhaftigkeit dieser Gewissen ebenso wie die Wahrhaftigkeit ihres eigenen Wesens. Nicht die Kirche vergewaltigt die "freigeistigen" Gläubigen und Theologen, wenn sie dieselben aus der Gemeinschaft ihrer Gläubigen ausschließt, sondern die freigeistigen Gläubigen und Theologen vergewaltigen die Kirche, wenn sie bei ihr verbleiben, obschon sie den kirchlichen Glauben eingebüßt haben.
Wir schließen: Die sorgfältige Rücksichtnahme der Kirche auf das Gewissensurteil des Gläubigen steht mit der entschlossenen Geltendmachung ihrer gottbegründeten Vollmacht durchaus nicht in feindseligem Gegensatz. Erstere ist vielmehr Voraussetzung der letzteren. Nicht anders will die kirchliche Satzung wirken als durch das Gewissen. Von da aus gewinnt sie erst ihren durchgreifenden Ernst und ihren umfassenden Geltungsbereich. Die Kirche bittet nicht und verhandelt nicht. Sie appelliert an die Gewissen und fordert, daß sie sich dem von ihr verkündeten Gotteswort ergeben. Ihr Wort ist Macht. Die Menschen bedürfen dieses starken Wortes göttlicher Macht. Sie können von einer rein auf sich selbst, nicht auf Gottes Wort gestellten bloßen Vernunftmoral für die Dauer nicht leben. Die ist "der Duft einer leeren Flasche". Und so liegt gerade in der kraftvollen Hervorkehrung des kirchlichen Machtanspruchs eine weckende, die Gewissen aufrüttelnde und zur Höhe zwingende Gewalt. Alle Wurzellosigkeit des inneren Menschen, alles Unstete seiner Lebensführung, alles Zweifeln und Schwanken ist dahin, wo die Kirche zu dem Gewissen spricht. Daher das Einheitliche, Geschlossene, Starke, Zielsichere des wahrhaft katholischen Menschen. Und daher das Umfassende des kirchlichen Erziehungseinflusses. Der Glanz ihrer Vollmacht leuchtet auch in Tiefen hinein, in die kein Strahl philosophischer Erkenntnis dringt. Die Kirche hat durch das Machtwort ihrer Verkündigung unendlich mehr Seelen einem besseren Leben gewonnen als alle vor-und nachchristlichen Ethiker zusammen, die "nicht einmal die Straße bekehren konnten, in der sie wohnten" (Voltaire).
Die zweite erzieherische Kraft der Kirche liegt in der besonderen Betonung des Jenseitigen und Übernatürlichen, des Eschatologischen in ihrer Predigt. "Wir haben hier keine bleibende Statt, sondern suchen die zukünftige." Keine Glaubenswahrheit ist dem katholischen Gläubigen so tief eingeprägt wie der erste Satz seines Katechismus: "Ich bin auf Erden, um Gott zu erkennen, Ihn zu lieben, Ihm zu dienen und dadurch selig zu werden." Das ist seine tiefste Wirklichkeit; die Wirklichkeit des ewigen Gottes. Von da aus wird ihm alle übrige Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Natur und Kultur, nur eine vorletzte Wirklichkeit und ein vorletzter Wert. Eine Wirklichkeit und ein Wert ist sie ihm freilich auch. Aber er ruht nicht darin wie in seinem letzten Zielgut. Sie ist ihm wie ein Nachen, in dem er augenblicklich fährt. Er weiß, daß er ihn bald wieder verlassen muß. Er handelt im Geist jenes Herrenworts (2), das sich in einem nordindischen Torbogen eingegraben findet: "Diese Welt ist nur eine Brücke: geh hinüber, aber baue nicht deine Wohnung dort!" Seine Seele ist darum in steter innerer Spannung und Bewegung nach vorwärts und aufwärts. Täglich wird es ihm in der Meßliturgie zugerufen: Sursum corda! Und täglich antwortet er: Habemus ad Dominum.
Das gibt dem katholischen Lebensgefühl eine zweifache Bestimmtheit. Vor allem einen gewissen leichten Sinn gegenüber den Sorgen des Alltags, eine heitere Sorglosigkeit. Das Wort Jesu von den Lilien auf dem Feld, die nicht arbeiten und spinnen und doch schöner gekleidet sind denn Salomo in seiner Pracht, ist in die katholische Geistigkeit tief eingedrungen. Man hat deshalb schon von einer Kulturrückständigkeit des Katholizismus gesprochen. Meint man damit, daß der echte Katholik die Kultur nicht als höchsten, letzten Wert ansieht, daß sie ihm nicht Selbstzweck ist, so ist das Wort richtig. Er glaubt zu fest und zu lebendig an den jenseitigen Himmel, als daß er an einen diesseitigen glauben möchte. Es hat auch schon Gläubige gegeben, und es wird immer wieder solche geben, die derart hingebend der Ewigkeitshoffnung lebten, daß sie das Irdische und Natürliche trotzig mißachteten, und daß sie der gottgesetzten Aufgabe, die Erde zu bebauen, vergaßen. Das war und ist eine Überspannung des katholischen Lebensideals. Wir verwiesen schon darauf, wie die Kirche in harten Kämpfen mit den gnostischen Sekten des Altertums und Mittelalters den Eigenwert des Natürlichen und Leiblichen und das Recht des Menschen auf die Güter und Freuden des Daseins verteidigte. Die katholische Lebensform strebt keine Naturvernichtung, sondern eine Naturverklärung an. Sie bewegt sich zwischen den zwei Polen Natur und Übernatur, Diesseits und Jenseits. Beide gehören in das Leben des katholischen Gläubigen. Wenn er einen der beiden Pole leugnet, ist er ein Ketzer. Sie in die rechte Beziehung zu setzen, das macht den wahren Katholiken aus. Alles Natürliche, alle natürliche Leidenschaft, auch der geschlechtliche Trieb, ist eine Gabe Gottes, also ein Wert. Aber ein Wert, der vergänglich ist, der darum über sich selbst hinausweist, ein drittletzter und vorletzter Wert. Erst wenn er in Gott bejaht wird, gewinnt er Ewigkeitsgehalt. Darum liebt der echte Katholik den irdischen Wert, aber nicht wie der hungrige Sklave, der sich daran zu Tode ißt, sondern wie der fahrende Sänger, dem die Gabe ein fröhliches Danklied gegen den Geber entlockt. Darum kann da, wo der Katholizismus lebendig ist, die Giftblüte des Materialismus nicht aufbrechen.
Auch grundsätzlicher Weltdienst, der Frondienst an der Arbeit um der Arbeit willen, am Gewinn um des Gewinnes willen ist dem katholischen Wesen fremd. Der Kapitalismus hat nach Max Weber und Tröltsch seine Heimat im Calvinismus, im puritanischen England und Schottland. Jeder Kulturpsychologe, der vorurteilslos die Äußerungen der Volksseele etwa im katholischen Bayern oder im katholischen Rheinland mit den Lebensäußerungen z.B. der Sachsen und Thüringer vergleicht, wird bestätigen, daß hier ein bedeutsamer Unterschied in der ganzen Lebensstimmung obwaltet. Dem Katholiken ist das irdische Dasein zu klein, als daß er es allzu ernst nehmen möchte. Ernst nimmt er nur Gott und Sein Reich. Darum hat er sich eine gewisse heitere, sorglose Kindlichkeit bewahrt. Aus dieser Kindlichkeit wächst nicht zuletzt sein Sinn und sein Verständnis für heitere, zweckfreie Kunst, zumal für die Volkskunst. Mit dieser Kindlichkeit verbindet sich die Ehrfurcht vor dem Heiligen und Erhabenen, die Demut des Geistes. Nichts liegt dem Katholiken ferner als das Pochen auf eigengesetzliche Selbstherrlichkeit. Kants autonome Moral konnte auch nach dieser Rücksicht nur auf protestantischem Boden erstehen. Der katholische Mensch ist darum nicht blasiert. Er kann noch staunen. Und darum kann er noch glauben und beten. Fröhliches Gottvertrauen, Kindlichkeit, Schlichtheit, Demut, das macht das katholische Wesen aus. Es ist unnötig, nachzuweisen, wie sehr dieses der Himmelreichsgesinnung entspricht, die Jesus fordert.
Die zweite Bestimmtheit des katholischen Ethos, die aus der kirchlichen Jenseitspredigt, aus der kraftvollen Betonung des übernatürlichen Zielgutes erwächst, ist der Zug zur Aszese. Die Einstellung des Katholiken auf das Übernatürliche und die damit gegebene Überzeugung, daß dem Irdischen nur ein bedingter Wert zukomme, führt zur Lebenshaltung des "tantum quantum", der Ignatius von Loyola in seinem Exerzitienbüchlein den straffsten klassischen Ausdruck gegeben hat: Nur soweit soll ich das Irdische gebrauchen, als es mir zur Erreichung meines letzten, höchsten Zieles förderlich ist; und soweit muß ich ihm entsagen, als es mich von Gott abzieht und Selbstzweck wird. Da, wo es Selbstzweck zu werden droht, gilt das Heilandswort: "Wenn dein Auge dich ärgert, reiße es aus!" "Wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und Mir nicht nachfolgt, ist Meiner nicht wert." So tritt die Forderung des Entsagens und Ertragens in das Leben des Katholiken. Aber nicht als führende, sondern als dienende Macht. Führende Macht ist die Liebe allein, die Liebe zu Gott und dem Nächsten. Denn das ist das neue Leben: "Liebe Gott aus deinem ganzen Herzen, den Nächsten wie dich selbst!" Die Entsagung und die Aszese, d.h. die methodische Übung der Entsagung, soll mich für diese Liebe frei machen. Sie soll die sinnlichen Triebe und Leidenschaften des Menschen nicht vernichten, wohl aber meistern, daß sie nicht gleich ungebändigten Naturgewalten wild über die Ufer schäumen und blühendes Leben vernichten, sondern daß sie konzentrisch auf das eine große Ziel hingeleitet werden, auf die Herausgestaltung des neuen Menschen der großen, selbstlosen Liebe. Die Liebe und die Liebe allein ist das Ziel der Aszese. Wo die Aszese Selbstzweck wird, wo man entsagt um der Entsagung willen, wo das Fasten und Kasteien und der Verzicht auf die Ehe um seiner selbst willen, nicht zur Herausformung des neuen, abgeklärten Menschen der Liebe gepflegt wird, wo man eine Art aszetischen Sports treibt, da ist die Aszese nicht katholisch, sondern gnostisch und heidnisch. Die Pflege der Aszese, die bewußte methodische Übung der Selbstbeherrschung, macht unsere Seele frei und stark, daß sie das übt und wirkt, was Paulus von ihr fordert, eine Liebe "aus reinem Herzen und aus einem guten Gewissen und aus ungeheucheltem Glauben" (1. Tim. 1, 5). Sie ist für den leibgebundenen, mit den Folgen der Ursünde und mit den Leidenschaften seiner Vorfahren erblich belasteten Menschen eine unumgängliche Notwendigkeit, um Gottes Wort nicht bloß zu hören, sondern auch zu tun. Sie ist ein Grundstück der Botschaft Jesu und darum ein Hauptstück der kirchlichen Erziehungsarbeit.
Alle Kirchengebote, zumal das Fastengebot, zielen auf die Willensschulung des Gläubigen. In Unterricht und Predigt, besonders aber in der Beichte, versucht die kirchliche Seelenführung in streng geregeltem Gang die wilden Schößlinge und Triebe in den Seelen ihrer Gläubigen zu entfernen, um darin Christi Bild mehr und mehr auszuprägen. Zu diesen ordentlichen Mitteln der Seelsorge treten die außerordentlichen, in erster Linie die Volksmissionen und Exerzitien. Wieviel Segen, wieviel erzieherische Kraft ist schon von den unzähligen Volksmissionen ausgegangen, welche die Franziskaner und Kapuziner, die Jesuiten und Redemptoristen in Stadt und Dorf und für alle Gesellschaftsschichten abgehalten haben! Ein Gesundbrunnen sind sie nicht bloß für das religiöse und sittliche, sondern auch für das vaterländische Leben unseres gequälten Volkes. Und die Exerzitien, d.h. jene religiösen Übungen, in denen man in der Einsamkeit eines Exerzitienhauses unter Leitung eines bewährten Seelenführers sein inneres Leben ordnet und Gott zur Herrschaft bringt, sind eine Hochschule der Seelenkultur, ein immer neu sprudelndes Stahlbad, um seelisch gesund und stark zu werden und sich selbst in Gott wiederzufinden. Mit Bezug auf die geistlichen Übungen des hl. Ignatius von Loyola bemerkte der als Schriftsteller wie als Chirurg gleichmäßig bekannte Karl Ludwig Schleich (3): "Ich spreche es ruhig aus, weil es meine tiefste Überzeugung ist: mit diesen Rezepten und Exerzitien an der Hand könnte man noch heute unsere gesamten Irrenhäuser reformieren und bei zum mindesten zwei Drittel verhüten, daß die dort Verurteilten je die Schwelle der vergitterten Häuser zu überschreiten brauchten."
Aus dem Grundgedanken der Aszese, der methodischen Willenspflege, ist der Zölibat und das Kloster zu verstehen. Wenn der katholische Priester seiner Kirche das Versprechen ablegt, sich lebenslänglich der Ehe zu enthalten, und wenn das Mitglied eines Ordens sich durch ein feierliches Gelübde zur Beobachtung der "evangelischen Räte", d.h. der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams verpflichtet, so ist es weder dem Priester noch dem Ordensmann um freiwilligen Verzicht als solchen zu tun, als ob schon im bloßen Verzicht ein sittlicher Wert beschlossen läge. Zu aufrichtig und zu unbedingt schätzen sie das sittliche Gut der Ehe ein. Sie ist ihnen etwas Heiliges, Großes, ein Sakrament, unauflösbar, verankert in der treuen Liebe Jesu zu Seiner Kirche. Gerade der katholische Priester, der die sakramentale Würde der Ehe als kirchlichen Glaubenssatz bekennt und predigt, sollte vor dem Verdacht bewahrt bleiben, daß er die Ehe mißachte. Warum verzichtet er aber dennoch auf sie? Und warum verzichten die Ordensleute darüber hinaus auf Geld und Reichtum und auf das hohe Gut, ihr eigener Herr und König zu sein? Der hl. Thomas (4) gibt den entscheidenden Grund an. Es ist das "Freiwerden" für göttliche Dinge. Und lange vor ihm sprach dasselbe der hl.Paulus aus: "Der Ehelose ist um das besorgt, was des Herrn ist, er möchte dem Herrn gefallen. Der Verheiratete ist um das besorgt, was der Welt ist. Er möchte seiner Frau gefallen" (1. Kor. 7.32, 33).
Der katholische Priester und Ordensmann lebt berufsmäßig den göttlichen Dingen. Die Aufrichtung und Ausbreitung des Gottesreiches nicht bloß in sich, sondern auch in andern, in der Welt ist seine Aufgabe. Diese Aufgabe ist derart erhaben, heilig und zart und derart schwer, verantwortungsvoll und opferreich, daß sie das Beste des menschlichen Wesens aufruft und einspannt und dem Familienleben entzieht. Man kann nicht gut Apostel und Familienvater zugleich sein. Jesus selbst war ehelos und sprach das merkwürdige Wort von den freiwillig Verschnittenen. Und die Apostel verließen alles und folgten Jesus nach. Waren sie auch mit Ausnahme des hl. Johannes und des hl. Paulus verheiratet, als sie der Herr berief, so lebten sie doch nach Übernahme ihres Apostolats nicht mehr wie Verheiratete, sondern als Diener Christi, als solche, die, wie Paulus sich ausdrückt, "sich allen gegenüber frei gemacht hatten, um allen Sklave zu sein" (1. Kor. 9, 19).
Der Zölibat nimmt also seinen Sinn, seine Kraft und seinen Ernst aus dem Apostolat, aus der entschlossenen Hingabe an Christus und Sein Reich. Die Liebe und Sorge, die der Verheiratete dem engen Kreis seiner Familie widmet, schenkt der Priester und Mönch seinem Herrn und Meister und den Tausenden von Seelen, die ihm der Herr anvertraut, den Kranken, Kindern und Sündern. So entfaltet sich sein Wesen immer tiefer und reicher, je mehr er sich anderen schenkt und opfert. Was er durch seinen Verzicht auf das Familienleben an seelischen Werten einbüßt, strömt ihm aus seinem Gebetsleben mit Gott und aus seiner seelsorgerlichen Liebestätigkeit in reicher Fülle wieder zu. Die Kirche umgibt das Leben des Priesters derart mit Sicherungen und erfüllt es durch die Auflage des täglichen Breviergebets und der oftmaligen Feier der heiligen Messe derart mit heiligen Inhalten, daß der pflichttreue Priester - Mietlinge wird es immer wieder geben - nicht anders denn ein Vorbild für die Herde werden kann. In seiner Persönlichkeit gewinnt die Botschaft vom Reiche Gottes, vom Übernatürlichen und Jenseitigen, von der kostbaren Perle, für die man alles hingeben muß, anschauliche, auferweckende Gestalt. Der katholische Gläubige hört von seinem Priester nicht bloß fromme, gut gemeinte Worte und liebt in ihm nicht bloß die edle Gesittung. Er sucht und findet in ihm auch den heiligen Trotz des Evangeliums vom Himmelreich, das rücksichtslose Ernstmachen mit dem Wort: "Das Himmelreich leidet Gewalt." Darum die Ehrfurcht, die das katholische Volk seinen Priestern zollt. "Luther" - so bemerkt F. Nietzsche (5) - "gab dem Priester den Geschlechtsverkehr mit dem Weib zurück. Aber drei Viertel der Ehrfurcht, deren das Volk ... fähig ist, ruht auf dem Glauben, daß ein Ausnahmemensch in diesem Punkt auch in anderen Punkten eine Ausnahme sein werde." Und Schopenhauer (6) geht so weit, zu sagen: "Der Protestantismus hat, indem er die Aszese und deren Zentralpunkt, die Verdienstlichkeit des Zölibates, eliminierte, eigentlich schon den innersten Kern des Christentums aufgegeben und ist insofern als ein Abfall von demselben anzusehen."
Was vom katholischen Priestertum im allgemeinen gilt, gilt vom katholischen Mönchtum im besonderen. Es ist das rücksichtslose Ernstmachen mit der Botschaft Jesu von der einen Perle und dem einen Schatz im Acker und im besonderen mit Seinem Wort: "Wenn du vollkommen sein willst, so gehe hin und verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen. Dann komm und folge Mir nach!" Die ganze himmelstürmende Gewalt, die aufpeitschende Kraft, die ungeheure Herbheit der Predigt Jesu ist im Ordensleben anschaulich gemacht. Das ist nicht eine neue Sittlichkeit, ein neues Vollkommenheitsideal, ein anderes, als es die gewöhnlichen Christen haben. Auch der Ordensmann weiß nichts Höheres, als Christi Bild, das Bild vollendeter Gottes- und Nächstenliebe, in sich nachzuformen. Es ist dasselbe Vollkommenheitsideal, das allen Menschen gesteckt ist. Aber dieses eine Ideal kann auf unendlich mannigfache Weise angestrebt werden, je nach der Bildung und Berufsschicht, der jemand angehört, je nach seinen persönlichen Anlagen und Kräften und je nach den besonderen Schicksalen und Führungen, die er erfährt. Von all diesen Weisen der Nachfolge Jesu ist in objektivem Betracht die hochsinnigste und tapferste der entschlossene Verzicht auf all jene Werte und Güter, die das Sinnliche im Menschen locken und seine Freiheit für das Göttliche hemmen können. Insofern ist der Ordensberuf der objektiv beste, sicherste Weg, um das christliche Ideal zu verwirklichen. Damit ist aber durchaus nicht gesagt, daß er auch der subjektiv beste Weg, der Weg für alle sei. Zu verschieden ist die Eigenart der Menschen, zu mannigfach sind die äußeren Verhältnisse, als daß der eine Weg für alle gleich gut und brauchbar wäre. Nach den weisen Plänen der göttlichen Vorsehung ist die große Mehrheit der Gläubigen so geschaffen, daß für sie das Leben und Wirken in einem weltlichen Beruf der subjektiv beste Weg zur Vollkommenheit sein wird. Aber es bleibt dabei: Rein für sich allein, in seiner Wesenheit gesehen - ohne Rücksicht also auf den lebendigen Menschen und die Besonderheit seiner Berufung - ist der Ordensstand der kraftvollste und reinste Ausdruck des den Leib Christi durchpulsenden Höhenstrebens.
Jedoch ist er nur ein Weg zur Vollkommenheit, nicht die Vollkommenheit selbst. Die evangelischen Räte sind, wie der hl. Thomas erklärt (S. th. p. 2, 2 q, 184 a. 3 ad 1), bestimmte Behelfe, um zur Vollkommenheit zu gelangen. Sie sind nur besonders geeignete Mittel, jene selbstlose heilige Liebe, welche St. Paulus im 1. Korintherbrief 13 beschreibt, und die das Wesen der Heiligkeit, der christlichen Persönlichkeit ausmacht, zu erhalten und zu vertiefen. Wo diese Liebe nicht erblühen würde, da wäre der Ordensstand um seinen tiefsten Sinn gebracht. Das Wort des hl. Paulus erfüllte sich an ihm: "Wenn ich alle meine Gabe den Armen zur Speisung austeilte, hätte aber die Liebe nicht, so nützte es mir nichts" (1. Kor. 13,3). Die Klöster sind ihrer Idee nach Liebesherde, Feuerbrände des Heiligen Geistes, Hochschulen der Nachfolge Christi. Alle ihre Aszese, ihre Gelübde und ihre Regeln zielen nur auf das eine Notwendige, den Menschen der neuen Liebe aufzubauen, den Menschen, der ganz Gottes- und Nächstenliebe ist.
Damit haben wir auch schon das Ideal beschrieben, das die heilige Kirche in ihrer erzieherischen Tätigkeit anstrebt. Es ist der Mensch der vollkommenen Liebe, der Mensch, der alle Selbstsucht von sich getan, und der sein enges, kleines Herz zu einem heiligen Gottestempel ausweitet, in dem die Opferflammen brennen, der Mensch, in dem Pauli Wort tagtäglich Gestalt gewinnt: "Überaus gerne will ich Opfer bringen, ja, mich selbst will ich opfern für eure Seelen" (2. Kor. 12, 15). Es wäre eine Lust, die Edelfrüchte des kirchlichen Erziehungswerkes an all den Heiligen zu beschreiben, die aus dem Schoße der Kirche hervorgegangen sind. Wie überaus verschieden sind die Wege, auf denen sie Christus nachfolgten, und wie mannigfach die Heiligengestalten! Neben dem heiligen Einsiedler und dem Aszeten der Wüste steht der soziale Heilige, der Heilige der Großstädte und Fabrikviertel. Neben dem Heidenmissionar der heilige Anwalt der Krüppel und Blöden und der Galeerensträflinge. Neben dem Heiligen im Bußhemd und rauhen Gürtel der Heilige des Salons, der vornehme heilige Weltmann. Neben dem Heiligen der strengen Klausur und des steten Stillschweigens der heilige Bruder Lustig, der die Schwalbe seine Schwester und den Mond seinen Bruder nennt. Neben dem Heiligen der Gottesgelehrtheit der Heilige, der alle Wissenschaft, die nicht Christus ist, verachtet. Neben dem in sich gekehrten Mystiker der welterobernde Apostel. Neben dem Heiligen, der in Schmutz und Unrat Buße tut und nichts Köstlicheres weiß als die Schmach, der Heilige in kaiserlichem Purpur und im Glanz der Tiara. Neben dem Heiligen, der für seinen Glauben kämpft und tötet, der Heilige, der für seinen Glauben duldet und stirbt. Neben dem Unschuldigen der Büßer. Neben dem Kindergemüt der Heilige, der mit Gott ringen muß, bis daß Er ihn segnet.
Wie unendlich verschieden sind alle diese Heiligengestalten! An jeder ist Zeitgeschichtliches und zuweilen Absonderliches. Und zu nicht wenigen können wir Heutige keine rechte innere Fühlung mehr gewinnen. Nur einer ist immer modern, immer von heute, nur einer gehört allen Zeiten an, der Gottmensch Jesus Christus. Aber so zeitgeschichtlich bedingt diese und jene Heiligenbilder sein und so weit sie von Christus abstehen mögen, es ist doch nur ein Geist, der sie alle durchdringt, und der sie uns alle teuer macht, der Geist Jesu, der Geist Seiner großen, heiligen Liebe. Sie alle lebten aus dem Wort: Die Liebe Christi treibt mich.
Und um alle diese außerordentlichen Heiligengestalten, in denen Gott das lieblichste Spiel Seiner Allmacht und Gnade gespielt hat, strahlen die vielen tausend kleinen und allerkleinsten Lichter auf, die sich am Herzen Jesu entzündet haben - vom Wiegenkind an, das in den Vaterarmen Gottes stirbt, bis zum Greis, der sich auf leckem Boot aus wilden Lebensstürmen flüchtet und reuig fleht: Herr, sei mir armem Sünder gnädig!
O Welt! ein Meer von Liebe und Licht ist über dich ausgegossen!
O Welt, so arm und so kalt, wie bist du so reich, wie bist du so schön, o du heilige Kirche!
***
Anmerkungen:
1: B. Poschmann, Grundlagen und Geisteshaltung der katholischen Frömmigkeit. 1925. S. 94. Stimmen der Zeit, 104, 1922, S. 100. In seinen eindringenden Auseinandersetzungen mit Prof. A. Messer über „Katholisches Autoritätswesen und moderne Denkfreiheit" (Katholisches und modernes Denken, 1924) macht M. Pribilla darauf aufmerksam (Stimmen der Zeit, 105, 1923, S. 265, Anm. 1), daß der angesehene und heiliggesprochene Kontroverstheologe Kardinal Bellarmin „geradezu feierlich" die sittliche Autonomie des Gläubigen hervorgehoben habe. Cum dicimus, conscientiam esse superiorem omnibus humanis judiciis, nihil aliud dicere volumus, quam eum, qui sibi bene conscius est, non debere metuere, ne a Deo damnetur, etiamsi omnes homines, qui cor non vident, secus forte de eius rebus gestis judicent (De Rom. Pont. I. 4 c. 20). 2: E. Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen, 1924, S. 35. Zum Ganzen s. G. Feuerer, Ordnung zum Ewigen, 1934. 3: K. Schleich, Vom Schaltwerk der Gedanken, 1917, S. 143 ff. 4: Summ. theol. p. 2. 2 q. 152 a. 5. 5: F. Nietzsche. Fröhliche Wissenschaft, 1887, S. 295. 6: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. hrsg. von E. Griesebach, 2. Bd., S. 736. Die Idee des katholischen Priestertums beleuchtet neuerdings E. Krebs (Der Knechtsdienst des katholischen Priesters, 1921). |