Zum 160. Geburtstag von Wladimir Solovjeff
von Magdalena S. Gmehling
„Im grauen Morgennebel schreite ich-geheimnisvollen, wunderbaren Ufern zu“
Am 16. Januar 1853 ist der Dichterphilosoph, Wladimir Sergejewitsch Solovjew, in Moskau als Sohn des Historikers Sergius Solovjeff geboren. Die Mutter entstammte einer alten, geistig hochstehenden Familie Kleinrusslands. Der Großvater väterlicherseits war orthodoxer Geistlicher. Der Junge wuchs in einer gebildeten aber strengen und einfachen Atmosphäre auf. Schon als Kind wurde er durch die Lektüre von Heiligenlegenden zu asketischen Übungen angeregt.
Der hochbegabte Schüler erlebt auf dem Moskauer Gymnasium die Versuchung eines vulgären Materialismus, versteigt sich zu den unsinnigsten Lästerungen und findet schließlich über der Lektüre von Spinoza, Schoppenhauer und Schelling zu einem vertieften angestammten Glauben zurück. Bei seinem Magisterexamen an der historisch-philologischen Fakultät bezaubert er seine Professoren durch seine ungewöhnliche Schlagfertigkeit, seine geistige Kraft. „ Er stand da wie ein Prophet. ... Man kann Russland zu einem genialen Menschen gratulieren.“
Eine kultische Stimmung umweht diesen hageren Mann mit der wallenden Haarpracht. Die Kinder auf der Straße fragen ihre Mütter, ob er vielleicht Gottvater sei. Man hält ihn für einen Popen, bittet um seinen Segen. Knapp über zwanzig wird er zum Dozenten der Universität Moskau gewählt. Doch es treibt ihn ins Ausland. Er lässt sich beurlauben und reist nach London, um dort im Britischen Museum jenem Lieblingsgegenstand gnostisch-theosophischer Spekulation nachzuspüren, die er als metaphysische Wirklichkeit erfahren hatte, der Göttliche Sophia. Dreimal-so berichtet er-sei ihm die himmlische Weisheit leibhaftig erschienen: 1862 im Alter von neun Jahren bei einem feierlichen Gottesdienst (sie strahlte in golddurchwirktem Azurblau und winkte ihm huldvoll zu), 1875 inmitten von Büchern und Exzerpten im Britischen Museum (da war plötzlich alles erfüllt von goldenem Azur, und wiederum strahlte sie vor mir auf...), 1876 in der ägyptischen Wüste, wo er die himmlische Weisheit im Lichtschimmer der Schöpfungsfrühe gewahrt. „Da wehte es wie Rosenduft über Himmel und Erde./Und im Purpur himmlischen Glanzes,/Mit Augen voll azurenen Feuers/Blicktest du wie das erste Glänzen/Des Welt und Schöpfungstages. ...“
Die Vision von der unermesslichen Weisheit und Schönheit, von seiner ewigen Freundin (podruga wjetschnaja). wird bestimmend für sein kurzes, vielbewegtes, arbeitsreiches Leben. Solovjeff, der weder einen eigenen Hausstand besaß, noch in gesicherten Verhältnissen lebte, fühlt sich als Sprecher des neuen Rußland: „Die heilige Sophia war für unsere Vorfahren die durch die Erscheinungen der niederen Welt verhüllte himmlische Wesenheit, der lichte Geist der wiedergeborenen Menschheit, der Schutzengel der Erde, die zukünftige und endgültige Erscheinungsform der Gottheit...Dieser dem religiösen Gefühl unserer Vorfahren offenbarten, dieser wahrhaft nationalen und absolut universalen Idee müssen wir jetzt einen rationalen Ausdruck verleihen. Es handelt sich darum, das lebendige Wort zu formulieren, welches das alte Russland empfangen und welches das neue Russland der Welt zu sagen hat.“ (La Russie et l’Eglise Universelle, 321)
Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass es vor Solovjeff keine eigenständige russische Philosophie gegeben habe, ja dass er dank seiner universellen Allseitigkeit und seiner schöpferischen Persönlichkeit ein grandioses Lehrsystem aufbaute. Gesegnet mit prophetischer Weitsicht und begabt mit geradezu engelgleicher Bedürfnislosigkeit wird er seiner Zeit zum leuchtenden Vorbild. Er verteidigt Dostojewskij und dessen Lehre von der „allgemeinen Harmonie“. In der Gestalt des Alioscha setzt der Dichter in seinem Romanepos „Die Brüder Karamasow“ Solovjeff ein literarisches Denkmal. „Wir sind weite Naturen, weit wie unser Mütterchen Russland, wir umfangen alles, wir leben uns in alles ein ...“ (Aus der Rede des Staatsanwaltes/Brüder Karamasow).
Berühmt ist Solovjeffs Brief an Zar Alexander III. vom April 1881. Er nimmt darin auf seine Rede vom 28. März 1881 Bezug, in welcher er um Gnade für die Zarenmörder (Alexanders II.) bittet. In der Folgezeit wird er immer mehr zur persona non grata. Er wendet sich allmählich ab von der Russisch-Orthodoxen Kirche, deren enge Bindung an den russischen Staat er dafür verantwortlich macht, dass sie ihre prophetische Mission nicht erfüllt. In der Römisch-Katholischen Kirche sieht er die christlichen Prinzipien klarer vertreten. Dennoch vollzieht er keinen Übertritt, sondern wird sich „so eng an Rom anschließen, wie sein Gewissen es ihm erlaubt.“ Dr. L. Kobilinski Ellis schreibt 1926 in seinem Vorwort zu Monarchia Sancti Petri: „Die Lehre Wladimir Solowjews über die Monarchie des heiligen Petrus als über die freie und universelle Theokratie beruht auf dem Fundament seiner allseitigen Betrachtung des Primates Petri. Seine Auffassung des Papsttums und des Primates ist zugleich traditionell-orthodox und originell. Deshalb bildet sie eine harmonische Ergänzung der bestehenden rein theologischen (patristischen und scholastischen) Konzeptionen der universell theokratischen Idee und des Primates als deren Mystik und Philosophie. Dadurch offenbaren sich alle ewigen Grundprinzipien der christlichen Theokratie in einem neuen Licht und Sinne, im mystischen Lichte der Weisheit (Sophia) und im Sinne der universellen Synthese zwischen Osten und Westen, zwischen kontemplativer Religion und spekulativer Philosophie, im Aspekte des weltgeschichtlichen Prozesses und des eschatologischen Terminus.“
Immer eindringlicher ventiliert Solovjeff gegen Ende seines Lebens das Problem von Gut und Böse. Er beschäftigt sich mit den Vorarbeiten zur einer Ästhetik und Erkenntnistheorie und schließt das Riesenwerk seiner über 600 Seiten umfassenden Moralphilosophie ab. In den „Sonntags-und Osterbriefen“ steht das letzte und berühmteste Traktat: „Drei Gespräche über Krieg, Fortschritt und das Ende der Weltgeschichte mit Einschluss einer kurzen Erzählung vom Antichrist“ (1899/1900). In Solovjeffs apokalyptischer Ideenwelt findet sich die Vorstellung, dass die Geschichte weder ein endloser Fortschritt, noch eine Kreisbewegung, sondern ein zielgerichteter auf ein Ende zusteuernder Prozess ist. Eine gottfeindliche Geschichtsmacht (der Antichrist) wird –so legt er dar- im 21. Jahrhundert mit geballter Stärke auftreten. Die Endzeit bricht an nach einer Vereinigung der Kirchen und einer Erneuerung in Christus:
„...die nächtliche Dunkelheit erhellte sich plötzlich durch einen hellen Glanz, und ein mächtiges Zeichen erschien am Himmel-ein Weib, mit der Sonne bekleidet, unter ihren Füßen der Mond, und um ihr Haupt ein Strahlenkranz von zwölf Sternen. Die Erscheinung stand eine Weile still, und dann bewegte sie sich langsam gen Süden. Papst Petrus hob seinen Krummstab und rief aus: ‚Das ist unsere Fahne! Folgen wir ihr! Und er ging in der Richtung der Erscheinung, begleitet von den beiden Ältesten und der ganzen Schar der Christen-zum Berge des Herrn, zum Sinai...“. (Solovjeff, Sonntagsbriefe 19. S. 289)
Den Dichterphilosophen vom Rang eines Böhme, Novalis, Görres ereilte der Tod 47 jährig am 13. August 1900 auf dem Landgut des Fürsten Sergej Trubetzkoj in Uskoje, nahe Moskau. 12 Tage nach ihm wird Nieztsche sterben. Seinem Übermenschen hatte der Russe die christliche Gnosis vom Gottmenschentum entgegengesetzt. Bemerkenswert und von brennender Aktualität ist eine Bemerkung, die Solovjeff einen Monat vor seinem Tod tieftraurig und mit zitternder Stimme seinem Freund Welitschko gegenüber machte. Er hatte diesem mitgeteilt, dass es ihn sehr danach verlange mit anderen Menschen beim Gottesdienst beisammen zu sein, statt in der Einsamkeit zu beten. Welitschko ermunterte ihn, in die Kirche zu gehen. Darauf gab er die seltsame Antwort : „...Ich spüre, dass die Zeiten nahe sind, wo die Christen sich wieder in Katakomben zum Gebet versammeln werden, weil der Glaube verfolgt wird-vielleicht nicht so scharf wie in den Tagen Neros, dafür aber in feinerer und grausamerer Weise: durch Lüge, durch Verhöhnung, durch Fälschungen-und wer weiß, wodurch sonst noch alles! Siehst du denn nicht wer heranrückt? Ich sehe ihn, ich sehe ihn, ich sehe ihn schon lange!“
Wladimir Solovjeff ist im Neuen Jungfrauenkloster in Moskau neben seinem Vater begraben. Noch heute ist seine letzte Ruhestätte stets mit frischen Blumen geschmückt. In der Seele des Volkes lebt er weiter, so eigenartig und stark, wie es nur bei den Slawen denkbar ist. Der Symbolist und Neuerer im „Silbernen Zeitalter“ der russischen Literatur, Andrei Bjely (1880-1934), schreibt über ihn: „Die Menschen sehen ihn oft in Gedanken versunken am Altare irgendeines Gotteshauses stehen. ... Zu anderen Malen schreitet er nächtlicher Weile mit wehendem Mantel über die Zinnen und Dächer der schlafenden Stadt. Wer mag es sein, der seiner bedarf? Wohin eilt Wladimir Solovjeff? Er eilt zu den schlafenden Menschen und nimmt aus ihren Herzen die Furcht und das Grauen, das sie packt vor dem, was da herannahen will, was sich schon mit blutigroten Schleiern über die russische Erde herabsenkt, und was die Seelen angsterfüllt herannahen fühlen.“ („Symphonien“, Moskau 1902)
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Weiterführende Literatur: Wladimir Solovjeff: Nationale und politische Betrachtungen. Stuttgart 1922 Wladimir Solovjeff: Sonntags-und Osterbriefe. Stuttgart 1922 Wladimir Solovjeff: Zwölf Vorlesungen über das Gottmenschentum. Stuttgart 1922 Wladimir Solovjeff: Die Rechtfertigung des Guten: Stuttgart 1922 Wladimir Solovjeff: Die geistigen Grundlagen des Lebens. Stuttgart 1922 Wladimir Solovjeff: Monarchia Sancti Petri. Mainz 1929 Wladimir Solovjeff: Übermensch und Antichrist. Herder 1958 Wladimir Solovjeff in Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Europa II. Seine geistigen Quellen in Portrtäts aus zwei Jahrtausenden. S. 280 ff |