Vor fünfundfünfzig Jahren starb Pius XII.
von Domenico Kardinal Tardini (1888-1961)
Ich werde mich immer an die sorgenvolle Nacht vom 8. zum 9. Oktober 1958 erinnern. Ich war bei Pius XII., der im Sterben lag. Der Papst lag ausgestreckt auf seinem Bett, schwer atmend, unbeweglich, mit geschlossenen Augen und einem Röcheln, das ihn manchmal zu ersticken drohte. Er war im Todeskampf.
Auf unsere liebevollen Anrufe, auf die Stoßgebete, die wir ihm ins Ohr einsagten, auf die Gebete, die wir für ihn sprachen, konnte er nicht mehr antworten. Wenn seiner heiligen Seele in der letzten Nacht noch ein Schimmer von Bewußtsein blieb, so war sie bestimmt in Gott vertieft. Nach außen drang jedoch nichts.
In diesen schmerzlichen Augenblicken gingen meine Gedanken vier Jahre zurück, als Pius XII. im Dezember 1954 sterbenskrank darniederlag. Seine Leiden waren unsagbar . Der Schluckauf! Es war ein einziger, ununterbrochener, quälender Schluckauf, ein krampfhaftes Schütteln, das ständig Kehle, Brust, den ganzen Körper erfaßte. Der Papst konnte weder essen noch trinken oder schlafen. Und doch war bei diesen heftigen Kämpfen sein Verstand immer klar und leuchtend, seine Gelassenheit unerschütterlich, seine Frömmigkeit beispielhaft. Auf seinem Bett lag immer das Exerzitienbüchlein des heiligen Ignatius, das er sehr oft in die Hände nahm. Er stärkte sich und die Anwesenden, in dem er mit großer Andacht das innige Gebet sprach: „Seele Christi, heilige mich!"
Seine Pflicht wollte er nicht vernachlässigen oder seine Arbeit unterbrechen. Unsere Audienzen fanden wie immer regelmäßig statt. Er verlangte, daß ihm alles vorgetragen werde. Die Ärzte forderten, zu ihm so we nig wie möglich zu sprechen. Bei manchen Gelegenheiten mußte man sich auf reinste Akrobatenstücke verlegen, um der Wachsamkeit des Papstes zu entgehen. Als ich mich zum Beispiel eines Tages gerade anschickte, sein Zimmer zu verlassen, fragte mich Pius XII.: „Ist denn das möglich, daß es so wenig zu berichten gibt?" Kalter Schweiß überfiel mich.
Mit dem Hinweis auf das schreckliche Wetter - es regnete Bindfäden - bemerkte ich: „Es scheint, daß durch das schlechte Wetter der Luftpostverkehr unterbrochen wurde!" Der Papst gab keine Antwort. Kaum hatte ich aber das Zimmer verlassen, erzählte er dem gerade Anwesenden, wie Monsignore Tardini „zu kneifen" verstand.
Noch schlechter erging es mir ein anderes Mal. Um die Audienz rasch zu beenden, faßte ich mich so kurz wie möglich. Beim Hinausgehen aber rief mich der Papst an sein Bett zurück und fragte, indem er mich mit forschenden Blicken beobachtete, in beinahe strengem Ton: „Monsignore, haben Sie mir alles gesagt?" Und dieses „alles" hatte er wohl überlegt. Darauf eine Antwort zu geben war schwer. Nach einem Augenblick der Verwirrung fand ich meine Unbefangenheit wieder und sagte: „Heiligkeit, ich habe fast alles gesagt." Und dieses „fast" hatte ich mir auch sehr gut überlegt. Der Papst lächelte, entließ mich und erzählte dann meine Antwort den anderen.
Unsere Lage war eigenartig. Dem Papst gehorchen hieß, seiner Gesundheit schaden, den Ärzten gehorchen bedeutete Ungehorsam gegen den Papst. Dieser dachte bereits an die Vorbereitungen seiner Weihnachtsbotschaft.
Als er mir das anvertraute, konnte ich es, offen gestanden, nicht glauben. Es schien mir unmöglich, daß der Papst in diesem Zustand die Kraft besitzen könnte, an die Vorbereitung eines Dokumentes zu denken, dem er so große Bedeutung beizumessen pflegte.
Ich täuschte mich. Nur wenige Tage später schrieb Pius XII., kaum aus dem Bett aufgestanden, fast in einem Zug jene ganze Botschaft über die „Koexistenz" nieder, die so großarti g und tief ist, daß sie eines der bedeutendsten Dokumente seines Pontifikates bleiben wird. In den Leidenstagen hatte der Papst noch inniger als je zuvor die unaussprechlichen Freuden der Vereinigung mit Gott verkostet. Man sprach von einer Vision.
„Dominus est..."
Es war Donnerstag, der 2. Dezember 1954. An diesem Tag hatte ich meine gewohnte Audienz. Kurz darauf machte ich einige Aufzeichnungen, die ich jetzt vollständig, so wie ich sie damals in aller Eile niedergeschrieben habe, wiedergebe, auch weil sie zeigen, wie der schwerkranke Heilige Vater heiter und gelegentlich zum Scherzen aufgelegt blieb.
Um 12.45 Uhr gehe ich zum Heiligen Vater. Die Schwester bat mich, etwas später wiederzukehren. Sie war mir zuvorgekommen und hat dem Papst gesagt, es sei mein eigener Wunsch. Ich trete also später bei seiner Heiligkeit ein, bitte wegen der Verspätung um Entschuldigung und teile ihm mit, daß ich zwei Kardinäle empfangen habe. Der Papst sagt mir: „Sie Glückliche r!" Ich antworte ihm: „Diesmal aber haben auch Eure Heiligkeit Glück“, und übergebe ihm zwei ansehnliche Schecks, die mir die beiden Kardinäle für den Peterspfennig übergeben hatten. Darauf sagte der Papst zu mir: „Sie haben recht, auch ich bin glücklich." Er liegt auf dem Sofa (es handelt sich um eine Art Liegestatt, die ich als Sofa bezeichne, darauf verbrachte der Papst einige Stunden am Tage während seiner Krankheit); sein Zustand scheint mir sehr verschlechtert. In kurzen Abständen überkommen ihn Brechanfälle, und er erbricht etwas, das wie Kaffee aussieht (es sind Speisereste, kein Blut). Seine Seelenhaltung ist ausgeglichen wie immer. Er sagt mir: „Ihnen sage ich es; die anderen könnten denken, es seien Halluzinationen eines Kranken. Gestern früh habe ich deutlich eine Stimme gehört, ganz klar und deutlich!", dabei faßte sich der Papst an das rechte Ohr und fuhr fort: „Diese sagte: "Jetzt kommt eine "Vision". Es kam jedoch nichts. Heute morgen, während ich der heiligen Messe beiwohnte, habe ich einen Augenblick lang den Herrn gesehen. Es war ein Augenblick, aber ich habe ihn gut gesehen.“
Ich verlasse ihn um 13.30. (In beispielhafter Beobachtung der kanonischen Bestimmungen wünschte Pius XII. nicht, daß die heilige Messe in seinem Schlafzimmer gelesen wurde. Das heilige Opfer wurde im anschließenden Arbeitszimmer gefeiert, und der kleine Altar stand so, daß der Papst bei offener Tür von seinem Bett aus den zelebrierenden Priester sehen konnte.)
Zwei Tage später, am Samstag, dem 4. Dezember, komme ich wieder zur Audienz. Damals schrieb ich darüber:
12.40 Uhr. Der Papst liegt zu Bett. Er ist mit der Konsultation zufrieden, lobt die Ärzte sehr und sagt, sie seien sehr optimistisch gewesen, besonders Professor Paolucci. Mehr als einmal sagte mir Pius XII. im Dezember 1954, daß er auf das Pontifikat verzichtet haben würde, falls er hätte krank bleiben müssen: „Ich bleibe auf meinem Platz", sagte er, „nur weil die Ärzte mir versichert haben, daß ich wie früher wiederhergestellt sein werde." Und in der Tat konnte der Papst noch nahezu vier Jahre ein gewaltiges Arbeitspensum bewältigen. Pius XII. öffnet seine Arme und breitet sie aus, wie wenn er den Segen erteilt, schaut zum Himmel auf und sagt: „Voca me!" (Rufe mich!)
Dann fügt er hinzu: „Ich glaubte, daß der Herr mich heimrufen würde. Und statt dessen ..." Wiederum greift er nach dem Exerzitienbüchlein des heiligen Ignatius und sagt: „Das ist mein Trost!" In seinem Bett, blaß und schwach, macht der Heilige Vater wirklich den Eindruck einer Seele, die ganz und allein Gott gehört.
Wir alle haben noch die eindrucks volle, charakteristische Gebärde in Erinnerung, mit der Pius XII. die öffentlichen Audienzen beschloß. Die hagere und hohe Gestalt richtete sich auf, der Papst hob sein Antlitz und wandte die Augen zum Himmel. Es war eine Gebärde des Gebets.
Mit den weit ausgebreiteten Armen schien der Papst die ganze Menschheit in einer väterlichen Umarmung umfangen zu wollen. Das war eine Geste des Segens. Aber dieselben offenen Arme, die ausgestreckten, feingliedrigen, schmalen Hände, die gleichsam erstarrt scheinende Körperhaltung gaben dem Papst die Figur eines Kreuzes. Das war eine Geste des Opfers. Pius XII. konnte mit dem Apostel sprechen. „lch bin mit Christus ans Kreuz geheftet." (Gal. 11,19) In Schmerz und Leiden verzehrte er sich selbst als bewußtes und großherziges Opfer in täglicher Hingabe.
Wenn seine Krone eine Krone von Dornen war, so war das Kreuz seine Stütze, seine Zuflucht und sein Trost. Wieder einmal wurde am leuchtenden Himmel der Kirche das Kreuz für einen heiligen und großen Papst zum Thron der Majestät, zum Lehrstuhl der Wahrheit, zum Banner des Ruhmes und des Triumphes.
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Auszüge aus einer Rede von Domenico Kardinal Tardini, die er am 20. Oktober 1959 vor Johannes XXIII., dem Kardinalskollegium, dem versammelten diplomatischen Corps sowie einer großen Anzahl kirchlicher und weltlicher Persönlichkeiten zum Andenken an Papst Pius XII. gehalten hat. (nach: KIRCHLICHER UMSCHAU Nr. 4, Nov. 1998, S. 9) |