Von der Macht des Gebets
Aus: „Russische Mystik“ übertragen von Reinhold W. Walter Patmos Verlag, Düsseldorf 1957, S. 157 ff.
Einführung
Der vorliegende Band ist eine Anthologie mystischer Texte ostslawischer Provenienz. Die Abhandlung über das Gebet ist dem „Pilgerleben“ entnommen und gibt die geistliche Lehre der Starzen wieder wie sie in der Philokalia vorgestellt wird. Dieser „zweite Teil des Pilgerberichtes enthält wiederum Worte und Gedanken der Philokalia. Hier werden aber vor allem die grundsätzlichen Fragen um das Gebet gesprächsweise erörtert. Das Gebet ist der Atem der Frömmigkeit, Grundlage aller Vollkommenheit, Schutz gegen Versuchungen und seelische Gefahren. Das Gebet selber ist eine göttliche Macht. Es stammt aus der Begegnung mit Gott. Nicht nur sucht es diese Begegnung, sondern ist auch ihre Frucht. Das Gebet kann aber nicht errungen werden. Mit ihm aber kann man alles. Das alles aber ist Gnade und gnadegetragen. Wir müssen uns dies vor Augen halten, damit wir nicht manche Äußerungen semipelagianisch mißverstehen. (Die Semipelagianer meinten, man könne zwar ohne die Gnade Gottes nichts Heilswichtiges tun, aber man müsse sich durch Gebet und Flehen, also durch eigene Bemühung, auf sie hinbewegen.) Die östlichen Denker lösen das Gebet niemals von Christus, dem großen Beter, los. Sie kennen kein isoliertes Gebet. Ebenso wie sie keine von der Gnade isolierte "menschliche Natur" an sich kennen.
Gebet aber ist nicht nur Bitte. In erster Linie ist es Anbetung und Dank - ja es ist Jubel und Seligkeit im Heiligen Geiste. Weil hier das Gebet von seiner mystischen Höhe aus gesehen wird, ist vielleicht ein leiser messalianischer Einschlag in der Form spürbar. In der Sache stehen die Gespräche dieser orientalischen Irrlehre fern. Die messalianische Geistigkeit ist nicht leicht zu umschreiben. Wir müssen da vom Gnostizismus ausgehen.
Dieser ist im Osten nur mit großer Schwierigkeit überwunden worden. Der gnostische Geist glaubte an seine naturhafte Gottentstammtheit. Dem Gnostiker ist die Gottförmigkeit urtümlich - sie ist ihm von Natur eingeboren. So lehnte die Gnosis also die Gnadenhaftigheit der Erlösung und der Teilnahme an der göttlichen Natur ab. Diese häretische Form wurde von der Kirche ausgeschieden; aber das Gift wucherte weiter und durchpulste in versteckter Form mannigfache geistige Haltungen und Ideen. Manche fromme Kreise (Messalianer, Euchiten) glaubten so, daß nur der ein Christ sei, der die Freude, Wonne und Glut des Gebetes erfahren habe. Ohne Erlebnis gibt es keine Gnade. Im Gebete erfährt man die Wonnen der Begnadung - wer sie nicht erlebt, ist kein voller Christ. Wie gefährlich diese Irrlehre war, braucht nicht näher angeführt zu werden. Hätte sie gesiegt, dann wäre das mystische Leben aus dem objektiven Raum der Gnade und der Sakramente herausgerissen worden, wäre in der unkontrollierbaren Innerlichkeit der Charismatiker untergetaucht. Damit aber wäre das Heil der Vielen in Frage gestellt worden.
Wenn in unseren Texten ein leiser Hauch dieser Geistigkeit spürbar ist, dann nicht aus grundsätzlicher Einstellung, sondern weil naturgemäß der Mystiker, dem seine Erfahrung bekannt ist, diese auch gern bei anderen voraussetzt. Es drängt ihn ja, daß alle ihrer teilhaftig werden.“
Julius Tyciak
***
Der Eremit: "Das Gebet ist so stark, so mächtig, daß du beten und tun kannst, was du willst, und das Gebet wird dich zum rechten und wahrhaften Wirken hinführen.
Um Gott wohlzugefallen, bedarf es nur der Liebe. Habe nur Liebe und tue, was du willst, sagt der hl. Augustinus - denn wer wahrhaft liebt, der kann es nicht einmal wollen, dem Geliebten etwas anzutun, was ihm nicht angenehm wäre. Da das Gebet Liebeserguß und Wirkung der Liebe ist, so kann man von ihm tatsächlich ähnliches sagen: Für die Errettung der Seele bedarf es nur des immerwährenden Gebets: Bete und tue, was du willst, und du wirst das Ziel des Gebets erreichen; du wirst durch es geheiligt werden!
Um die Vorstellung von diesem Gegenstand deutlicher zu machen, greifen wir zu Beispielen:
1. Bete und denke alles, was du nur willst, und dein Denken wird durchs Gebet geläutert werden. Das Gebet wird deinen Geist erleuchten; es wird alle abwegigen Gedanken vertreiben und dich beruhigen. Der hl. Gregorius, der Sinaite, bestätigt dieses: Willst du arge Gedanken vertreiben und den Geist reinigen, so vertreibe sie durchs Gebet, denn außer durch das Gebet lassen sich die Gedanken nicht zügeln. Auch der hl. Johannes Klimax sagt desgleichen: Besiege durch Jesu Namen die Gedankenfeinde. Du wirst keine andere Waffe finden als diese!
2. Bete und tue, was du willst, und deine Werke werden Gott wohlgefällig sein, dir selber aber nützlich und heilbringend! Häufiges Beten, gleichviel wem es gelte, bleibt nicht ohne Frucht, denn in ihm selber ist eine heilbringende Kraft beschlossen. Heilig ist sein Name, und jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet. So wird beispielsweise einer, der ohne Erfolg in Unehren betet, durch dieses Gebet zur Vernunft gebracht und zur Reue gerufen. Eine Jungfrau betete, und das Gebet wies ihr den Weg zum jungfräulichen Leben und zum Hören und Vernehmen der Lehren Jesu Christi.
3. Bete und glaube nicht, aus eigener Kraft deiner Leidenschaften Herr zu werden. Das Gebet wird sie in dir zunichte machen. Denn mehr ist hiervon in euch als in der Welt, sagt die Heilige Schrift. Der hl. Johannes von Karpaphygios lehrt: Wenn du die Gabe der Enthaltsamkeit nicht hast, so trauere nicht darum; wisse aber, daß Gott von dir Eifer fürs Gebet fordert, und das Gebet wird dich erretten. Auch ein Starez möge als Beispiel dienen, der fallend siegte, d.h. er strauchelte, aber er verzweifelte nicht, sondern hielt sich ans Gebet und überwand die Versuchung.
4. Bete und fürchte nichts; fürchte dich weder vor Unglück noch vor Unheil - das Gebet wird dir zur Abwehr dienen und alles abwenden. Denke an den kleingläubigen Petrus, da er am Ertrinken war, an Paulus, als er im Gefängnis betete, an den Mönch, der durch Gebet einer Versuchung widerstehen konnte; an die Jungfrau, die durch Gebet gerettet wurde, als sie von einem Kriegsknecht arg bedrängt wurde. Hierdurch wird die Kraft, die Macht, das Allumfassende des Gebets im Namen Jesu Christi bestätigt.
5. Bete nur irgendwie, aber immer, und fürchte dich vor nichts! Sei fröhlich im Geiste und ruhig: Das Gebet wird alles machen und dich zur Vernunft bringen. Denke daran, was Johannes Chrysostomos vom Gebet sagt: “Wenn wir, die Sündigen und von Sünden Behafteten, unser Gebet darbringen, so werden wir durch dasselbe alsbald gereinigt." Ein anderes Wort lautet: "Irgendwie zu beten liegt in unserer Macht; aber rein zu beten ist ein Geschenk der Gnade." Also, was in deiner Macht ist, das opfere Gott auf; bringe wenigstens die dir mögliche Anzahl (von Gebeten) dar - ihm als Opfer, und Gottes Kraft wird sich in deine Ohnmacht ergießen; auch ein trockenes und zerstreutes, aber häufiges, immer währendes Gebet wird, wenn es dir erst zur zweiten Natur geworden ist, zu einem reinen, lichten, flammenden und rechten Gebet werden.
6. Wenn du endlich die Zeit deines Wachseins mit Gebet begleitest, so ist es nur natürlich, daß für sündhafte Werke keine Zelt übrig bleibt, ja nicht einmal für Gedanken an solche. Siehst du nun, wie viele tiefe Gedanken in dem weisen Ausspruch beschlossen sind: "Habe nur Liebe und tue, was du willst"? Bete und tue, was du willst! Wie beseligend und tröstend ist doch alles Gesagte für den Sünder, der an seiner Schwachheit leidet, für ihn, der unter der Last der andrängenden Leidenschaften stöhnt!
Das Gebet - es ist alles, was uns als allumfassendes Mittel zur Rettung und zur Vervollkommnung der Seele verbleibt. So ist es! Aber mit dem Wort "Gebet" ist hier auch die Bedingung aufs engste verknüpft: Unablässig beten! Es ist ein Gebot Gottes. Es wird folglich das Gebet dann seine alles bewirkende Kraft zeigen, wenn es oft gesprochen, wenn es unablässig gesprochen wird, denn das häufige Gebet gehört ohne Zweifel unserem von der Gnade bewegten Willen an, wie Reinheit, Eifer und Vollkommenheit des Gebetes Gaben der Gnade sind.
So laßt uns denn möglichst oft beten, laßt uns unser ganzes Leben dem Gebet weihen, wenn es auch im Beginn zerstreut sein sollte! Die Häufigkeit der Übung wird uns Aufmerksamkeit lehren, die Dauer wird ohne Zweifel zur Tiefe führen.
"Wenn wir etwas wirklich gut zu machen lernen wollen, so müssen wir es so häufig als nur möglich tun", hat ein erfahrener geistlicher Autor gesagt.
Der Professor: "Wahrhaftig - das Beten ist eine große Sache! Der Eifer, es häufig auszuüben, ist der Schlüssel, um uns seine gnadenreiche Schätze zu erschließen. Doch wie gar häufig finde ich in mir selber den Kampf zwischen Trägheit und Eifer! Wie wünschenswert wäre es, ein Mittel zu finden und Hilfe, um siegreich zu bestehen und zur Überzeugung durchzudringen, zum Verlangen, zur Erweckung des unablässigen Gebets!"
Der Eremit: "Viele religiöse Schriftsteller nennen verschiedene Mittel, die, auf dem gesunden Menschenverstande basierend, Eifer zum Gebet wecken, wie zu Beispiel:
1. Sie raten, man solle sich in Meditation über die Notwendigkeit, Vortrefflichkeit, Fruchtbarkeit des Gebets zum Heil der Seele vertiefen.
2. Fest davon durchdrungen sein, daß Gott von uns unbedingt das Gebet fordert und daß sein Wort dieses überall verkündet.
3. Immer des eingedenk sein, daß man wegen Trägheit und Nachlässigkeit im Gebet, in der Frömmigkeit nicht fortschreiten kann, auch weder Ruhe noch Rettung der Seele wird finden können; darum wird man unweigerlich dafür zur Rechenschaft gezogen werden sowohl durch Strafen hier auf Erden wie auch durch ewige Qualen im Jenseits.
4. An den Beispielen der Gott wohlgefälligen Menschen soll man seine Entschlossenheit entfachen, jener, die durch unablässiges Gebet Heiligung, Rettung der Seele u. a. erringen konnten. Obwohl nun alle diese Mittel ihren besonderen Wert haben und einem wahren Verständnis entspringen, so wird eine an mangelndem Eifer krankende, wollüstige Seele, wenn sie diese Mittel sich aneignet und auch gebraucht, dennoch nur selten deren Fruchtbarkeit wahrnehmen aus dem einfachen Grunde, weil diese Heilmethoden einem verwöhnten Geschmack bitter vorkommen und für die schwer geschädigte Natur zu schwach sind. Wer von den Christenmenschen wüßte denn nicht, daß man oft und voller Eifer beten muß und daß Gott das verlangt; daß wir für Trägheit im Beten gestraft werden, daß alle Heiligen eifrig und unablässig beteten; dennoch wird all dieses Wissen nur so selten wohltuende Folgen zeitigen! Jeder Beobachter sieht es an sich selber, daß er diese Eingebungen der Vernunft oder des Gewissens entweder zuwenig oder überhaupt nicht durch sein Tun rechtfertigt, und wiewohl er recht häufig sich daran erinnert, beharrt er dennoch in seinem schlechten Leben und in seiner Trägheit ...
Darum auch haben die erfahrenen und gottweisen heiligen Väter, die des Willens Schwachheit und des Menschen Herz sehr wohl kannten, vor allem auf eben dieses Herz eingewirkt und im Hinblick hierauf, gleich Ärzten, die eine bittere Arznei mit süßem Sirup durchsetzen und die Ränder des Arzneiglases mit Honig bestreichen, ein vollkommen leichtes und wirksames Mittel entdeckt, durch welches Trägheit und Laxheit im Gebet bekämpft werden, und dieses besteht in der Hoffnung, mit Gottes Hilfe die Vollkommenheit zu erringen und durchs Gebet in seliger Sehnsucht nach der Liebe zu Gott zu trachten. Sie geben den Rat, so sehr man kann, häufig über diesen Zustand der Seele zu meditieren und aufmerksam zu lesen, was die heiligen Väter hierüber sagen, um uns aufzumuntern, beteuern, daß es leicht hält, die beseligenden inneren Empfindungen im Gebet zu erlangen; und wie so ganz wunderbar dieselben sind als z. B.: Wonne, die das Herz durchdringt, süßeste Wärme und Licht, das nach innen erstrahlt, Jubel, Beschwingtheit, tiefe Ruhe, Wesensseligkeit und Zufriedenheit mit dem Leben, im Herzen durch Einwirkung des Gebets erweckt. Durch Vertiefung in derlei Gedanken wird das schwache und kalte Herz erwärmt, befestigt, aufgemuntert zum Gebet durch den Erfolg und gleichsam hinverlockt zu diesen Erfahrungen der Gebetsübung, wie der hl. Isaak der Syrer hierüber sagt: "Ein Lockmittel für die Seele ist die Freude, die, durch Hoffnung erweckt, im Herzen erblüht; und das Wohlgedeihen des Herzens ist das Sichhineinversenken in die Hoffnung." Und er führt also fort: "Zu Beginn dieses Tuns und bis ans Ende ist irgendeine bestimmte Betweise vorauszusetzen und Hoffnung auf Vollendung... dieses ist es auch, was den Geist dazu treibt, die Grundlegung des Werkes vorzunehmen und im Hinblick auf dieses Ziel Trost im Wirken selber zu suchen." Ähnlich sagt auch der hl. Hesychius bei einer Schilderung der möglichen Hindernisse zum Gebet durch Trägheit, und zur Fortsetzung eben dieser Bemühungen aufmunternd, folgendes: "Alsdann wird man nach nichts anderem begehren als nach der sprachlosen Ruhe des Herzens."
Hieraus folgt aber, daß dieser heilige Vater zur Förderung des Gebetseifers lehrt: "dessen wonnesames Gefühl und Freudigkeit"… Dementsprechend lehrt auch der große Makarios, "wir müßten unser geistliches Bemühen, um zu Früchten und zur Hoffnung auf Frucht, d. h. zur Erquickung unsres Herzens zu gelangen, auch wirklich ausführen".
Ein klares Beispiel dieses Verfahrens als eines mächtigen Mittels ist an vielen Stellen in der "Philokalia" in ausführlichen Schilderungen der Gebetsverzückungen zu finden; der Kämpfende soll dieses so oft wie möglich durch Lesen sich anzueignen suchen und das Laster der Trägheit oder die Trockenheit beim Gebet bekämpfen, indem er sich erst recht Vorwürfe darüber macht, daß er im Gebet keinen genügenden Eifer zeigt."
Der Priester: "Ob ein Unerfahrener durch solche Erwägungen nicht zu geistiger Lüsternheit verführt wird, wie die Theologen jenes Sehnen des Herzens bezeichnen, das nach übergroßen Tröstungen und nach den Wohltaten der Gnade Verlangen trägt, die sich nicht damit begnügen, daß es die frommen Werke tun müsse, um der Pflicht willen, ohne viel an Lohn dabei zu denken?"
Der Professor: "Ich meine, daß die Theologen in diesem Falle vor Maßlosigkeit oder Begehrlichkeit nach geistigen Genüssen warnen, aber die Wonnegefühle und Tröstungen des inneren Lebens ganz vergessen! Denn wollte man auf Belohnung warten, so wäre das keine Vollkommenheit; Gott untersagt es aber dem Menschen nicht, an Lohn oder an Tröstungen zu denken, ja er gebraucht mitunter selber den Gedanken an Belohnung, um den Menschen zur Ausführung der Gebote anzuspornen und zur Erreichung der Vollkommenheit. Willst du vollkommen sein, so gehe hin und verkaufe dein Gut und gib den Armen, das ist die Forderung nach Vollkommenheit. Aber gleich darauf - die Belohnung, die den Anreiz enthält, die Vollkommenheit zu erlangen: Habet euren Schatz im Himmel! (Mt 19, 27.)
"Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen, und wenn sie euch ausschließen, schmähen und euren Namen als böse verwerfen um des Menschensohnes willen" (Lk 6, 22), das ist die große Forderung des Kampfes um Vollkommenheit, für den man ungewöhnlicher Kräfte des Geistes bedarf und unerschütterlicher Geduld. Dafür ist dann der große Lohn vorgesehen und der Trost, die dazu angetan sind, außerordentliche Kraft des Geistes zu entfachen und zu erhalten: "Denn euer Lohn ist groß im Himmel." Darum glaube ich, daß auch ein gewisses Sehnen nach Süßigkeit beim Herzensgebet erforderlich ist, und es bildet auch das eigentliche Hauptverfahren, um ans Ziel zu gelangen... So dürfte denn dieses alles unstreitig die praktische Erwägung des hochwürdigen Eremiten zu diesem Gegenstand, wie wir es eben gehört haben, bestätigen."
Der Eremit: "Am deutlichsten spricht einer der großen Theologen, nämlich der hl. Makarios von Ägypten, hierüber: "Wie man beim Pflanzen der Reben Fleiß und Mühe daran geben muß, um dann Lese zu halten, denn alles wäre vergeblich, wenn keine Trauben kämen, so ist es auch mit dem Gebet, wenn es an Früchten des Geistes, nämlich an Liebe, Friede, Freude und ähnlichem gebräche, denn unsere Mühe wäre dann umsonst! Darum sind auch unsere geistigen Bemühungen vonnöten, um die Frucht zu ernten, d. h. in unseren Herzen die Süßigkeit der Früchte auch zu schmecken." Du siehst also klar, daß dieser heilige Vater die Frage nach der Notwendigkeit des Genusses beim Gebet gelöst hat...
Aber da kommt mir auch noch etwas anderes in den Sinn, was ich jüngst gelesen habe - die Meinung eines frommen Autors darüber, daß die Natürlichkeit des Gebetes für den Menschen der eigentliche Grund ist, um sich in ihn zu ergießen; darum dürfte die Betrachtung dieser Natürlichkeit ebenfalls als ein starkes Mittel zur Entfachung des Eifers im Beten gelten, welche Mittel der Herr Professor scheinbar gern herausfindet. Ich will euch in Kürze wiedergeben, was mir aus diesem Traktätlein gerade einfällt: der fromme Verfasser schreibt beispielsweise, die Vernunft und die Natur führten den Menschen zur Gotteserkenntnis. Erstere geht von der Annahme aus, daß es keine Wirkung ohne Ursache gibt und steigt dementsprechend auf der Leiter der greifbaren Dinge empor - von den niederen hinan zu den höheren, um endlich die Ursache aller Ursachen, nämlich Gott zu finden. Die zweite aber entdeckt auf jedem Schritt eine erstaunliche Weisheit, Harmonie, Ordnung, Stetigkeit und bietet für die Leiter das grundlegende Material zum Aufstieg von den vergänglichen Ursachen zu den ewigen unvergänglichen. Auf diese Weise kommt der natürliche Mensch auf dem natürlichen Wege zur Erkenntnis Gottes. Darum gibt es auch keine Nation, ja nicht einen einzigen wilden Volksstamm ohne Vorstellung von Gott. Infolge dieser Erkenntnis wird selbst der wildeste Insulaner, ohne irgendwelche Nebenabsichten zu haben, gleichsam unwillkürlich den Blick gen Himmel richten, auf seine Knie niederfallen, den Atem aus der Brust ausstoßen, der ihm zwar unbegreiflich, aber notwendig ist, und unmittelbar irgend etwas Besonderes spüren, etwas, was ihn nach oben emporhebt, etwas, was ihn zu einem Unbekannten hinzwingt... Aus diesem Grunde entstehen alle Naturreligionen, wobei sehr beachtlich ist, daß das geheime Gebet das Wesentliche, gewissermaßen die Seele der Religion ist, und dieses heimliche Beten bekundet sich etwa durch allerhand besondere Bewegungen, durch sichtbare Opfer, die mehr oder weniger, dank der heidnischen Vorstellungen, durch vielfache Verzerrungen entstellt sind. So wunderbar diese Erscheinung in den Augen der Vernunft ist, so verlangt sie doch je mehr und mehr danach, die geheime Ursache dieser Erscheinung zu entschleiern, nämlich das natürliche Streben nach dem Gebet, um zu Gott hinzufinden.
Die psychologische Antwort hierauf hält nicht schwer: die Wurzel, das Haupt und die Kraft aller Leidenschaften und Handlungen des Menschen ist eingeborene Selbstliebe. Das wird bestätigt durch die eingefleischte, allgemeine Idee der Selbsterhaltung. Jeder Wunsch, jedes Unternehmen, jedes Tun des Menschen hat im letzten Befriedigung der Selbstliebe zum Zweck, oder wie man auch sagen kann, das Trachten nach dem eigenen Besten. Die Befriedigung dieses Bedürfnisses begleitet den natürlichen Menschen durch sein ganzes Leben. Aber der Geist des Menschen läßt sich durch nichts Sinnliches befriedigen, und die eingeborene Eigenliebe verstummt niemals in seinem Streben; darum übersteigern sich seine Wünsche je mehr und mehr, das Streben nach dem Guten wächst, erfüllt seine Phantasie und stellt die Gefühle darauf ein. Das Entströmen dieses inneren Empfindens und Wünschens, so wie es sich von selber erschließt, ist der natürliche Drang zum Gebet, ist das Bedürfnis der Eigenliebe, die nur mit Mühe ihr Ziel erreicht. Je weniger der Mensch vorankommt und je mehr er sein Heil im Auge hat, desto mehr wünscht er, desto stärker läßt er sein Verlangen im Gebet entströmen. Er naht mit der Bitte nach dem Ersehnten der unbekannten Ursache alles Seins. So ist denn die dem Menschen eingeborene Eigenliebe des Lebens Hauptelement, das ursächliche Prinzip, das den natürlichen Menschen zum Beten bestimmt!
Der weise Weltenschöpfer hat in die Natur des Menschen die Fähigkeit der Selbstliebe gleichsam als ein Lockmittel hereingegeben - so wird das von den Vätern ausgedrückt. Dieses Lockmittel ist aber dazu bestimmt, das gefallene Menschenwesen wieder aufzurichten und emporzuführen.
Oh, wenn doch der Mensch diese Fähigkeit in sich nicht verdürbe und sie im Hinblick auf seine Geistnatur besonders rein erhielte! Alsdann hätte er eine starke Aufmunterung in ihm selber und ein Mittel, um zur sittlichen Vollkommenheit zu gelangen. Aber wehe! Wie oft macht er diese edle Fähigkeit zu einer niedrigen Leidenschaft der Selbstliebe, wenn er aus ihr ein Werkzeug seiner tierischen Natur macht!
Ich danke euch, ihr lieben Besucher, von ganzem Herzen! Diese das Seelenheil fördernde Unterredung hat mich hoch beglückt und hat mir, dem so wenig Erfahrenen, viel Lehrreiches geboten. Möge Gott mit seiner Gnade eure erbauliche Liebe reich vergelten."
Alle nahmen Abschied voneinander.
|