Die Kirche als Lehrerin und Erzieherin Die Tradition Die Kirche als Richterin in Glaubenssachen
von Johann Adam Möhler 1)
(aus: "Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften", 1832)
Die Hauptfrage, die nun zu beantworten ist, lautet also: wie gelangt der Mensch zum Besitz der wahren Lehre Christi, oder um uns umfassender und richtiger zugleich aus-zudrücken: wie gelangt der Mensch zur ungetrübten Kenntnis der uns in Christo Jesu angebotenen Heilsanstalt? Der Protestant sagt, durch die Forschung in der heiligen Schrift, die untrüglich ist; der Katholik dagegen, durch die Kirche, in welcher der Mensch zum Verständnis der heiligen Schrift selbst erst gelangt. In näherer Darlegung seiner Anschauungsweise fährt der Katholik fort: Unstreitig enthält die heilige Schrift göttliche Mitteilungen und darum die lautere Wahrheit; ob alle Wahrheiten, die uns in religiös-kirchlicher Beziehung entweder zu wissen notwendig oder doch sehr nützlich sind, kommt hier noch nicht in Betracht. Also die heilige Schrift ist Gottes untrügliches Wort; inwiefern aber ihr das Prädikat der Irrtumslosigkeit zukommt, sind wir noch nicht irrtumsfrei; vielmehr sind wir dies erst, wenn wir das an sich untrügliche Wort truglos in uns aufgenommen haben. Bei dieser Aufnahme ist menschliche Tätigkeit schlechthin notwendig, die irren kann; auf daß nun bei dem Übergange des Göttlichen der heiligen Schrift in unsern menschlichen Besitz keine schwere Täuschung, oder vielleicht gar eine gänzliche Entstellung stattfinde, wird gelehrt: der göttliche Geist, welchem die Leitung und Belebung der Kirche anvertraut ist, wird in seiner Vereinigung mit dem menschlichen ein eigentümlich christlicher Takt, ein tiefes, sicher führendes Gefühl, das, wie es in der Wahrheit steht, auch aller Wahrheit entgegenleitet. Durch vertrauensvolles Anschließen an das fortwährende Apostolat, durch die Erziehung in der Kirche, durch das Hören, Lernen und Leben in ihr, durch die Aufnahme des sie ewig befruchtenden höheren Prinzips wird ein tief innerlicher Sinn gebildet, der zum Vernehmen und Aufnehmen des geschriebenen Wortes einzig geeignet ist, weil er mit jenem, in dem die heiligen Schriften selbst verfaßt wurden, zusammenfällt: wird mit solchem in der Kirche gewonnenen Sinne das heilige Buch gelesen, so geht es in seinem wesentlichen Gesamtinhalte auf die Leser ungetrübt über. Ja, wenn der Unterricht durch das Apostolat, und die kirchliche Bildung in der beschriebenen Weise bei einem Individuum stattfindet, bedarf es nicht einmal schlechthin der hl. Schrift, um ihren Gesamtinhalt in sich aufzunehmen.
Dies ist der gewöhnliche und ordentliche Weg. Aber an Mißverständnissen und Verirrungen, mehr oder weniger verschuldet, wird es immer noch nicht fehlen, und wie in den Zeiten der Apostel schon aus dem Worte Gottes gegen das Wort Gottes gekämpft wurde, so erneuerte sich dieser Fall zu allen Zeiten. Wie ist nun unter solchen Umständen zu verfahren? Wie das göttliche Wort gegen bestehende irrige Auffassungen zu sichern? Das Gesamtverständnis entscheidet gegen das des Einzelnen, das Urteil der Kirche gegen das des Individuums: die Kirche erklärt die heilige Schrift. Die Kirche ist der Leib des Herrn, sie ist in ihrer Gesamtheit seine sichtbare Gestalt, seine bleibende, ewig sich verjüngende Menschheit, seine ewige Offenbarung; im Ganzen ruht er ganz, dem Ganzen sind alle seine Verheißungen, alle seine Gaben hinterlassen, keinem Individuum für sich allein, nach den Zeiten der Apostel. Dies Gesamtverständnis, dies kirchliche Bewußtsein ist die Tradition im subjektiven Sinne des Wortes. Was ist also Tradition? Der eigentümliche in der Kirche vorhandene und durch die kirchliche Erziehung sich fortpflanzende christliche Sinn, der jedoch nicht ohne seinen Inhalt zu denken ist, der sich vielmehr an seinem und durch seinen Inhalt gebildet hat, so daß er ein erfüllter Sinn zu nennen ist. Die Tradition ist das fortwährend in den Herzen der Gläubigen lebende Wort. Diesem Sinne als Gesamtsinne ist die Auslegung der heiligen Schrift anvertraut; die durch denselben ausgesprochene Erklärung in dem bestrittenen Gegenstande ist das Urteil der Kirche, und die Kirche darum Richterin in den Angelegenheiten des Glaubens (judex controversiarum). Die Tradition im objektiven Sinne ist der in äußerlichen historischen Zeugnissen vorliegende Gesamtglaube der Kirche durch alle Jahrhunderte hindurch: in diesem Sinne wird gewöhnlich die Tradition die Norm, die Richtschnur der Schrifterklärung, die Glaubensregel genannt. (...)
Anmerkung: 1) Am 6. Mai 1796 wurde Möhler in Igersheim bei Mergentheim geboren, studierte ab 1813 in Ellwangen, ab 1817 in Tübingen Philosophie und Theologie. Am 18. September 1819 wurde er zum Priester geweiht. Ab 1823 gab er in Tübingen Vorlesungen in Kirchengeschichte. 1835 wurde er nach München berufen, wo er am 12. April 1838 starb. (Text aus: http://www.johann-adam-möhler.de/index.html) |