Die Bedeutung der Kunst im religiösen Bereich
von Eberhard Heller
Es werden sich etliche Leser gefragt haben, warum ich in meiner Abhandlung "Die Irrtümer des II. Vatikanums und ihre Überwindung" unter Punkt 5 die "Darstellung der religiösen Inhalte und Ideen in den verschiedenen Sparten der Kunst" zu den Bedingungen gezählt habe, die zur Restitution der Kirche führen sollen, wo doch die aufgeführten Maßnahmen nur die wichtigsten sein sollten. Warum kann man der künstlerischen Darstellung des Religiösen solches Gewicht beimessen?
Dazu kann ich sagen, daß das Christentum von Beginn an versucht hat - neben der Verkündigung des Evangeliums - die Glaubensaussagen auch in künstlerischen Formen - d.i. in Bildern und Figuren, Musik, Dichtung, Architektur - darzustellen, ihnen Ausdruck zu verleihen.
Warum? Um Gott zu verherrlichen und um diese religiösen Ideen darzustellen, sie frei zu vermitteln im interpersonalen Bereich: die Kirchenbauten, ihre innere Ausstattung durch Bilder und Figuren und die Liturgie, die in ihnen gefeiert wurde, sie waren in die Intention einer freien künstlerischen Gestaltung eingebunden. Selbst in den Zeiten der Verfolgung, im Untergrund spielte die Kunst eine wichtige Rolle, man denke nur an die Katakomben-Malerei oder an die alten Kirchenbauten in Saloniki oder an das Kloster Hosios Lukas in Böotien in Griechenland aus dem 11. Jahrhundert mit den wunderschönen Mosaiken.
Die Liturgie bediente sich der Musik als eigenständiger Kunstform. Zunächst geschah das über die menschliche Stimme, um Gottes Lob zu verkünden; man spricht auch vom himmlischen Gesang, der bereits früh ausgestaltet wurde. Ich denke da an die Gregorianik, an die "heiligen und göttlichen Liturgien" des hl. Basilius (+ 379) und des hl. Johannes Chrysostomos (+ 407), die nicht nur der Orthodoxie, sondern auch der katholischen Kirche angehören, auch wenn sie heute in der Ostkirche gefeiert werden. Die Musik übte z.B. auf die Indianer in Paraguay eine solche Faszination aus, daß sie das Christentum deswegen annahmen, weil sie in der Musik Gott sprechen hörten. Die Liturgie war für die Russen unter der kommunistischen Herrschaft die Quelle des Glaubens, wodurch die Religion bei ihnen überlebt hat, denn Religionsunterricht - die vornehmste Art der Glaubensvermittlung - war verboten.
Ich mache einmal einen gewaltigen Sprung aus der Frühzeit der Kirche in unsere heutige Zeit. Was wäre die Adventszeit in Bayern ohne die schlichten Weisen, in denen die Ankunft des Jesus-Kindes besungen, mit denen ihm gehuldigt wird in aller Demut? (N.b. ich merke an, daß in diesen bayerischen Volksweisen die frühere Volksfrömmigkeit bewahrt bleibt - trotz und gerade wegen des massiven Einbruchs des Konziliarismus auch in den ländlichen Bereichen. In ihnen bleibt die Ehrfurcht vor dem zentralen Wunder der Menschwerdung Gottes bestehen, bleibt lebendig, auch wenn sich im übrigen der Glaube an die wirkliche Fleischwerdung Gottes verflüchtigt hat.
Die religiöse Kunst konnte sich nur in diesen Formen ausprägen, weil sie zur künstlerischen Ausgestaltung auf präzise religiöse Ideen und Konzepte zurückgreifen konnte. Man denke an die romanischen, gotischen oder byzantinischen Kirchenbauten, die nach einem bestimmten theologischen Konzept gebaut wurden: die Ostung des Altars, die Grundlegung des Kreuzes als Grundriß des Kirchenbaus, weil das Heil des Neuen Bundes vom Kreuz herabgestiegen war; die Vierung ward häufiger als Hinweis auf die Beschreibung des himmlischen Jerusalems gedeutet (in der Apokalypse des hl. Johannes durch die Aufhängung des 12-armigen Leuchters), die Hinwendung der Kirchenschiffe auf den Altar hin, die Stellung des Priesters versus Deum (im Tabernakel) und nicht versus populum (wie es die Reformer tun, für die der Priester auf Grund seiner Zuwendung zum Volk nicht mehr die Rolle des Vermittlers zwischen Gott und den Menschen übernimmt wie in vorkonziliarer Zeit. Um das zentrale Geschehen in der Messe, die Wandlung, gegenüber dem Kirchenvolk abzugrenzen, zur Wahrung des Mysteriums, benutzen die Orthodoxen heute noch die Ikonostase, während in der römischen Kirche der Lettner, der die gleiche Funktion hatte, im Mittelalter aufgegeben wurde, heute aber noch im Breisacher Stephansmünster oder in St. Maria im Kapitol in Rom zu sehen sind.
Die architektonische Gestaltung sah für die Aspiranten, die noch nicht getauft waren, aber zur Kirche übertreten wollten, einen eigenen Raum vor, den sog. Vortempel oder Vorhalle, den Pronaos. In gotischen Kirchen findet man häufig im Altarraum die bildhaften Darstellungen des Lebens Jesu und Mariä. Die Bildabfolgen, die einem bestimmten stereotypen Muster folgten, waren nicht nur Darstellungen im eigentlichen Sinne, sondern sie übernahmen auch katechetische Funktionen, denn Bücher als Handschriften gab es für die Glaubensunterrichtung (noch) nicht.. Die Maler, die diese Fresken ausgestalteten, wurden aus allen Teilen Europas herbeigerufen. So malte Simon von Taisten, Hofmaler der Görzer Grafen, nicht nur gegen Ende des 15. Jahrhunderts die eindrucksvollen Fresken in der Wallfahrtskirche Maria Schnee in Obermauern/Osttirol aus, sondern arbeitete als Kirchenmaler u.a. auch in Niederdorf, auf Schloß Bruck bei Lienz, wo er zwischen 1492-96 die Kapellen ausmalte, in Teisten. Bis etwa 1500 waren Paola von Görz-Gonzaga und deren Gemahl, der letzte Görzer Graf Leonhard von Görz, wichtige Auftraggeber für Simon von Taisten. (Man vgl. auch die Titelbilder für die EINSICHT, 15. Jahrgang Nr. 1 vom April 1985 und die Nr. 5 vom Dezember 1985)
Auch die Bauhütten zogen von einer Stadt zur anderen, um Aufträge für Kirchenbauten auszuführen. So gestaltete die Hütte von Parler, einer Familie von Steinmetzen, Bildhauern und Baumeistern, die die gotische Architektur in ganz Europa mitgestaltete und neben dem Kölner Dom auch für die Errichtung des Heilig-Kreuz-Münster von Schwäbisch Gmünd, dem Veitsdom und der Karlsbrücke in Prag, für St. Sebaldus in Nürnberg, für den Dom der heiligen Barbara in Kuttenberg in Böhmen (Kutná Hora), das Rathaus in Krakau, die Münsterkirchen von Ulm, Freiburg und Basel verantwortlich war.
Es ist ein wenig in Vergessenheit geraten, daß neben den Baumeistern, den Malern, den Bildhauern und Stuckateuren auch diejenigen, die die theologischen Konzepte für eine Kirche entwarfen, in ihrer Zeit große Bedeutung erlangten und berühmt wurden. Viel-fach waren es die zuständigen Pfarrer, die mit ihren Baumeistern sich darum bemühten, die Ideen für die Gestaltung und die Durchführung eines Kirchenbaues im Detail festzulegen. Es galt, den Grundriß festzulegen, die Höhe der Schiffe, die Gestaltung des Hochaltares, der Seitenaltäre, wem sollte die Kirche dediziert werden, wie sollte man diese Weihe durch welche Bildnisse und welche Altar-Retabel darstellen, wie sollte die Orgelempore gestaltet werden etc? Die Festlegung eines solchen theologischen Konzeptes für einen Kirchenbau kann man ganz gut in Kloster Rottenbuch/Oberbayern, einem ehemaligem Augustiner-Chorherren-Stift, welches Mitte des 18. Jahrhunderts von dem Wessobrunner Stuckateur Joseph Schmuzer im Rokokostil ausgeschmückt wurde. Zunächst könnte man annehmen, es handele sich um eine Christi-Geburts-Kirche. Bei näherem Betrachten der Details und der theologischen Würdigung derselben wird einem bald klar, daß es sich um eine Kirche handelt, die Mariä Geburt geweiht wurde.
Man stelle sich die Welt des christlichen Abendlandes vor ohne Zeugnisse der Kunst, die errichtet wurden "Ad maiorem Dei gloriam" - „zur größeren Ehre Gottes“ (aus den Dia-logen des Papstes Gregors des Großen) oder „Omnia ad maiorem Dei Gloriam“ - „Alles zur größeren Ehre Gottes“. Ohne die Dome, die Kirchenbauten der Orden, ohne die vielen Kapellen, die ihre Entstehung häufig der Privatinitiative von einzelnen Gläubigen oder Familien verdanken, ohne die bildnerischen Darstellungen, dem Figurenschmuck, der "musica sacra", ohne die geheimnisvolle mystische Innenausstattung einer Asam-Kirche in München. Es wäre kalt in dieser Welt, bitterkalt, und wir wären alle schon "er-froren". Die Kunst, die an kein "Muß" gebunden weiß, sondern sich über alle Zwänge frei erhebt, die dem Künstler gerade deswegen nur ein Leben in Askese zubilligt, ist das Zeugnis unserer freien Geistigkeit, in der sich unsere Vernunft über alles bloß Naturhafte erhebt.
So könnte man die einzelnen Stilrichtungen durchgehen, von den prä-romanischen Zeugnissen über die Romanik, die Gotik, die Renaissance, den Barock bis zu dessen Spätausformung im Rokoko, das seine Blütezeit in Bayern hatte, um die spezifisch religiösen Aussagen, die die einzelnen Epochen zum Ausdruck bringen wollten, die in ihnen relevant waren, aufzulisten.
Wenn man die romanischen Christusdarstellungen am Kreuz betrachtet, so fällt auf, daß das Gesicht nicht gezeichnet ist von Schmerz und Verzweiflung ("Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" - Joh 19,26-27), sondern eher von Verklärung, von einer Person, die trotz der aktuellen elenden Situation den schrecklichen Tod am Kreuz bereits überwunden hat oder den Sieg über den Tod vorwegnimmt. Ich denke dabei u.a. an den Volto Santo von Lucca, ein hölzernes Kruzifix aus dem 11. Jahrhundert in der dortigen Kathedrale. Es wird seit dem Mittelalter als Reliquie verehrt. Der Volto Santo zeigt den Gekreuzigten im langen Gewand, mit Bart und geöffneten Augen. Von ihm geht eine ungeheure Ausstrahlung aus, die den Betrachter zu einer tiefen Andacht anregt.
Ganz anders stellt die Gotik Christus am Kreuz dar. Er ist der Gekreuzigte, der vor Qualen - geistigen und physischen - vergeht. Die Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald (1460 - 1528) in Colmar, dem vermutlich in den Jahren 1506 bis 1515 geschaffenen Hauptwerk, zeigt Christus im Sterben mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einem sich verdüsternden Hintergrund, der in Nacht überzugehen scheint.
Das barocke Zeitalter war fähig, die Fülle des diesseitigen Lebens auf dem Hintergrund des Abgrundes zu sehen und darzustellen, der von der Einseitigkeit dieser Ebene ausging. "Vanitas! Vanitatum vanitas" ("Eitelkeit der Eitelkeiten") heißt es in einem Gedicht von Andreas Gryphius: "Ich seh wohin ich seh, nur Eitelkeit auf Erden, Was dieser heute bawt, reist jener morgen ein."
Es gibt in der Biographie Emil Noldes, dem expressionistischen Maler, der u.a. durch seine farblich sehr ausdrucksstarken Blumen-Aquarelle bekannt wurde, folgende Begebenheit. Er hatte 1909 das "Letzte Abendmahl" in expressionistischer Malweise in Öl gemalt in der Absicht, daß es in seiner Heimatgemeinde die dortige Kirche zieren würde. Doch diese Absicht machte der Kirchenvorstand zunichte. Er untersagte die Hängung, weil die Darstellung dem künstlerischen und religiösem Verständnis diesem Gremium nicht zusagte.
Wie könnte demnach eine Kunst aussehen, die spezifisch die religiösen Befindlichkeiten zum Ausdruck bringen wollte, die sich in unserer Zeit ausgeprägt haben? Sie müßte, um der Wiedergewinnung der zentralen Wahrheit, daß nämlich Gott Mensch geworden ist, daß Christus dieser Gott-Mensch ist, von dem aus unsere Existenz (im Neuen Bund) gestaltet werden soll, Rechnung tragen. Sie sollte sich der Darstellung dieses zentralen Mysteriums widmen. Das könnte auch in Analogien und Metaphern geschehen, gleichnishaft, wie ja auch Christus in Gleichnissen geredet hat. Man kann sie aber nicht einfach vorbestimmen, denn die künstlerische Verarbeitung bzw. Umsetzung einer Sichtweise bleibt in die Originalität und die Inspiration des Künstlers gestellt. Man darf aber erwarten, daß das Produkt für Menschen, die in dieser zerrissenen Welt hineingeworfen sind, verstanden werden kann, daß seine Sprache keine unverständliche Sprache ist, die nur wenige entschlüsseln können bzw. eines Dolmetschers bedürfen, oder die so gestaltet ist, daß sie sich jeder Übersetzung entzieht.
Aber in einer Zeit der Düsternis haben wir allen Grund, das verdunkelte Bild der Sonne, welche Christus ist und welches von tiefem Verrat verhangen wird, wieder aufleuchten zu lassen zu seiner Ehre, zu seinem Ruhm. |