Die Kirche, der Leib Christi
von Karl Adam (aus: Das Wesen des Katholizismus, Düsseldorf 1936, S. 43-59)
"Die Kirche ist sein Leib, die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt." (Eph. 1,23)
Aus der Wesensbestimmung der Kirche als Reich Gottes und Leib Christi folgt als erste Besonderheit das Übernatürliche, Himmlische ihrer Vollmachten. In ihm neigt die Kirche nach der Seite des Unsichtbaren, Geistigen, Ewigen. Davon sprachen wir im ersten Vortrag. Aber die Kirche ist nicht bloß unsichtbar. Weil Gottes Reich, ist sie nicht ein zufälliges Nebeneinander, sondern ein geordnetes Über- und Untereinander. Eine solche Ordnung ist notwendig sichtbar. Und weil Leib Christi, ist ihr Wesen etwas Organisches, ein Füreinander und Zueinander, ein sichtbarer Organismus. Darin liegt die zweite Besonderheit des kirchlichen Wesens. Der in der Kirche sich bezeugende Geist Christi ist nicht, wie es alt- und neuchristliche Spiritualisten verstanden haben, eine frei schwebende Größe, eine Heilandskraft, die sich nur auf diesen und jenen unsichtbar niedersenkt. Als das Haupt Seiner Glieder wirkt Christus, der Herr, auf den einzelnen Gläubigen niemals in innerer Losgelöstheit von Seinem Leib, sondern immer durch ihn und mit ihm.
Das will sagen: Die übernatürliche Erlösermacht Jesu, wie sie in der Kirche sich offenbart, ist nicht an eine Einzelperson gebunden, insofern sie Person ist, sondern nur, insofern sie gottbestelltes Organ der Gemeinschaft ist. Die Einführung des Geistes Jesu in die diesseitige Wirklichkeit erfolgt also nicht durch das Mittel einzelner mit besonderen charismatischen Gaben ausgestatteter Persönlichkeiten, sondern sie erfolgt in Ordnungen und Ämtern, die nach dem Willen Jesu als Strukturelemente der Gemeinschaft diese so recht eigentlich erzeugen und tragen und ihr inneres Leben entbinden. Der Träger des Geistes Jesu ist somit die Kirche nicht als Vielheit von Einzelwesen, nicht als eine Summe von geistbelebten Persönlichkeiten, sondern die Kirche als geschlossene, geordnete Einheit der Gläubigen, als eine über den Persönlichkeiten webende, in heiligen Ordnungen und Ämtern sich auswirkende Gemeinschaft. Diese organisierte Einheit, diese Gemeinschaft ist, insofern sie mit dem Haupt Christus keimhaft gesetzt und in Seinem Stiftungswillen begründet ist, die christliche Urgegebenheit, ein Etwas, das nicht erst durch freiwilligen oder aufgenötigten Zusammenschluß der Gläubigen entsteht, das nicht auf dem guten Willen der christlichen Persönlichkeiten ruht, das also nicht nur ein sekundäres, abgeleitetes Gebilde darstellt, sondern ein Etwas, das im göttlichen Heilsplan seiner Wesenheit nach schon vor jeder christlichen Persönlichkeit gegeben ist, insofern also eine überpersönliche Wesenheit, eine übergreifende Einheit, welche die christlichen Persönlichkeiten nicht etwa voraussetzt, sondern erst schafft, erst erzeugt. Die Kirche wird nicht dadurch, daß Petrus und Paulus, Jakobus und Johannes das Geheimnis Jesu, Sein gottmenschliches Wesen, ergreifen und auf Grund dieses gemeinsamen Glaubens an Jesus zusammen eine Gemeinschaft bilden, die sich nach Jesus nennt; sondern die Kirche ist, so daß sie erst durch den Zusammenschluß der Gläubigen zur vollen geschichtlichen Wirklichkeit erhoben ist, doch schon der Anlage nach keimhaft da, bevor Petrus und Johannes gläubig werden. Sie ist schon in diesem Sinn eine göttliche Setzung. Denn sie ist die durch die heilige Menschwerdung des Gottessohnes keimgelegte Einheit der zur Erlösung berufenen Menschen, der Kosmos der Menschen, die Menschheit als Ganzes, die Vielen als Einheit.
Der Gedanke liegt nicht an der Oberfläche, und doch ist erst von ihm aus die sichtbare Seite der Kirche, der Sinn ihrer äußeren Erscheinung zu verstehen. Ist Christus der, als den Ihn die Kirche bekennt, ist Er der gottmenschliche Seligmacher der Menschen - und Er ist es -, dann ist es Sein Beruf, die Menschheit, nicht diesen und jenen Menschen, sondern die Menschheit als Einheit, als Ganzes, wieder mit Gott zu verbinden. Darin lag ja das Elend der unerlösten Menschheit, das Wesen der auf ihr lastenden Ursünde, daß die übernatürliche Gottverbundenheit, in der der Mensch ursprünglich erschaffen ward, und durch die er allein seine Wesensvollendung, seine Ganzheit, seine Fülle erreichen konnte, durch den Fall Adams gesprengt, gelöst wurde. Nicht für seine Person allein fiel Adam von Gott ab, sondern in ihm und durch ihn die Menschheit. Das ist eine Grundüberzeugung des Christentums, die, angebahnt bereits in gewissen nachkanonischen jüdischen Schriften, besonders durch Paulus zum christlichen Glaubenssatz formuliert wurde. Diesem christlichen Hauptsatz von der Ur- und Erbsünde und von unserer Erlösung durch den neuen Menschen Christus liegt der gewaltige, erschütternde Gedanke zugrunde, daß die Menschheit nicht als eine Summe von nacheinander entstehenden und vergehenden, gleichartigen Wesen gedacht werden darf, auch nicht bloß als eine Summe von Menschen, die durch die gemeinsame Abstammung von einem Urvater, durch die Geschlechtseinheit, miteinander verbunden sind, sondern daß sie zu fassen ist als ein einziger Mensch. So innig sind die Menschen in ihrem Naturwesen, in ihrem leiblichen wie in ihrem geistigen Sein aufeinander hinbezogen, so sehr sind sie in ihrem Denken und Wollen und Fühlen und Handeln miteinander verkettet, so solidarisch ist ihr Leben, ihre Tugend und ihre Sünde, daß sie nur als Ganzheit, nur als Einheit, als der eine Mensch für den göttlichen Heilsplan in Betracht kommen. Nicht der einzelne Mensch, sondern der ganze Mensch, die Fülle der in ungezählte Individualitäten zersplitterten Ausdrucksformen der Menschheit, die zusammen erst den ganzen Menschen ausmacht, die Fülle aller Menschen, die vor tausend Jahren waren und die nach tausend Jahren sein werden, sie erst ist der eine Mensch, der ganze Mensch, und die Schuld und das Schicksal jedes einzelnen Menschen berührt, so gewiß sie auch seine eigene Schuld, sein eigenes Schicksal ist, doch hinwiederum auch die ganze Menschheit nach dem Maß der Bedeutsamkeit, das ihm nach dem Plan der göttlichen Vorsehung im Zusammenspiel des Menschheitsorganismus zukommt.
Das sind Gedanken, die den modernen Menschen fremd anmuten oder wenigstens bis vor kurzem noch fremd anmuten konnten. Der mit der Renaissance einsetzende Individualismus der abendländischen Seele, weiterhin die mit der Aufklärungszeit anhebende Zergliederung und Zerlegung des Menschen und seiner Ordnungen, nicht zuletzt endlich die mit Kant in die europäische Geistigkeit eindringende Flucht vor dem Ding, vor dem Objekt, vor der transsubjektiven Wirklichkeit, und der damit heraufbeschworene uferlose Subjektivismus riß uns von unseren Wesenszusammenhängen los, nicht zuletzt von unserem eigenen Wesensgrund, von der uns zeugenden, tragenden, umklammernden Menschheit. Wir spannen uns in das Gehäuse unseres Ich ein und fanden den Weg zur Menschheit, zum vollen ganzen Menschen nicht mehr. Die Kategorie "Menschheit" wurde unserem Denken fremd. Wir dachten und lebten nur mehr in der Kategorie des Ich. Die Menschheit als Ganzheit, als Fülle mußte wieder neu entdeckt werden.
Allgemach beginnt sich nunmehr unter dem Fortwirken urchristlicher Ideen und unter dem Einfluß des Sozialismus und des Weltkrieges - von rein philosophischen, erkenntnistheoretischen Umstellungen ganz abgesehen - eine Umschichtung unserer ganzen Geistigkeit anzubahnen 1). Wir fühlen uns unbehaglich in der engen Einsiedelei unseres Ichs und suchen von uns weg. Und wir entdecken, daß wir nicht allein sind, sondern neben uns, mit uns, um uns, in uns die ganze Menschheit. Wir nehmen mit Staunen wahr, daß wir zu dieser Menschheit innerlich gehören, daß uns eine Seins- und Schicksalsgemeinschaft und eine solidarische Haftpflicht mit ihr verbindet, daß wir erst durch sie zu unserem ganzen Selbst kommen, daß sich unser Wesen erst in ihr und durch sie zum ganzen Menschen ausweitet. Von dieser neuen Geisteshaltung aus vermögen wir die christlichen Grundgedanken vom Urmenschen und vom neuen Menschen, von Adam und von Christus in ihrer ungeheuren Bedeutsamkeit zu würdigen. In Adam, dem zur gnadenvollen Teilnahme am göttlichen Leben berufenen Urmenschen, war für Gott, den Schöpfer, die ganze Menschheit gesetzt. Adams Fall war der Fall der ganzen Menschheit. Losgelöst von ihrem ursprünglichen übernatürlichen Lebensziel kreiste die Menschheit wie ein vom Mutterstern losgerissener Planet nur mehr in tollem Wirbel um sich selbst. Das eigene Ich ward der Mittelpunkt ihres Strebens und Begehrens. Gott, den Quellgrund seiner Geistigkeit, empfand der Mensch als Last. Der erste "autonome" Mensch im religiös-ethischen Sinn war Adam, als er die Frucht vom Baum der Erkenntnis brach. So hatte der Mensch nichts mehr, aus dem er neue Kraft holen konnte, als das eigene kleine Ich. Er verließ die ewig sprudelnde Quelle des lebendigen Wassers und grub sich eine armselige Zisterne im eigenen Ich. Und die Wasser dieser Zisterne waren bald ausgetrunken. Der Mensch erkrankte und starb an sich selbst, er starb an seinem Ich. Und die ganze Menschheit starb mit ihm. Da trat nach Gottes ewigem Liebesratschluß der neue Mensch auf, der Mensch der neuen, dauernden, unlöslichen Gottverbundenheit, Chri-stus, der Herr. In Seinem Ich ward die in die Irre gegangene Menschheit, der von seiner göttlichen Lebenswurzel völlig losgerissene Mensch ein für allemal dauernd wieder mit der Gottheit, mit dem Leben aller Leben, mit dem Selbstand aller Kraft, Wahrheit und Liebe verbunden. Die Menschheit - nicht dieser und jener bloß, nicht Du und Ich bloß, sondern die ganze Menschheit, die Einheit aller Menschen - war wieder aus ihrer entsetzlichen Diaspora, aus ihrer Zerstreuung heimgeholt zum lebendigen Gott. Der ganze Mensch war wieder da, dauernd verbunden mit der Gottheit, derart verbunden, daß für die Menschheit als Ganzes die Erlösungsgnade unverlierbar ist, wenn auch der einzelne aus dieser Verbindung sich lösen kann. So ist Christus in Seiner gottmenschlichen Person die neue Menschheit, der neue Anfang, der ganze Mensch im Vollsinn des Wortes 2).
Von da aus ist klar: Im Geheimnis der Menschwerdung wurde bereits die Kirche als organische Gemeinschaft grundgelegt. Die „Vielen", die Summe aller in Christus Erlösten sind in ihrer inneren Bezogenheit aufeinander, in ihrem Ineinander und Füreinander, in ihrer organischen Gemeinschaft, objektiv und ein für allemal der Leib Christi, insofern sie erlöste Menschheit, „wiederversöhnte Welt" (Augustin. sermo 96, 8) sind.
Es ist also im Licht der Erlösungsidee gesehen wirklich so: Die Kirche entstand nicht erst, als Petrus, Johannes und Paulus gläubig wurden. Sie war bereits objektiv da, als das göttliche Wort Seine Natur mit der menschlichen Natur zur Einheit Seiner Person verband. Die Menschwerdung Christi ist für den Erlösungsgläubigen die Grundlegung, Keimlegung jener neuen Gemeinschaft, die wir Kirche nennen. Der Leib Christi und das Reich Gottes waren bereits als anschauliche Größe in dem Augenblick gegeben, als das Wort Fleisch wurde. Neben den griechischen Vätern war es zumal der große heilige Lehrer von Hippo, St. Augustin, der diesen Zusammenhang von Menschwerdung und Kirche sah und daraus immer von neuem die übernatürliche Erhabenheit des kirchlichen Wesens begründete.
Dieser Zusammenhang will beherzigt sein, um den katholischen Kirchenbegriff in seiner umfassenden Tiefe zu würdigen. Erst von da aus wird uns so ganz verständlich, weshalb die Gemeinschaftsidee seine beherrschende Idee ist, und weshalb die Gemeinschaft nicht ein Erzeugnis der Gläubigen, eine Schöpfung des Ich und des Du sein kann, sondern eine überpersönliche, die gesamte erlösungsbedürftige Menschheit durchgreifende, übergreifende Einheit. Sie ist als solche Einheit nichts Verschwimmendes, Unbestimmbares, sondern die konkrete innere Einheit der erlösten, mit Christus verbundenen Menschheit. Im katholischen Kirchenbild steht als entscheidende Größe der ganze Mensch, nicht bloß das Du oder Ich.
Zwei bedeutsame Folgerungen ergeben sich daraus. Die eine haben wir schon hervorgehoben. Sie lautet: Die vollkommene und erschöpfende Offenbarung des gottmenschlichen Erlösergeistes Jesu, seine eigentliche Verkörperung, Versichtbarung erfolgt nicht in der Einzelpersönlichkeit, sondern in der Gemeinschaft als Gemeinschaft, nicht im Ich, sondern im Wir. In der Gemeinschaft, in dem Wir objektiviert sich der Geist Christi. Die Sichtbarkeit der Kirche besteht also nicht bloß in der Sichtbarkeit ihrer einzelnen Glieder, sondern in der Sichtbarkeit ihrer geschlossenen Einheit, ihrer Gemeinschaft. Wo aber eine Gemeinschaft, eine übergreifende Einheit ist, da ist ein Für- und Miteinander der Teile. Das ist die zweite Folgerung. die sich aus dem Menschwerdungsgeheimnis Christi ergibt. Die mit dem Mensch gewordenen gesetzte Einheit der Erlösten ist kein äußerliches Nebeneinander der Teile, sondern eine sich innerlich gliedernde, eine organische Einheit. Der Leib Christi muß, wenn er anders ein Leib ist, Glieder und Organe haben mit eigenen Aufgaben und Verrichtungen, die alle hinwieder der Ausgestaltung der Wesensform des Leibes dienen, die also füreinander da sind. Schon der erste Apostel, der den Ausdruck "Leib Christi" in den kirchlichen Sprachgebrauch einführte, beschreibt dort, wo er den Gedanken vom Leib Christi entwickelt, im 12. Kapitel des 1. Korintherbriefs die organischen Funktionen dieses Leibes: „Es sind mancherlei Gaben, aber es ist ein Geist. Es sind mancherlei Ämter, aber es ist ein Herr, und es sind mancherlei Kräfte, aber es ist ein Gott, der alles in allem wirkt. Denn gleichwie ein Leib ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obschon ihrer viele sind, eins sind, also auch Christus ... ihr aber seid der Leib Christi und Glieder, ein jeder nach seinem Teil. Gott hat in der Gemeinde aufs erste die Apostel gesetzt, auf’s andere die Propheten, aufs dritte die Lehrer, danach die Wundertäter, danach die Gaben, gesund zu machen, Helfer, Regierer, mancherlei Sprachen" (12,4 ff.). Es ist also die eigentliche Meinung des Apostels, daß die Gemeinschaft wesensnotwendig eine gegliederte sei, daß der Leib in einer Vielheit organischer Funktionen zusammenwirke, daß der eine Geist Jesu sich in der Einheit der Fülle bewähre. Wohl verwendet Paulus noch nicht die scharfe theologische Unterscheidung der verschiedenen Lebensfunktionen des einen Organismus. Sie hat erst die spätere Entwicklung und das von ihr beherrschte Denken gebracht. Dieses machte darauf aufmerksam, daß die einen Gaben, wie die des Apostolats und der Lehrer und Regierer, zum Seinsbestand der Kirche gehören und von ihr nicht wegzudenken sind, während die anderen Gaben, wie die der Prophetie, des Wunderwirkens, der Sprachengaben, aus der Überfülle des christlichen Lebens geboren werden und nicht als Träger, sondern als Zeichen und Ausdruck des inwendigen Lebens beurteilt werden müssen.
Aber der Grundgedanke, daß der Leib Christi ein organischer Leib sei und sein müsse, daß er wesenhaft in einer Vielheit von Aufgaben zusammenwirke, und daß diese Vielheit durch den einen Geist Christi zur inneren Einheit verbunden werde, dieser Gedanke ist urpaulinisch und ein Erb- und Grundstück der ganzen christlichen Verkündigung.
Worin besteht nun näherhin die Gliederung des Leibes Christi, der Einheit in der Fülle, der Fülle in der Einheit? Vor allem ist zu sagen: Weil die Einheit, die Gemeinschaft und nicht der einzelne der Träger des Geistes Jesu ist, und weil im Sichtbarwerden dieser wesensmäßigen Einheit zumal ihre Sichtbarkeit besteht, heischt der sichtbare Organismus der Kirche um seiner Sichtbarkeit willen ein in den Boden der Wirklichkeit gesenktes Einheitsprinzip, in dem die überpersönliche Einheit aller Gläubigen zu anschaulicher Darstellung kommt, und das diese Einheit schützend trägt und erhält. Der Papst ist als der Fels der Kirche die sichtbare Erscheinung und die bleibende Gewähr dieser Einheit. Sofort wird, von da aus gesehen, deutlich: Im Papsttum kommt die ursprüngliche Wesensform der Kirche, ihre Grundbestimmtheit als einheitliches Lebensgebilde, zu rein-stem Ausdruck. Im Papsttum strebt und gelangt die kirchliche Gemeinschaft zum wachsten Bewußtsein ihrer wesensnotwendigen Einheit. Im Papsttum erfaßt und bekennt sie sich selbst als das eine Reich, als den einen Leib Christi auf Erden. Niemals betrachtet denn auch der Gläubige den Papst losgelöst von dieser Einheit als Größe für sich, etwa als eine charismatische, mit überirdischen Vollmachten ausgerüstete Persönlichkeit gleich Moses oder Elias. Der Papst ist ihm als das sichtbare Haupt die anschauliche Verkörperung der kirchlichen Einheit, jenes reale Prinzip, in dem die erlösungsbedürftige Menschheit als ganze, geschlossene Einheit Gestalt gewinnt. Im Papst wird ihm die Einheit der Brüder sichtbar. Der Blick weitet sich über alle Schranken der Individualitäten, über alle Grenzen der Länder und Kulturen, über alle Meere und Wüsten. Und die ganze große Christenheit, ihr Füreinander und Zueinander, ihre große heilige Liebesgemeinschaft tritt ihm im Papst anschaulich und als stolze, erhebende Wirklichkeit entgegen. Darum kann ihm kein Mißbrauch der päpstlichen Gewalt und keine menschliche Schwäche der Träger der Tiara die Ehrfurcht und die Liebe zum Papsttum rauben. Wenn er die Hand des Papstes küßt, dann küßt er all seine Brüder, die in ihm zur Einheit verbunden sind. Sein Herz weitet sich zum Herzen der ganzen Christenheit, der Einheit in der Fülle.
Und auch der Papst lehrt, wirkt, kämpft, leidet nur aus dieser Einheit heraus. Wohl kann er, insofern er nach der weisen Fügung der Vorsehung zugleich Bischof der römischen Gemeinde ist. Anordnungen und Entscheidungen treffen, die nur für die römische Gemeinde gelten, und denen deshalb nur örtliche Bedeutung eignet. Aber wenn er als Papst spricht, als Nachfolger Petri, spricht er in göttlicher, alle Gläubigen zu Gehorsam verpflichtender Autorität als sichtbarer Träger und Bürge der Einheit, aus der geschlossenen Fülle des Leibes Christi, als jenes Prinzip, in dem die überpersönliche Einheit des Leibes Christi für die raumzeitliche Welt anschauliche Wirklichkeit gewonnen hat. Er spricht also nicht als selbstmächtiger Herrscher im Sinn des absolutistischen Zeitalters, sondern als Haupt der Kirche, in innerer lebendigster Bezogenheit zur kirchlichen Gemeinschaft. Darum kann er nicht gleich der delphischen Pythia nach den Einfällen eines ungezügelten Denkens oder Meinens Glaubensentscheidungen treffen. Er ist vielmehr, wie das Vatikanum nachdrücklich hervorhebt, von Gewissens wegen streng gehalten, die im geschriebenen und ungeschriebenen Bewußtsein der Kirche, in den Glaubensquellen der Heiligen Schrift und der außerbiblischen Überlieferung enthaltene Offenbarung zu verkünden und auszudeuten.
Anderseits liegt es im Wesen der Kirche als einer überpersönlichen Einheit und damit auch im Wesen des Papsttums, daß der Papst nicht als bloßer Delegierter, als Beauftragter der Kirche, als Diener und Künder der öffentlichen Meinung in der Kirche angesehen werden darf. Gerade weil das "Wir" der kirchlichen Gemeinschaft sich nicht in den Kirchengliedern erschöpft oder gar diesen erst sein Dasein verdankt, sondern eine im Menschgewordenen gesetzte überpersönliche Einheit ist, ein in sich und aus sich wirksames Organisationsprinzip, eine selbstmächtige Wesensform, regiert der Papst, in dem dieses "Wir" nach dem Willen Christi anschauliche Gestalt gewinnt, kraft eigenen Rechts, absolut, ex sese, d. h. er ist in seiner Wirksamkeit nach keiner Hinsicht an irgendwelche Gliedverrichtungen des Leibes Christi gebunden, weder an die Zustimmung des Gesamtepiskopats noch einzelner Bischöfe noch der übrigen Gläubigen. Er ist nicht bloß ein "Hirt" neben anderen, er ist vielmehr der Hirt, dem allein die Schafe des Messiashirten zu weiden anvertraut sind (vgl. Jo, 21, 15 ff.). Und er ist nicht bloß ein Stein im heiligen Bau, auch nicht nur der erste Stein, sondern der Fels (vgl. Mt. 16, 18), zu dem alle übrigen Steine keine andere Beziehung haben, als daß sie von ihm getragen werden, daß sie in ihrem ganzen Sein und Wirken von ihm abhängig sind. In wahrhaft monumentaler Wucht beschreibt das neue kirchliche Gesetzbuch (can. 218 § 1,2) diese "von jeder menschlichen Autorität unabhängige", nicht bloß die einzelnen "Kirchen", sondern auch die einzelnen "Hirten und Gläubigen" unmittelbar erfassende päpstliche Vollgewalt (suprema et plena potestas jurisdictionis in universam ecclesiam).
Was das Papsttum für die Gesamtkirche, das ist in analogem Sinn der Bischof für die Einzelgemeinde, für die Diözese. Er ist die Darstellung, die Objektivierung ihrer inneren Einheit, die sichtbar gewordene Liebe der Gemeindeglieder zueinander, das anschaulich gemachte Füreinander der Gläubigen (Möhler). So wird es begreiflich, wenn der Katholik keine ehrwürdigeren Namen auf Erden weiß als Papst und Bischof, und wenn in den Zeiten, wo das katholische Bewußtsein die ganze abendländische Welt durchtränkte, keine Ehre zu hoch und kein Schmuck zu kostbar war, um sie nicht auf Papst und Bischof zu häufen. Das galt und gilt nicht der Person des Papstes und Bischofs - niemand unterscheidet schärfer zwischen Person und Amt als der Katholik -; das galt und gilt ausschließlich ihrer erhabenen Aufgabe, die Einheit des Leibes Christi auf Erden zu verwirklichen, darzustellen und zu wahren. Wer Zeuge einer vom Bischof selbst gefeierten Hochmesse ist und dabei über den ungeheuren Aufwand von Pomp und Pracht, über die Fülle von Zeremonien staunt, mit denen Person und Wirken des Pontifex umgeben ist, der sagt die Wahrheit nur halb, wenn er darin eine Nachwirkung, einen Überrest des byzantinischen und römischen Hofzeremoniells feststellt. Die treibende Kraft, der beherrschende Sinn dieses Prunks ist die dankbare, überquellende Freude des Gläubigen an seiner Kirche, an ihrer überwältigenden Einheit, an dem im Bischof gleichsam personhaft gewordenen ja zur Gemeinschaft der Brüder, zu dem einen Leib Christi. Ein Gott, ein Glaube, eine Liebe, ein einziger Mensch: das ist der zündende Gedanke, der zu künstlerisch, religiöser Gestaltung drängt und alle kirchliche Pracht beseelt. Es ist ein Suchen und Finden der Liebe, der Liebe zu Christus und zu den in Ihm zur Einheit verbundenen Brüdern.
Im Licht dieses Grundgedankens vom Papsttum und Bischoftum erledigen sich von selbst die Einwände, welche im Namen der von Christus geforderten Demut und Bruderliebe gegen die Ursprünglichkeit der kirchlichen Obergewalt erhoben werden. In den Worten, mit denen Jesus den Jüngerstreit schlichtet, glaubt man "das schärfste innere Argument" gegen die Annahme erblicken zu müssen, daß das Papsttum eine Stiftung Jesu sei 3). Die Jünger Jesu waren wegen der Bitte der Zebedaiden, dereinst zur Rechten und Linken des Herrn sitzen zu dürfen, erbost. Da rief sie Jesus herbei und sprach: "Ihr wißt, daß die, welche die Völker zu regieren meinen, die Herren gegen sie spielen und ihre Großen sie vergewaltigen. So aber soll es bei euch nicht sein, sondern wer in eurem Kreis groß sein möchte, der sei euer Diener, und wer in eurem Kreis Erster sein möchte, der sei der Knecht von allen. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und Sein Leben als Lösegeld für viele zu geben" (Mk. 10, 42 ff.).
Jesus lehnt hier für Seine Jüngergemeinde die rücksichtslose Gewaltherrschaft ab, das Vergewaltigen, wie es von den zeitgenössischen Machthabern, namentlich von helleni-stischen Fürsten geübt wurde. Nicht das gewalttätige Herrschenwollen, sondern das Dienen sei das Kennzeichen des Jüngers Jesu. Im Gottesreich gebe es kein "den Herrn spielen wollen" und kein "Fühlenlassen seiner Macht", sondern liebenden Dienst, dienende Liebe. Schon der nackte Wortlaut macht deutlich, daß der Herr nicht jede Obrigkeit und Gewalt innerhalb Seiner Gemeinde, sondern nur jene Gewalt verpönen will, deren Wesen Eigennutz und Vergewaltigung ist. Noch augenfälliger hebt diesen Sinn des Jesuswortes der Evangelist Lukas (22,24 ff.) hervor, welcher es in der Fassung mitteilt: "Der Größte unter euch soll sich halten wie der jüngste, und wer an der Spitze steht, wie der, der Dienst tut." Danach setzt Jesus geradezu voraus, daß es in der Jüngergemeinde "Größte" geben soll und solche, die "an der Spitze stehen". Die Forderung der brüderlichen Demut und Liebe wendet sich also nicht gegen das Gesetz einer Über- und Unterordnung an sich, sondern gegen seinen eigennützigen Mißbrauch. Wie könnte sich sonst auch Jesus selbst als Vorbild dienender Bruderliebe hinstellen, wenn Er sich in demselben Atemzug mit feierlichem Nachdruck als den "Menschensohn" bezeichnet, d. h. als den Herrn der Zukunft und des Gerichts, als den Gewalthaber. So wenig wie Jesu Bruderdienst Seine überragende Würde als Menschensohn ausschließt, so wenig kann sich Sein Gebot der Demut und Liebe gegen das Bestehen jedweder obrigkeitlichen Gewalt wenden wollen. Es hieße also die klare Meinung Jesu verdeuten, wenn man das kirchliche Dogma von der unbedingten Oberhoheit des Papstes in einen inneren unversöhnbaren Gegensatz zum Wort Jesu von der Demut und Bruderliebe rückte. Das Gegenteil ist wahr. Gerade in der recht verstandenen Idee des Papsttums und des Bischoftums gewinnt dieses Wort seine leuchtende Erfüllung. Denn danach ist das päpstliche Amt, von der übernatürlichen Wesenheit der Kirche aus gesehen, nichts anderes als die Person gewordene Liebe, die anschaulich gewordene Liebeseinheit des Leibes Christi auf Erden. Sein Wesen ist also gerade das Gegenteil von allem Gewaltherrschertum, es ist nicht aus dem Eigennutz, sondern aus der Liebe geboren. Papsttum und Bischoftum ist göttliche Vollmacht, aber Vollmacht im Dienste der Liebe. Wohl hallt der Mahnruf des Papstes zuweilen scharf und schneidend durch die katholischen Gewissen. Es ist, wie wenn Paulus riefe: „soll ich mit der Rute zu euch kommen!" (vgl. 1. Kor. 4, 21), und zuweilen gellt sein Bannfluch "in demselben Tonfall und in derselben Sprache" (Heiler) durch die Welt wie einst der des hl. Paulus, da er den unzüchtigen Korinther aus der Gemeinde ausschloß. Allein auch diese zürnende, strafende Liebe bleibt Liebe, Liebe zur Gemeinschaft der Brüder. Der Papst hat insofern den Primat der Liebe. Und es gibt keine kirchliche Gewalt, die sich anders denn in dienender Liebe auswirken dürfte. Wehe dem Pontifex, der seinen Vorrang der Liebe zu persönlichen Zwecken, zur Befriedigung persönlicher Herrschsucht oder Habsucht oder anderer Leidenschaften mißbrauchen sollte! Er versündigt sich am Leib Christi, er vergewaltigt Jesus. Er steht unter dem Gericht wie kein anderes Glied des Leibes Christi. Wie schauerlich mag ihm das Wort des Herrn dereinst am Gerichtstag erklingen, wenn ihn der Auferstandene fragen wird: "Petrus, liebst du Mich, liebst du Mich mehr als diese?" Das ist das große, heilige Vorrecht seines Amtes, Christus und Seinen Leib mehr denn andere zu lieben, den Ehrentitel zu verwirklichen, den Gregor d. Gr. dem Papst vorbehielt: "Knecht der Knechte Gottes" zu sein. Die "Vorsitzenden", so erklärt Papst Pius XI. in seinem ersten Rundschreiben Arcanum Dei, "sind nichts anderes als Diener des allgemeinen Wohls, Diener der Diener Gottes, vor allem der Schwachen und Bedürftigen, gemäß dem Beispiel des Herrn" 4).
Das Amt des Papstes ist wesentlich Dienst an der Gemeinschaft, Liebe, Hingebung. Und wo das Amt nicht ist, wo nicht der Bischof und der Papst, sondern nur die Persönlichkeit in Betracht kommt, da gibt es in der Kirche keine Rangstufen, da gilt das Wort Jesu: "Ihr alle seid Brüder" (Mt. 23, 8). In demselben Rundschreiben hebt es derselbe Papst Pius machtvoll hervor:
"Nur in diesem Reich gibt es eine wahre Rechtsgleichheit, in welcher alle mit derselben Größe und demselben Adel ausgestattet sind, geadelt durch das gleiche kostbare Blut Christi." Im Reich Christi gibt es nur einen Adel, den der Seele. Der Träger der dreifachen Krone hat den Vorrang des Felsenamtes nicht für sich, sondern für seine Brüder. Für sich allein hat er keine größeren Christenrechte und keine kleineren Christenpflichten als der ärmste Bettler auf der Straße. Auch er, er vor allem, ist der Barmherzigkeit Gottes verhaftet und bedarf des Fürbittgebets seiner Brüder. Und wenn ihn Gewissensschuld drückt, muß auch er sich dem Richterstuhl seines Beichtvaters unterwerfen, und sei dies der schlichteste Kapuzinermönch. Und würde er gleich den Söhnen des Zebedäus zu Jesus rufen:
"Herr, verleih, daß ich zu Deiner Rechten oder Deiner Linken sitze in Deiner Herrlichkeit", so würde auch ihm sein Seelenführer das Wort entgegenhalten: "Du weißt nicht, um was du bittest. Kannst du den Kelch trinken, den Jesus trinkt?" Die Kirchengeschichte beweist jedem Unbefangenen, wie ernst und streng so viele Träger der Tiara ihre persönlichen Pflichten nahmen, wie die Erhabenheit ihres Amtes den Geist der Demut, Liebe und Hingabe nicht erstickte, sondern zu tiefster Innerlichkeit verklärte. Wohl haben diese und jene Päpste, zumal des 10. Jahrhunderts und der Renaissancezeit, dem Allzumenschlichen ihren traurigen Tribut gezollt. Allein ihre Zahl erbleicht vor der glänzenden Schar der Heiligen und Märtyrer, welche der römische Stuhl der Kirche schon geschenkt hat. Was der evangelische Theologe Walter Köhler vom Papst Pius X. niederschrieb, das gilt im wesentlichen von der überwältigenden Mehrheit der römischen Päpste: "Er hatte kein Auge für das, was Staatsgewalt im modernen Gesellschaftsgefüge heißt. Er war der Priester, der mit hocherhobener Hostie, unbekümmert um rechts oder links, seinen Heiland durch die Welt tragen wollte." Ja, den Heiland durch die Welt tragen wollen, Hingabe für Christus im Dienst der Gemeinschaft, das ist das Papsttum in seiner Idee und Wesenheit.
So ist in der Kirche aller Eigennutz, alle Gewaltherrschaft, alles Sonderrecht grundsätzlich dahin. Sie ist insofern die Erfüllung des stolzesten Traumes demokratischer Gleichheit. Die Einheit und die brüderliche Liebe hat sich hier ein Haus gebaut, ein Haus, in dem, wie Cyprian sagt und Augustin wiederholt (de bapt. c. Don. 7, 49), nur jene ihre Heimstatt haben, die eines Herzens und eines Geistes sind. Der Geist des Meisters geht durch die Räume, jener Geist, der uns das lichte Wort geschenkt hat: "Nur Einer ist euer Meister, ihr alle seid Brüder."
Anmerkungen: 1) Vgl. R. Guardini: „Vom Sinn der Kirche“ 1933, S. 11 ff., 96 ff. 2) Keiner von den Kirchenvätern hebt die mystische Einheit von Christus und den Gläubigen so eindringlich hervor wie der hl. Augustin. Von ihr aus will er das kirchliche Wesen begriffen haben. 3) F. Heiler: „Der Katholizismus, seine Idee und seine Erscheinung“ 1923, S. 40. 4) Mit Vorliebe beschreibt Augustin das kirchliche Amt als Diakonie der Liebe. Vgl. u.a. C. Faust. 22,56. |