Aus den Visionen der Anna Katharina Emmerich Rückkehr aus Ägypten - Jesus im Tempel zu Jerusalem
Ich sah viele Bilder ihrer ganzen Reise, die ohne besondere Gefahr für sie war. Maria war oft sehr bekümmert, daß dem Jesusknaben das Gehen in der heißen Sonne so beschwerlich war. Joseph hatte ihm ganze Schuhe aus Bast gemacht, die bis über die Knöchel fest gebunden wurden; aber ich sah sie doch oft stillehalten und Maria dem Knaben den Sand aus den Schuhen schütteln. Sie selber trug nur Sohlen. Jesus trug sein braunes Röckchen und mußte oft auf dem Esel sitzen. Er, Maria und Joseph hatten zum Schutz gegen die glühenden Sonnenstrahlen auf dem Kopf breite Bastschirme, welche sie mit einem Band unter dem Kinn befestigten.
Joseph wollte nicht nach Nazareth ziehen, sondern nach Bethlehem; doch war er unschlüssig, weil er hörte, es regiere nun Archeäus über Judäa, der auch sehr grausam war. Endlich erschien ihm ein Engel, der ihm sagte, daß er nach Nazareth ziehe. Anna lebte noch. Nur sie und einige Verwandte hatten von dem Aufenthalt der Heiligen Familie gewußt. (...)
In dem Hause zu Nazareth waren drei Wohnräume abgesondert. Der Raum der Mutter Gottes war der größte und angenehmste. Hier kamen Jesus, Maria und Joseph auch zum Gebet zusammen; sonst sah ich sie sehr selten beisammen. Jedes lebte sonst meist in seinem Raum allein. Joseph zimmerte in dem seinen. Ich sah ihn Stäbe und Latten schnitzen. Stücke Holz glatt machen, auch wohl einen Balken herantragen und sah Jesus ihm helfen. Maria war meist mit Nähen und einer Art Stricken mit kleinen Stäben beschäftigt, wobei sie mit unterschlagenen Beinen saß und ein Körbchen neben sich hatte. Jedes schlief in seinem Verschlag allein, und das Lager bestand in einer Decke, welche morgens zu einem Wulst aufgerollt wurde.
Ich sah Jesus den Eltern alle mögliche Handreichung tun und auch auf der Straße und wo er Gelegenheit fand, jedermann freundlich, behilflich und dienstfertig sein. Er half seinem Pflegevater in dem Handwerk oder lebte in Gebet und Betrachtung. Allen Kindern von Nazareth war er ein Muster. Sie liebten ihn und fürchteten, ihm zu mißfallen; und die Eltern seiner Gespielen pflegten diesen bei Untaten und Fehlern zu sagen: "Was wird Josephs Sohn sagen, wenn ich ihm dieses erzähle? Wie wird er sich darüber betrüben?" Sie verklagten auch manchmal die Kinder freundlich vor ihm in ihrer Gegenwart und baten ihn: "Sage ihnen doch, daß sie dieses oder jenes nicht mehr tun!" Und Jesus nahm das ganz kindlich und spielend auf, und voll Liebe bat er die Kinder, es so und so zu machen; betete auch mit ihnen um Kraft vom himmlischen Vater, sich zu bessern, beredete sie, Abbitte zu tun und ihre Fehler gleich zu bekennen.
In Nazareth lebte eine mit Joachim verwandte Essenerfamilie, welche vier Söhne mit Namen: Cleophas, Jacobus, Judas und Japhet hatte, die wenige Jahre jünger oder älter als Jesus waren. Auch sie waren Jugendgespielen Jesu, und sie und ihre Eltern pflegten immer mit der Heiligen Familie zusammen zum Tempel zu reisen. Diese vier Brüder wurden um die Zeit von Jesu Taufe Johannesjünger und nach dessen Ermordung Jünger Jesu. Sie kamen auch, da Andreas und Saturnin über den Jordan zogen, diesen nach und blieben den Tag über bei ihm und waren mit unter den Johannesjüngern, welche Jesus auf die Hochzeit nach Kana brachte. Cleophas ist derselbe, dem in Gesellschaft mit Lukas Jesus in Emmaus erschien. Er war verheiratet und wohnte zu Emmaus. Seine Frau kam später zu den Frauen der Gemeinde.
Jesus war schlank und schmächtig von Gestalt, mit einem schmalen, leuchtenden Angesicht; gesund aussehend, aber doch bleich. Seine ganz schlichten, rötlich gelben Haare hingen ihm gescheitelt über der hohen offenen Stirn auf die Schulter nieder. Er hatte einen langen, lichtbräunlich-grauen Hemdrock an, der wie gewebt bis auf die Füße ging; die Ärmel waren etwas weit an den Händen.
Acht Jahre alt zog er zum ersten Mal mit den Eltern zum Osterfest nach Jerusalem und die folgenden Jahre immer.
Jesus hatte schon in den ersten Reisen bei den Freunden, wo sie in Jerusalem einkehrten, und bei Priestern und Lehrern Aufmerksamkeit erregt. So hatte Jesus, als er in seinem zwölften Jahre mit seinen Eltern in Gesellschaft ihrer Freunde und deren Söhne nach Jerusalem kam, schon allerlei Bekannte in der Stadt. Die Eltern hatten die Gewohnheit, einzeln mit ihren Landsleuten auf der Reise zu wandeln und wußten bei dieser nun fünften Reise Jesu, daß er immer mit den Jünglingen aus Nazareth zog.
Jesus hatte sich diesmal aber bei der Heimreise schon in der Gegend des Olberges von seinen Begleitern getrennt, welche meinten, er habe sich zu seinen Eltern, welche folgten, gesellt. Jesus aber war nach der bethlehemitischen Seite von Jerusalem gegangen, in jene Herberge, wo die Heilige Familie vor Mariä Reinigung eingekehrt war. Die Heilige Familie glaubte ihn mit den anderen Nazarethanern voraus, diese aber glaubten ihn mit seinen Eltern folgend. Als diese alle auf der Heimkehr endlich in Gophna zusammentrafen, war die Angst Mariä und Josephs über seine Abwesenheit ungemein groß, und sie begaben sich sogleich nach Jerusalem zurück und fragten unterwegs und überall in Jerusalem nach ihm, konnten ihn aber nicht gleich finden, weil er gar nicht da gewesen, wo sie sich gewöhnlich aufhielten. Jesus hatte in der Herberge vor dem Bethlehems-Tore geschlafen, wo die Leute seine Eltern und ihn kannten.
Dort hatte er sich zu mehreren Jünglingen gesellt und war mit ihnen in zwei Schulen der Stadt gegangen; den ersten Tag in die eine, den zweiten in die andere. Am dritten Tage war er morgens in einer dritten Schule am Tempel und nachmittags im Tempel selbst gewesen, wo ihn seine Eltern fanden. Es waren diese Schulen verschiedener Art und nicht alle gerade Schulen über das Gesetz; es wurden auch andere Wissenschaften darin gelehrt; die letzte war in der Nähe des Tempels, aus welcher Leviten und Priester genommen wurden.
Jesus brachte durch seine Fragen und Antworten die Lehrer und Rabbiner aller dieser Schulen in ein solches Erstaunen und auch in solche Verlegenheit, daß sie sich vornahmen, am dritten Tage nachmittags im Tempel selbst auf dem öffentlichen Lehrort den Knaben Jesus durch die gelehrtesten Rabbiner in verschiedenen Fächern wieder zu demütigen. Es taten dieses die Lehrer und Schriftgelehrten untereinander; denn anfangs hatten sie eine Freude an ihm gehabt, nachher aber an ihm sich geärgert. Es geschah dieses in der öffentlichen Lehrhalle in der Mitte der Vorhalle des Tempels vor dem Heiligen, in dem runden Kreis, wo Jesus später auch gelehrt. Ich sah da Jesus in einem großen Stuhl sitzen, den er bei weitem nicht ausfüllte. Er war von einer Menge alter und priesterlich gekleideter Juden umgeben. Sie horchten aufmerksam und schienen ganz grimmig, und ich fürchtete, sie würden ihn ergreifen.
Da Jesus in den Schulen allerlei Beispiele aus der Natur und aus den Künsten und Wissenschaften in seinen Antworten und Erklärungen gebraucht hatte, so hatten sie hier Meister in allen solchen Sachen zusammengebracht. Als diese nun anfingen, mit Jesus im einzelnen zu disputieren, so sagte er, diese Dinge gehörten eigentlich nicht hierher in den Tempel, aber er wolle ihnen doch nun auch hierauf Antwort geben, weil es seines Vaters Wille so sei. Sie verstanden aber nicht, daß er hiermit seinen himmlischen Vater meinte, sondern glaubten, Joseph habe ihm befohlen, sich mit all seinen Wissenschaften sehen zu lassen.
Jesus antwortete und lehrte nun über Medizin und beschrieb den ganzen menschlichen Leib, wie ihn die Gelehrtesten nicht kannten; ebenso von der Sternkunde, Baukunst, Ackerbau, von der Meßkunst und Rechenkunst, von der Rechtsgelehrsamkeit und allem, was nur vorkam, und führte alles so schön wieder auf das Gesetz und die Verheißung, die Prophezeiung und auf den Tempel und die Geheimnisse des Dienstes und der Opfer aus, daß die einen immer in Bewunderung und die anderen beschämt in Ärger begriffen waren, und das immer abwechselnd, bis sie alle beschämt sich ärgerten, meistens weil sie Dinge hörten, die sie nie gewußt, nie so verstanden hatten.
Er hatte schon ein paar Stunden so gelehrt, als Joseph und Maria auch in den Tempel kamen und bei Leviten, die sie dort kannten, nach ihrem Kinde fragten. Da hörten sie, daß er mit den Schriftgelehrten in der Lehrhalle sei. Da dies nun kein Ort war, wo sie hingehen konnten, sandten sie den Leviten hin, er solle Jesus rufen. Jesus ließ ihnen aber sagen, er wolle zuerst sein Geschäft enden. Das betrübte Maria sehr, daß er nicht gleich kam. Es war dies das erste Mal, daß er die Eltern fühlen ließ, er habe noch anderen Be-fehlen zu folgen als den ihren. - Er lehrte wohl noch eine Stunde, und als alle widerlegt, beschämt und teils geärgert waren, verließ er die Lehrhalle und kam zu seinen Eltern in den Vorhof Israels und der Weiber. Joseph war ganz schüchtern und verwundert und sprach nicht; Maria aber nahte ihm und sprach: "Kind, warum hast du uns dies getan? Sieh, dein Vater und ich haben dich so schmerzlich gesucht!" Jesus aber war noch ganz ernsthaft und sagte: "Warum habt ihr mich gesucht? Wußtet ihr denn nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?" Sie verstanden dies aber nicht und begaben sich gleich mit ihm auf die Rückreise.
Ich sah die Heilige Familie wieder zur Stadt hinausgehen. Sie vereinigten sich vor der Stadt mit drei Männern und zwei Weibern und einigen Kindern, die ich nicht kannte, die aber auch von Nazareth zu sein schienen. Mit diesen zusammen gingen sie noch um Jerusalem herum allerlei Wege, auch an den Ölberg und blieben in den schönen grünen Lustplätzen, welche da sind, hie und da stehen und beteten die Hände auf der Brust gekreuzt. Ich sah sie auch über einen Bach mit großer Brücke gehen. Dieses Gehen und Beten der kleinen Gesellschaft erinnerte mich lebhaft an eine Wallfahrt.
Als Jesus in Nazareth zurück war, sah ich im Hause der Anna ein Fest bereitet, wo alle Jünglinge und Mägdlein von den Verwandten und Freunden versammelt waren. Ich weiß nicht, ob es ein Freudenfest über sein Wiederfinden war oder sonst ein Fest, das man nach der Rückkehr vom Osterfest feierte, oder ein Fest, das man im zwölften Jahre der Söhne feierte. Jesus aber war dabei wie die Hauptperson.
Es waren schöne Laubhütten über der Tafel errichtet; es hingen Kränze von Weinlaub und Ähren darüber, die Kinder hatten auch Trauben und kleine Brote. Es waren bei diesem Fest 33 Knaben, lauter zukünftige Jünger Jesu, und ich hatte einen Bezug davon auf die Lebensjahre Jesu. Jesus lehrte und erzählte das ganze Fest hindurch den anderen Knaben eine ganz wunderbare und meist nicht verstandene Parabel von einer Hochzeit, wo Wasser in Wein werde verwandelt werden und die lauen Gäste in eifrige Freunde, und dann wieder von einer Hochzeit, wo der Wein in Blut und das Brot in Fleisch werde verwandelt werden, und das werde bei den Gästen bleiben bis zum Ende der Welt als Trost und Stärke und als ein lebendiges Band der Vereinigung. Er sagte auch einem verwandten Jünglinge mit Namen Nathanael: "Ich werde auf deiner Hochzeit sein." Von diesem zwölften Jahre an war Jesus immer wie der Lehrer seiner Gespielen. Er saß oft mit ihnen zusammen und erzählte ihnen; auch wandelte er mit ihnen in der Gegend umher.
(aus: „Das arme Leben unseres Herrn Jesu Christi“, Aschaffenburg 1971, S. 62 ff.) |