Die Verhandlung vor dem Synedrium
(aus: Josef Blinzler: "Der Prozess Jesu" Regensburg 1955, S. 67 ff.)
Wenn Annas und sein Schwiegersohn verschiedene Flügel eines und desselben Gebäudes bewohnten 1) , wie es die evangelischen Verleugnungsberichte zu empfehlen scheinen 2), dann beanspruchte die Abführung Jesu in den Verhandlungsraum nur einige Minuten. Was immer der Grund gewesen sein mag, warum als Sitzungsort nicht das gewöhnliche Lokal gewählt wurde 3), die Angaben der Synoptiker lassen kaum einen Zweifel darüber offen, daß Jesus im Hause des Kaiphas (Mk 14, 53f), und zwar in einem der Obergemächer (Mk 14, 66), dem Synedrium vorgestellt wurde.
Der Beginn der Verhandlung fiel noch in die Nachtzeit; im Hof unterhielt das dort lagernde Dienstpersonal zum Schutz gegen die Nachtkälte ein Feuer. Wegen des unmittelbar bevorstehenden Paschafestes war Eile geboten. Überhaupt pflegten Verhaftete, da das jüdische Strafrecht eine Untersuchungshaft als Normaleinrichtung nicht kannte, sofort nach der Festnahme vor Gericht gestellt zu werden.
Bei Kaiphas fanden sich "alle Hohenpriester und Ältesten und Schriftgelehrten" (Mk 14, 53) ein, also genau die drei Personenkategorien, die nach Josephus das große Synedrium bildeten. Es ist der oberste jüdische Gerichtshof, der sich nun mit Jesus befaßt. Neben dem amtierenden Hohenpriester, der den Vorsitz führte, gehörten ihm siebzig Mitglieder an 4). Die Angabe des Markus, daß "alle" Synedristen bei Kaiphas zusammengekommen seien, braucht man, wie ähnliche volkstümliche Hyperbeln des Evangelisten zeigen, nicht unbedingt wörtlich zu nehmen; zu dieser ungewöhnlichen Stunde mögen einzelne gefehlt haben. Sicher aber war die Versammlung vollzählig im Sinne der Beschlußfähigkeit; dazu genügte nach der Mischna die Anwesenheit von 23 Mitgliedern 5).
Es wäre uns nun sehr willkommen, wenn wir über die Persönlichkeiten, die dieser historischen Sitzung beiwohnten, Näheres wüßten. Leider lassen uns hier die Evangelien sehr im Stich. Ihre spärlichen Angaben aber können durch einige außerbiblische Nachrichten und Andeutungen ergänzt werden.
Der einzige von den Evangelien mit Namen genannte Sitzungsteilnehmer ist der Hohepriester Kaiphas. Joseph mit dem Beinamen Kaiaphas, wie er bei Josephus (Ant. 18, 2, 2 § 35; 18, 4, 3 § 95) heißt, muß ein gewiegter Diplomat gewesen sein. Er hat es fertig gebracht, sich neunzehn Jahre lang, von 18 bis 37 n. Chr., an der Macht zu halten - eine Rekordzeit, die im ganzen Jahrhundert von keinem anderen auch nur annähernd erreicht wurde; an nächster Stelle rangieren Ananias mit zwölf, Annas mit neun und Theophilus mit rund vier Jahren, und knapp vier Jahre waren überhaupt die durchschnittliche Amtsdauer der 28 letzten Hohenpriester in den 107 Jahren vom Regierungsantritt des Herodes bis zum Untergang des Tempels 6). Die römischen Prokuratoren haben mit den Trägern dieses Amtes gern gewechseIt; denn sie benützten die Gelegenheit der Stellenneubesetzung dazu, sich von dem erfolgreichen Kandidaten honorieren zu lassen. Im Talmud (Joma 8b) ist die unerfreuliche Tatsache noch festgehalten: "Und da man Geld zahlte, um Hoherpriester zu werden, pflegten sie - d. h. die Prokuratoren - den Hohenpriester alle zwölf Monate abzusetzen". Auch Valerius Gratus, von 15 bis 26 n. Chr. Prokurator Judäas, durch den Kaiphas zu Amt und Würde kam, muß für Bestechung empfänglich gewesen sein, hat er doch keinen der drei Vorgänger des Kaiphas länger als ein Jahr im Amt belassen (Ant. 18, 2, 2 § 3M). Die Mühe, auf dem umständlichen Weg der Umbesetzung des Postens zu Geld zu kommen, wird ihm Kaiphas erspart haben. An den entsprechenden Mitteln mangelte es diesem gewiß nicht; der Talmud enthält die Vorschrift, daß der Hohepriester die übrige Priesterschaft durch Reichtum zu überragen hatte 7). Nicht weniger bemerkenswert ist es, daß Kaiphas sich auch während der ganzen Prokuratur des Pontius Pilatus (26-36 n. Chr.) zu halten vermochte, eines Beamten, dem die Zeitgenossen außer Brutalität gerade seine Bestechlichkeit vorwerfen 8). Erst der Sturz dieses Römers brachte auch seinen Günstling zu Fall: Bald nachdem Pilatus durch den syrischen Legaten Vitellius abgesetzt worden war, mußte Kaiphas abtreten; freilich tat er es nur, um den Söhnen seines Schwiegervaters Platz zu machen, so daß praktisch die Macht in den alten Händen blieb. Wie skrupellos Kaiphas gegen alles vorging, was seiner Machtstellung gefährlich werden konnte, das hat er in der Sitzung gezeigt, die zum amtlichen Beschluß der Beseitigung Jesu führte (Joh 11, 50. 53). Einer solchen Kraftnatur konnte der arme Handwerkerssohn aus Nazareth, selbst wenn dieser beim gemeinen Volk hoch in Ehren stand, nicht imponieren. Gerade deswegen, weil er der Herrscherkaste das Volk zu entziehen drohte, mußte er der Staatsräson, wie ein Kaiphas sie verstand, geopfert werden.
Das Kollegium, dem der Hohepriester präsidiert, besteht aus drei Gruppen: den Hohenpriestern, den Ältesten und den Schriftgelehrten. Die erste Gruppe, die der Hohenpriester, setzt sich zunächst aus den ehemaligen Inhabern des Hohenpriesteramtes zusammen. Von denen, die damals dazu gehörten, kennen wir bereits Annas und seinen ältesten Sohn Eleazar. Wahrscheinlich waren zur Zeit Jesu auch der Vorgänger und der Nachfolger des letzteren noch am Leben. Vorgänger des Eleazar im Hohenpriesteramt war Ismael 1., Sohn des Phiabi, Hoherpriester von 15-16 n. Chr. Er gehörte einer Familie an, die wegen ihrer rücksichtslosen Gewaltherrschaft den nachfolgenden Geschlechtern in unliebsamer Erinnerung geblieben ist 9), Eleazars Nachfolger war Simon, Sohn des Kamithos, Hoherpriester von 17-18 n. Chr. Er hat insofern tragikomische Berühmtheit erlangt, als er am höchsten Ehrentag eines Hohenpriesters, am Versöhnungsfest, nicht fungieren durfte, weil er am Abend zuvor durch den Speichel eines Arabers getroffen und dadurch schwer verunreinigt worden war; da sein Bruder für ihn die hohepriesterliche Funktion des Versöhnungstages vollzog, eine solche Stellvertretung aber den Charakter eines Hohenpriesters verlieh, wurde dieser fortan in der Liste der amtierenden Hohenpriester mitgezählt, so daß beide Brüder künftig im Synedrium Sitz und Stimme hatten 10). Außer diesen Exhohenpriestern gehörten wenigstens noch fünf Oberpriester in die Gruppe der "Hohenpriester", nämlich der Tempeloberst, der priesterliche Tempelaufseher und drei Tempelsohatzmeister 11). Der wichtigste unter diesen hohen Kultusbeamten war der Tempeloberst. Er hatte dem Hohenpriester bei feierlichen Kulthandlungen zu assistieren, wurde eine Woche vor dem Versöhnungsfest zu seinem Stellvertreter bestimmt, beaufsichtigte den Kultus und die diensttuende Priesterschaft und hatte die oberste Polizeigewalt im Tempel inne. Wenn nicht alles trügt, können wir den Namen des damaligen Inhabers dieser Charge sogar noch angeben. Es läßt sich nämlich zeigen, daß der Tempeloberst aus der Reihe der nächsten Verwandten des amtierenden Hohenpriesters genommen zu werden pflegte; außerdem überliefert der palästinensische Talmud, daß keiner zum Hohenpriester ernannt wurde, der nicht zuvor Tempeloberst gewesen war 12). Da nun der Nachfolger des Kaiphas tatsächlich einer seiner nächsten Verwandten war, sein Schwager Jonathan, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß dieser zur Zeit Jesu den wichtigen Posten eines Tempeloberst bekleidete. Eine alte Lesart zu Apg 4, 6 bestätigt diese Vermutung insofern, als sie einem hervorragenden Mitglied des Synedriums den Namen Jonathan gibt. Dieser Annas-Sohn hat später noch eine große Rolle in der jüdischen Geschichte gespielt, so im Jahre 52 n. Chr. als Führer einer wichtigen Gesandtschaft beim Statthalter Ummidius Quadratus und bald darauf als Überbringer einer Petition an den römischen Kaiser, der auf Jonathans Vorschlag hin die Verwaltung über Palästina dem Prokurator Antonius Felix übertrug 13), Jonathan, der an der Verhaftung Jesu vielleicht unmittelbar beteiligt war, endete unter den Dolchen von Meuchelmördern, die ausgerechnet der von ihm früher protegierte Felix gedungen hatte 14). Weniger bestimmt läßt sich sagen, ob die beiden anderen Annas-Söhne, die bald darauf zum Hohenpriesteramt aufstiegen, Theophilus und Matthias, zur Zeit des Jesusprozesses schon dem Synedrium angehörten; möglicherweise waren sie damals Tempelschatzmeister und hatten als solche Sitz und Stimme. Aber das Bild dieser Synedriumsgruppe ist ohnehin schon deutlich genug: Diese herrschsüchtigen, verweltlichten und gewissenlosen Hierokraten konnten kein Verständnis aufbringen für das Geheimnis von Jesu Persönlichkeit und Botschaft.
Die zweite Gruppe im Synedrium, die Ältesten, stellten die einflußreichsten Laiengeschlechter Jerusalems 15). Es scheint sich vorwiegend um vermögende Grundbesitzer gehandelt zu haben. Einen von ihnen kennen wir mit Namen, Joseph von Arimathäa, der außerhalb des Stadtbezirks ein Grundstück mit Garten besaß, wo er bekanntlich Jesu Leichnam bestatten ließ. Ob dieser angesehene Ratsherr, der als geheimer Jünger Jesu bezeichnet wird und dem Todesurteil gegen Jesus gewiß nicht zugestimmt hat (Lk 23, 51), der Prozeßverhandlung ganz fern geblieben ist oder sich vorzeitig entfernt hat, können wir nicht sagen. Obwohl sonst über keinen Vertreter dieser Gruppe Näheres bekannt ist, wird man annehmen dürfen, daß der Laienadel im Durchschnitt keine besseren Qualitäten aufwies als der Priesteradel. Die dritte Gruppe schließlich bildeten die Vertreter der Zunft der Schriftgelehrten. Während die Hohenpriester und Ältesten sich wohl so gut wie restlos zur sadduzäischen Richtung bekannten 16), kam durch die Schriftgelehrten die Partei der Pharisäer in der Regierung zu Wort. Den Zugang zum Synedrium hatten sich die Pharisäer unter der Königin Alexandra-Salome 76 v. Chr. erkämpft und sie verstanden es, trotz einiger Rückschläge einige Zeit vor dem Tod Herodes 1., hier ihren Einfluß immer nachdrücklicher zur Geltung zu bringen. Da das Synedrium nicht nur Regierungs-, sondern vor allem auch Justizbehörde war, Rechtsentscheidungen aber schriftgelehrte Bildung voraussetzten, konnte es gar nicht ausbleiben, daß die theologisch-juristisch geschulten Führer der Pharisäerpartei sich mehr und mehr unentbehrlich machten, mag auch der sadduzäische Priester- und Laienadel einige Schriftgelehrte im Synedrium gehabt haben. Waren die Hohenpriester und Ältesten die Vertreter der plutokratischen Herrenschicht, so die Schriftgelehrten die Anwälte des Kleinbürgertums, aus dessen Reihen die meisten Mitglieder der pharisäischen Bewegung kamen. Zur Zeit Jesu müssen diese im Synedrium bereits eine Machtstellung besessen haben, die der ihrer sadduzäischen Opponenten nur wenig nachstand. An Energie und Fanatismus haben sie diese möglicherweise noch übertroffen. Sehr lehrreich ist eine Bemerkung im Johannesevangelium, die offenbar "auf eigener guter Kenntnis der Verhältnisse in Jerusalem zur Zeit Jesu fußt "17, Es heißt dort, daß viele Männer des Synedriums an Jesus geglaubt, aber um der Pharisäer willen es nicht bekannt haben, damit sie nicht in den Bann getan würden. Schon bei den ersten Versuchen, Jesus zu verhaften, waren die Pharisäer die treibende Kraft (Joh 7, 32. 47). Da sie mit grenzenloser Verachtung auf das "verfluchte Volk, das das Gesetz nicht kennt" (Joh 7,49), herabblickten, hätten sie auch für den ungebildeten Prediger aus Nazareth und seinen Anhang nichts weiter als Verachtung übrig gehabt, wenn nicht sein offener Kampf gegen sie und seine wachsenden Erfolge in der Bevölkerung ihre Verachtung in grimmigen Haß verwandelt hätten.
Aber auch unter ihnen gab es Männer, in denen das Gefühl für Wahrheit und Recht nicht erstorben war. Als einer von diesen ist uns Nikodemus bekannt. Dieser angesehene pharisäische Schriftgelehrte und Synedrist hatte einst in nächtlicher Stunde bei Jesus Belehrung gesucht und gefunden (J oh 3,1-31). Später hatte er es trotz seiner Ängstlichkeit gewagt, seinen pharisäischen Kollegen ins Gewissen zu reden: "Richtet etwa unser Gesetz den Menschen, wenn man nicht vorher von ihm gehört und erkannt hat, was er tut?" Man hatte ihm brüsk geantwortet: "Bist auch du aus Galiläa? Forsche nach, dann wirst du sehen: Aus Galiläa steht kein Prophet auf" (Joh 7, 50-52). Vielleicht ist dieser Mann, der nach Jesu Tod für die würdige Bestattung der Leiche große Opfer gebracht hat (Joh 19, 39), mit dem in der jüdischen Überlieferung mehrfach genannten Nakdemon (= Nicodemus) ben Gorjon identisch. Dieser war ein angesehener Thoragelehrter und gehörte zu den drei schwerreichen Jerusalemer Bürgern, die sich erboten, die ganze Stadt während der Belagerung durch Titus aus ihren eigenen Vorräten zu versorgen. Als nach dem Fall Jerusalems Nakdemons Reichtum in nichts zerflossen war, beobachtete der berühmte Jochanan ben Zakkai (+ um 80 n. Chr.) einmal, wie Nakdemons Tochter aus dem Straßenkehricht Gerstenkörner zusammensuchte, um ihren Hunger zu stillen 18). Da der Nakdemon der jüdischen Überlieferung nirgends als Christ kenntlich gemacht wird, kann er mit dem Nikodemus des Jobannesevangeliums nur dann identifiziert werden, wenn man annimmt, seine Ängstlichkeit habe ihn auch später vor einem offenen Bekenntnis zu Christus zurückgehalten. Außer ihm kennen wir noch einen pharisäischen Schriftgelehrten, der damals Mitglied des Synedriums gewesen sein muß. Es ist Gamaliel 1., jener gefeierte Gesetzeslehrer, zu dessen Füßen, wenn nicht zu eben jener Zeit, so doch unmittelbar darauf, der junge Saulus aus Tarsus studierte (Apg 22, 3). Gamaliel, der in der Mischna mehrmals als hervorragende Autorität zitiert wird, hat im Synedrium kurz nach Pfingsten bei einer Verhandlung gegen die Apostel auf deren Freilassung plädiert mit der Begründung, daß ihr Werk, wenn es von Menschen sei, ohnedies zerfallen werde, wenn es aber von Gott sei, nicht bekämpft werden dürfe (Apg 5, 34-39). Wir würden gerne wissen, wie dieser offensichtlich um gerechte Entscheidungen besorgte Gelehrte sich im Prozeß Jesu verhalten hat. Hätte er sich gegen das Todesurteil ausgesprochen, dann würde die christliche Überlieferung dies doch wohl ebenso festgehalten haben, wie die Apostelgeschichte sein Eintreten für die Jünger und das Johannesevangelium die Äußerung des Nikodemus erzählen. Ob Gamaliel nun an Jesu Verurteilung mitwirkte oder nicht, jedenfalls war er innerhalb seiner Fraktion ein Ausnahmefall.
Was den äußeren Rahmen einer Synedrialverhandlung betrifft, so erfahren wir darüber einiges in der Mischna, die in diesen technischen Details vielleicht alte Verhältnisse wiedergibt. Danach saßen die Synedristen, um sich gegenseitig anblicken zu können, im Halbkreis auf erhöhten Plätzen 19). Rechts und links vor ihnen standen zwei Gerichtsschreiber, die alles, was an Argumenten für oder gegen den Angeklagten vorgetragen wurde, zu Protokoll brachten. In der Mitte war der Platz für den Angeklagten und die auftretenden Zeugen und dahinter befanden sich in drei Reihen die Gelehrtenschüler, die am Boden Platz nehmen mußten 20). Erst nachdem die Entlastungsgründe vorgebracht waren, durften die Belastungsmomente zur Sprache kommen. In Kapitalprozessen konnte der Freispruch auf Grund der Aussage eines einzigen Zeugen erfolgen, Schuldsprechung dagegen erforderte übereinstimmende Aussagen von mindestens zwei Zeugen 21). Da die letzte Bestimmung schon im Alten Testament verankert ist 22), hat sie im Prozeß Jesu sicher Geltung gehabt.
Nach dem Bericht des Markus begann die Verhandlung gegen Jesus mit der Beweisaufnahme: "Das ganze Synedrium suchte Zeugnis gegen Jesus, um ihn zu töten" (Mk 14, 55). Daß ein Todesurteil gefällt werden soll, steht fest; dagegen steht nicht fest, womit es begründet werden soll. Wenn von Entlastungszeugen nichts gesagt wird, so kann das an der Lückenhaftigkeit der Überlieferung liegen, der es sichtlich bloß darauf ankommt, die zur Verurteilung führenden Hauptetappen aufzuzeigen. Es ist aber auch möglich, daß Entlastungszeugen ganz fehlten, sei es, daß man solche gar nicht zuließ, sei es, daß keiner es wagte, für den Angeklagten vor seinen notorischen Verfolgern Partei zu ergreifen, sei es, daß für diese plötzlich einberufene Nachtsitzung ein als Zeuge geeigneter Anhänger Jesu nicht aufzutreiben war; die Jünger waren ja geflohen. Man darf annehmen, daß die Evangelisten, falls sie von einem Entlastungszeugnis etwas gewußt hätten, dies nicht mit Stillschweigen übergangen hätten, da ein solches Zeugnis nicht bloß einen wirksamen Kontrast zu der schließlichen Verurteilung, sondern auch einen willkommenen Anknüpfungspunkt für die christliche Apologetik abgegeben hätte; die apokryphen Pilatusakten lassen denn auch vor dem römischen Tribunal ein ganzes Dutzend laudatores auftreten. Wahrscheinlich haben also nur Belastungszeugen ausgesagt. Ob damit die Prozeßordnung verletzt wurde, wird noch zu prüfen sein.
Im jüdischen Prozeßverfahren, das keinen offiziellen Ankläger kennt, dienten als Ankläger die Zeugen. Trotz der Nachtzeit stehen sie schon bereit. Sie hatten ebenso wie die Synedristen, da ja Jesu Verhaftung mindestens seit dem Vorabend vorauszusehen war, noch leicht verständigt werden können. Man hat aus ihrem prompten Erscheinen vielfach geschlossen, daß sie von den Synedristen präpariert oder gar bestochen 23) waren. Das würde zwar ganz zum Bild des Kaiphas und seiner Genossen passen, ist aber nicht beweisbar. Daraus, daß die Zeugen sich schließlich wegen mangelnder Übereinstimmung als unbrauchbar erweisen, kann anderseits auch nicht allzu viel gefolgert werden. Es könnte ja auch ein Regiefehler unterlaufen sein; man hat zu bedenken, daß die Zeugen ihre Erklärung einzeln, mündlich, in Gegenwart der Richter und des Beschuldigten abgeben mußten und daß ihre Aussagen wertlos waren, wenn sie auch nur in der geringfügigsten Nebensache voneinander abwichen.
Zuerst wurde eine größere Anzahl von Belastungszeugen aufgerufen und vernommen, über deren Aussagen nichts weiter verlautet, als daß sie nicht übereinstimmten und somit ungültig waren. Auf welche Vorfälle oder Jesusworte diese Zeugengarnitur Bezug nahm, wissen wir also nicht. Es läßt sich denken, daß Vorkommnisse wie die Tempelreinigung oder der Einzug in Jerusalem oder die vermeintlichen Sabbatverletzungen oder schließlich auch manche der messianischen Selbstzeugnisse Jesu hier zur Sprache kamen, aber da die Quellen keinen Anhaltspunkt bieten, ist es müßig, darüber Vermutungen anzustellen.
Nach dem Versagen der ersten Zeugen treten einige (nach Matthäus: zwei) 24) weitere auf, über deren Aussage wir näher unterrichtet werden. Sie behaupteten: "Wir haben ihn sagen hören: Ich will diesen mit Händen gemachten Tempel abbrechen und in drei Tagen einen anderen aufbauen, der nicht mit Händen gemacht ist" (Mk 14, 58). Tatsächlich hat Jesus einmal dieses oder doch ein ähnliches Wort gesprochen. Nach dem vierten Evangelisten, der es als einziger innerhalb der Geschichte von Jesu Wirksamkeit bringt, hatte es folgenden Wortlaut: "Brecht diesen Tempel ab, und ich werde ihn in drei Tagen wieder erstehen lassen" (Joh 2, 19). Dieses im Angesicht des Jerusalemer Tempels gesprochene Rätselwort verstanden die Jünger nach Jesu Auferstehung vom Tempel seines Leibes (Joh 2, 21f). Die Zeugen wollen natürlich das Wort als vermessene Drohung gegen das jüdische Nationalheiligtum verstanden wissen. Falls im gegenwärtigen Markustext die Zeugenaussage und im Johannesevangelium die Rede Jesu wörtlich wiedergegeben sind, haben die Ankläger dem Ausspruch eine die Drohung noch mehr unterstreichende Fassung gegeben: "Ich will niederreißen" statt "brecht ihn ab".
Diese Beschuldigung war gefährlich, wie eine Episode aus dem Leben des Jeremias beweist. Als der große alt-testamentliche Prophet einmal den Untergang des Tempels vorausgesagt hatte, war er von den Priestern und Propheten als todeswürdiger Verbrecher vor den königlichen Gerichtshof gestellt worden (Jer 26, 1-19). Im Falle Jesu kam erschwerend hinzu, daß er, wenigstens nach der Behauptung der Zeugen oder eines von ihnen, nicht bloß von einer kommenden Tempelkatastrophe sprach, sondern sich ausdrücklich als denjenigen bezeichnete, der sie herbeiführen werde. Zerstörung von Kultgebäuden gehörte in der ganzen Antike zu den schwersten Delikten 25). Speziell den Juden mußte bei der einzigartigen Stellung, die der Tempel in ihrem religiösen Leben einnahm, schon die bloße Androhung eines Attentates auf ihn als todeswürdiges Verbrechen erscheinen; ein übelwollendes Gericht konnte daraus leicht eine Gotteslästerung konstruieren (Lev 24,16). Wäre es auf Grund dieser Anklage zu einem Schuldspruch gekommen, dann wäre er eine evidente Ungerechtigkeit gewesen. Denn was immer der ursprüngliche Sinn des Tempelwortes gewesen sein mag, ganz bestimmt hat Jesus während seines öffentlichen Wirkens niemals sich mit der Absicht getragen, das Tempelgebäude zu zerstören oder zerstören zu lassen. Nach seinen eigenen klaren Worten erwartete er den Untergang von Stadt und Tempel durch ein Gottesgericht (Mk 13, 1 f). Aber das Tempelwort bildete gar nicht die Grundlage für das schließliche Todesurteil. Markus sagt ausdrücklich, daß auch in diesem Fall die Zeugenaussagen differierten - inwiefern, ist nicht zu erkennen - und somit wertlos waren und daß die Inquisition weiterging. Wenn einige Forscher trotzdem den Grund der Verurteilung Jesu in der angeblichen Tempel-Lästerung sehen wollen 26), so müssen sie die Verse 61b bis 62 in Markus 14 streichen, wozu kein Recht besteht; und ihr Hinweis auf Markus 15, 29, wonach man dem am Kreuze Hängenden spöttisch sein Tempelwort vorgehalten hat, verfängt deswegen nicht, weil dieser Zuruf auch dann begreiflich ist, wenn das Tempelwort im Prozeß nur eine Nebenrolle gespielt hat 27).
Die Einvernahme der Zeugen hat also das von den Richtern gewünschte Resultat nicht erbracht. Man geht daher dazu über, den Angeklagten selbst zu befragen. Jesus soll zu den vorgebrachten Beschuldigungen Stellung nehmen. Wenn er sie oder eine davon bestätigt, dann wäre der Mangel an Übereinstimmung unter den Zeugen wettgemacht und ein fester Anhaltspunkt für die Verurteilung gegeben.
Der Hohepriester selbst übernimmt als Präsident des Gerichtshofes die Befragung. Er erhebt sich vom Sitz, tritt in das Mittelfeld vor, wo der Angeklagte mit den Zeugen steht, und fragt ihn: "Erwiderst du nichts zu dem, was diese gegen dich bezeugen?" Aber Jesus würdigt ihn keiner Antwort. Er lehnt es ab, vor diesem offensichtlich böswilligen Gremium über sein Tun und Lehren eine Erklärung abzugeben, die doch nur auf Unverstand und Unglauben stoßen würde. Sein beharrliches Schweigen verbaut dem Gerichtshof die Möglichkeit, aus dem Zeugenmaterial doch noch Kapital zu schlagen.
Damit ist die Verhandlung auf einem toten Punkt angekommen. Und diese Erkenntnis veranlaßt Kaiphas nun zu einem Schritt, den er, wie es scheint, gern vermieden hätte. Er sucht auf direktem Weg eine Entscheidung herbeizuführen. Schon das Wort vom Abbruch und Wiederaufbau des Tempels hatte für das damalige Judentum messianischen Klang; denn von der messianischen Zeit erwartete man eine Erneuerung des Tempels in Glanz und Herrlichkeit 28). Außerdem hatte Jesus durch verschiedene Äußerungen und Handlungen bei seinen Gegnern unzweifelhaft schon des öfteren wenigstens den Verdacht erweckt, die messianische Würde zu beanspruchen 29). Darum nun stellt Kaiphas, der endlich zum Ziel kommen will, die direkte Frage nach Jesu messianischer Selbstauffassung: "Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?" (Mk 14, 61). Der Ausdruck "Sohn des Hochgelobten" - da der Name "Gott" nicht ausgesprochen werden durfte, wird er von Kaiphas umschrieben mit "der Hochgelobte" - ist Apposition zu "Messias" und muß daher in wesentlich gleicher Bedeutung wie dieser Name, d. h. als messianischer Ehrentitel gebraucht sein 30). Da nun das Judentum einen rein menschlichen Messias erwartete 31); kann die Frage des Kaiphas nach der Gottessohnschaft nicht als Frage nach der göttlichen Wesenheit gemeint sein. Über Jesu Messiasanspruch will der Hohepriester Bescheid und nur über diesen.
Der Bericht des Markus (und des Matthäus) ist so angelegt, daß diese Frage als der Höhepunkt des ganzen bisherigen Prozesses erscheint. Matthäus unterstreicht dies noch dadurch, daß er den Hohenpriester seine Frage mit einer feierlichen Beschwörung einleiten läßt: "Ich beschwöre dich beim lebendigen Gott, daß du uns sagest ... " (Mt 26, 63). Kein unvoreingenommener Leser eines der beiden Evangelien kann sich dem Eindruck entziehen, daß von der nun folgenden Antwort Jesu Erfolg oder Mißerfolg der Pläne seiner Widersacher abhängt. Lautet die Antwort "ja", dann haben sie gewonnen, kommt ein "Nein", dann können sie ihre Hoffnungen begraben. Das heißt aber: Wenn Markus und Matthäus den Prozeßverlauf im wesentlichen richtig schildern - und daran zu zweifeln, besteht kein triftiger Grund -, dann waren die Synedristen entschlossen, Jesus im Falle einer bejahenden Antwort für überführt zu halten; sie beabsichtigen, die offene und klare Beanspruchung der Messiaswürde durch Jesus als Kapitalverbrechen zu behandeln.
Diese Schlußfolgerung, so selten sie gezogen wird, ist nahezu zwingend. Es gibt nur einen Weg ihr auszuweichen, nämlich die Annahme, daß die Frage des Hohenpriesters nur den Auftakt zu weiteren inquisitorischen Prozeduren bilden sollte, in deren Verlauf man dem Angeklagten irgendeine gravierende Aussage abzuringen hoffte. Aber die Kaiphasfrage erweckt keineswegs den Eindruck, als ob damit auf ein entferntes Ziel hingearbeitet würde; sie verlangt nichts anderes als ein Ja oder Nein. Jesus hatte bisher geschwiegen. Daß er sich nun plötzlich auf lange Wechselreden einlassen werde, war nicht anzunehmen. Der Hohepriester sucht also jetzt eine unmittelbare Entscheidung zu erzwingen; für ihn ist die an den Angeklagten gerichtete Frage gleichbedeutend damit, ob dieser sich schuldig bekennt oder nicht.
Man hat gegen diese Auffassung eingewendet: Die Synedristen durften das bloße messianische Selbstzeugnis Jesu nicht zur Grundlage eines Todesurteils machen 32). Wer so argumentiert, geht von der Voraussetzung aus, daß das Synedrium ein sachlich begründetes und gerechtes Urteil gefällt habe. Ob diese Voraussetzung zutrifft, muß sich jedoch erst zeigen; mit aprioristischen Erwägungen kann diese Tatsachenfrage jedenfalls nicht entschieden werden. Es steht zwar fest, daß der jüdische Gerichtshof bei der Verwertung der Zeugenaussagen die legalen Formen eingehalten hat; das besagt aber noch nicht, daß er sich auch bei der Urteilsfällung genau nach dem Buchstaben und Geist des Gesetzes gerichtet hat. Zeugenaussagen, die wegen mangelnder Übereinstimmung nichtig waren, einem Todesurteil zugrunde zu legen, wäre ein sehr gewagtes Beginnen gewesen. Etwas anderes war es dagegen, den Angeklagten auf Grund seines Geständnisses eines Kapitalvergehens für überführt zu erklären, wenn Gesetz oder Gewohnheit für die Definition dieses Vergehens einen größeren Spielraum offenließ. Und in der Tat war die Blasphemie oder Gotteslästerung 33), deren man Jesus beschuldigen wollte, ein sehr dehnbarer Begriff. Die nachchristliche jüdische Halacha hat ihm eine ungemein enge Fassung gegeben. Gotteslästerung lag erst dann vor, wenn einer Gott unter deutlichem Aussprechen des Jahwe-Namens verwünschte: "Der Lästerer ist erst schuldig, wenn er den Gottesnamen deutlich ausspricht." 34)
Daß diese enge Begriffsbestimmung zur Zeit Jesu keine Geltung hatte, kann als sicher betrachtet werden 35). Wenn dagegen eingewendet wurde, das Judentum, das sich gegen die Beschuldigung der Gesetzesverletzung im Prozeß Jesu habe verteidigen müssen, hätte sich gehütet, den Begriff der Blasphemie später enger zu fassen 36), so wird damit erstens der Eindruck, den die Anklagen der Kirche auf das Judentum machten, fraglos überschätzt und zweitens übersehen, daß die Verengerung des Blasphemiebegriffs ganz in der Linie der jüdischen Rechtsentwicklung liegt, die dadurch gekennzeichnet ist, daß nach Ausschaltung der Sadduzäer mit ihrer rigorosen Rechtstheorie und -praxis sich mehr und mehr die milde Rechtsauffassung des Pharisäismus durchgesetzt hat 37). Aber selbst noch in der rabbinischen Zeit war die enge Blasphemiedefinition der Mischna nicht die allein herrschende. Als Gotteslästerer kann nach den Rabbinen auch schon derjenige gelten, der freche Reden gegen die Thora führt oder der "seine Hand nach Gott ausstreckt" 38). Daß zur Zeit Jesu die weitere Begriffsdeutung bekannt war, zeigen mehrere Vorfälle aus der Geschichte Jesu und der Apostel 39), Die Frage ist nun, ob auch die Beanspruchung der Messiaswürde als Blasphemie betrachtet wurde oder betrachtet werden konnte. Verschiedene Erwägungen scheinen eine verneinende Antwort nahezulegen. Der Messias der jüdischen Erwartung war kein überirdisches Wesen, sondern Mensch; also möchte man bezweifeln, daß jener Anspruch schon als förmliche Antastung Gottes hätte empfunden werden können. Besonders aber pflegt darauf hingewiesen zu werden, daß die Juden keinem ihrer sonstigen damaligen Messiasprätendenten wegen Blasphemie den Prozeß gemacht haben 40). Dieses Argument ist jedoch alles andere als durchschlagend. Der einzige, von dem wir sicher wissen, daß er sich als Messias ausgegeben hat 41) oder hat ausgeben lassen, Simon Bar Kochba (132-135) 42), lebte zu einer Zeit, da sich bereits das pharisäisch-mischnische Strafrecht und mit ihm die Verengerung des Blasphemiebegriffs durchzusetzen begonnen hatte. Außerdem entsprach dieser Revolutionsheld in geradezu idealer Weise dem politisch-kämpferischen Messiasbild der landläufigen jüdischen Erwartung, während Jesus als der vollendete Widerspruch zu diesem Bild erscheinen mußte, Und schließlich erfreute sich Bar Kochba, den der berühmteste Gesetzeslehrer seiner Zeit, Rabbi Akiba, als den Messiaskönig, den Stern aus Jakob (Num 24, 17) gefeiert hat, neben der Sympathie des Volkes auch der eines großen Teiles der jüdischen Autoritäten, während Jesus durch sein Lehren und Wirken in einen unversöhnlichen Konflikt mit der Führerschicht geraten war 43). Dazu kommt ein weiterer Umstand: Das Judentum erwartete vom Messias, daß er sich als solcher legitimieren werde. Ein gefangener, von seinen Freunden verlassener, ohnmächtig der Gewalt seiner Gegner ausgelieferter Messias - das war für sie eine unvollziehbare Vorstellung. Ein Mensch, der in solcher Lage sich als Messias, als Inhaber der höchsten von Gott einem Menschen zu übertragenden Würde, ausgab, der mußte in ihren Augen ein Frevler sein, der die großen Verheißungen Gottes an sein Bundesvolk bewußt zu verhöhnen wagte 44). Wenn dieses Urteil noch nicht identisch sein sollte mit dem Vorwurf der Gotteslästerung, so liegt dazwischen jedenfalls nur ein gans kleiner Schritt, den zu gehen ein Forum um so weniger Hemmungen hatte, je mehr es gegen jenen Menschen von vornherein eingenommen war 45). Die Frage des Kaiphas ist also wirklich die Entscheidungsfrage. Alles hängt jetzt davon ab, wie der Angeklagte sie beantwortet, ob er sie bejaht oder verneint.
Jesus hat es nach den synoptischen Evangelien während seines ganzen Wirkens vermieden, sich öffentlich als Messias zu bezeichnen. Seine Zurückhaltung hatte ihren Grund deutlich darin, daß er die nationalpolitischen Messiashoffnungen seiner Zeitgenossen nicht entfachen wollte. Jetzt, da er seinen Auftrag in Kürze erfüllt weiß, in Gegenwart der legitimen, wenn auch ungläubigen und unwürdigen Führer seines Volkes, zögert er nicht, die klar gestellte Frage nach seiner Messianität klar zu beantworten: "Ich bin es" (Mk 14, 62) 46). Zwar hatte seine Messiasidee mit der des Judentums so gut wie nichts gemein. Aber der Hohepriester hatte nicht nach irgendeiner inhaltlich bestimmten Messiasidee gefragt, sondern bloß danach, ob Jesus der verheißene Messias zu sein vorgebe. Und diese prinzipielle Frage zu ignorieren oder gar zu verneinen, bestand für Jesus, der sich als den Erfüller der messianischen Weissagungen wußte, kein Anlaß. In gewissem Sinn jedoch erläutert er sein Selbstzeugnis durch die anschließende Prophetie: "Und ihr werdet den Menschensohn sehen sitzend zur Rechten der Kraft und kommend mit den Wolken des Himmels" (Mk 14, 62) 47).
Unter Anspielung auf zwei messianische Texte des Alten Testaments 48) stellt er seine machtvolle Wiederkunft zur Rechten Gottes in Aussicht. Damit begegnet er dem zwar nicht direkt ausgesprochenen, aber, wie wir gesehen haben, vorauszusetzenden Einwand, daß sein Messiasanspruch der jeden Zweifel ausschließenden göttlichen Legitimation ermangle. Am Ende dieses Äons, wenn er neben Gott als der mit Macht und Herrlichkeit umkleidete Menschensohn auf den Wolken des Himmels erscheinen wird, dann wird er den Menschen, auch jenen, die jetzt über ihn zu Gericht sitzen, in überzeugender Weise als Messias offenbar werden; dann hat das ungläubige Geschlecht das "Zeichen" (vgl. Mk 8,11), das es immer wieder vermißt hatte 49). Da auch das Judentum seinem als Menschen aufgefaßten Messias das Sitzen zur Rechten Gottes und das Kommen auf den Wolken des Himmels zuschrieb 50), verbietet sich die Annahme, daß die Synedristen aus den Worten Jesu mehr heraushörten als den Anspruch auf die messianische Würde. Und sie brauchten nicht mehr zu hören. Jesus hat offen und feierlich sich als Messias ausgegeben und damit den Tatbestand erfüllt, den sie als Gotteslästerung zu behandeln entschlossen waren. So kommt es zur stürmischen Schlußszene, die Markus mit den Worten schildert: "Der Hohepriester zerriß seine Kleider und sagte: Was brauchen wir noch Zeugen? Ihr habt die Lästerung gehört. Was dünkt euch? Sie alle aber verurteilten ihn, daß er des Todes schuldig sei" (Mk 14, 63f).
Es ist behauptet worden, die heftige Reaktion des Hohenpriesters sei der beste Beweis für die Ehrlichkeit seiner Gesinnung; denn hätte er Jesu Messiasbekenntnis geahnt oder gar gewünscht, dann wäre er nicht so maßlos bestürzt gewesen, daß er sogar den geweihten hohepriesterlichen Ornat zerriß 51). Dieses Argument ist ganz verfehlt. Jene Geste der Trauer und Empörung durfte Kaiphas nie unterlassen, ob seine Erregung nun spontan und ehrlich war oder gemacht und heuchlerisch 52). Außerdem ist nicht anzunehmen, daß er bei jener Sitzung den hohepriesterlichen Prachtornat getragen hat 53). Durch das Zerreißen seines Gewandes bringt Kaiphas also symbolisch zum Ausdruck, daß er Jesu Erklärung als Gotteslästerung betrachte. Diese seine Meinung bekundet er dann noch in deutlichen Worten: "Was brauchen wir noch Zeugen? Ihr habt die Gotteslästerung gehört!" Er will sagen: Alle Anwesenden sind Ohrenzeugen des Ausspruches, dessen blasphemischer Charakter für ihn und, wie er meint, auch für die übrigen Synedristen feststeht, so daß sich das Zeugnis anderer erübrigt. Von den Synedristen erhebt offenbar keiner gegen diese Beurteilung der Jesusworte Einspruch. So fordert Kaiphas seine Mitrichter zur Urteilsabgabe auf: "Was dünkt euch?" Für Gotteslästerung sah das mosaische Gesetz den Tod durch Steinigung vor (Lev 24, 16). Die Synedristen sprachen sich geschlossen für ein Todesurteil aus.
Da das jüdische Strafprozeßrecht einen Instanzenzug nicht kannte, war das Urteil sofort rechtskräftig. Zur Zeit Jesu aber konnte ein Todesurteil von den Juden nicht vollzogen werden 54). Die volle Blutgerichtsbarkeit, das sogenannte jus gladii, besaß nur der römische Prokurator. Gewissermaßen zum Ersatz dafür machten sich einige der anwesenden Juden daran, den soeben Verurteilten gröblich zu mißhandeln (Mk 14, 65). Sie spien ihn an, verhüllten ihm die Augen, schlugen ihm ins Gesicht und forderten ihn höhnisch auf zu "weissagen", d. h. wohl: den Übeltäter trotz der verbundenen Augen bekanntzugeben 55).
Die Sitzung endete damit, daß das ganze Synedrium den Beschluß faßte, Jesus - natürlich mit einer wohlerwogenen und ad hoc formulierten Anklage - dem römischen Prokurator zu übergeben. Dieser Schluß der Sitzung fiel in die Zeit des Tagesanbruchs (Mk 15, 1).
Anmerkungen
1) Vgl. hiezu K. Galling, Biblisches Reallexikon 1937, 270. 414 (Paläste mit Binnenhof). 2) Die Verleugnung des Petrus fand nach den Synoptikern im Hof des Kaiphaspalastes, nach Joh anscheinend im Hof des Annas statt; vgl. A. Brüll, Jesus vor Annas, Der Katholik 79 (1899, I) 198-200; Th. Zahn, Das Ev. d. Joh. 1908, S. 618; G. Dalman, Orte u. Wege Jesu 1922,263; Ricciotti a. a. O. 610; J. Cantinat, Jesus devant le Sanhédrin, Now. Revue Théol. 75 (1953) 303 A. 19. Anders P.Benoit,Jesus devant le Sanhédrin, Angelicum 20 (1943) 164, vgl. auch Rev. Bibl. 60 (1953) 452; er vermutet im Mk-Bericht eine Konfusion des nächtlichen Annasverhörs mit der Morgensitzung des Synedriums; in Wirklichkeit sei Jesus nachts nur zu Annas, am frühen Morgen dagegen vor das Synedrium gebracht worden, das sich in dem offiziellen und regulären Lokal versammelt habe. Aber diese Beurteilung des Mk-Berichts ist kaum richtig, s. unten S. 107 f. - 3) S. Exkurs III. 4) Mischna Sanh. I 6. Sie beruft sich dafür auf Num 11, 16, weshalb zu vermuten ist, daß schon das alte Synedrium von Jerusalem so zusammengesetzt war. Einige Mitteilungen des Josephus bestätigen dies: Nach dem Sturz des legitimen Synedriums setzten die Zeloten in Jerusalem ein Gericht von 70 Männern ein (Bell. 4, 5, 4 § 334 ff) ; Josephus selbst stellte in Galiläa während des Krieges eine Behörde von 70 Männern auf (Bell. 2,20,5 § 571); die babylonische Judenkolonie in Batanäa wurde von 70 Vornehmen angeführt (Bell. 2, 18, 6 § 482; Vita 11 § 56). Nach Tos. Sukka 4, 6 standen in der großen Synagoge Alexandrias 71 Katheder für das dortige Synedrium. 5) Vgl. M. Wolfi, De samenstelling en het karakter van het groote synedrion te Jeruzalem voor het jaar 70 n. Chr., Theol. Tijdschr. 51 (1917) 299-320. 6) Siehe Schürer II 216-220; J. Jeremias, Jerusalem z. Zeit Jesu II B 1929, 5~f. 7) Tos. Joma 1, 6; vgl. Jeremias a. a. O. 59 A. 5. 8) Philo, Leg. ad Caium 38 § 302. 9) Pesachim 57 a ; Tos. Menachoth 13, 21. 10) Belege bei Jeremias a. a. O. 10 A. 3. 11) S. den eingehenden Nachweis bei Jeremias a. a. O. 17-40. 12) J. Joma 3, 41 a 5. Nach Josephus, Bell. 2, 17, 2 § 409f war bei Ausbruch des jüdischen Krieges des Hohenpriesters Ananias Sohn Eleazar Tempeloberst. 13) Bell. 2, 12, 5f § 240. 243; Aut. 20, 8, 5 § 162-164. 14) Bell. 2, 13, 3 § 256; Ant, 20, 8, 5 § 162-164. 15) Siehe Jeremias a. a. O. 88-100. 16) Apg 23,6; 5, 17; vgl. Jeremias a. a. O. 101-114. 17) Fr. Büchsel, Das Ev. nach Joh 1946, 137 zu Joh 12, 42 f. 18) Billerbeck 11 412-419. 19) Mischna Sanh. IV 3a; zum Sitzen der Richter vgl. Apg 6, 15; 23, 3. 20) Mischna Sanh. IV 3b; IV 4 21) Mischna Sanh. IV 1 d. 22) Deut 17,6; 19, 15; Num 35, 30; Josephus, Ant. 4, 8, 15 § 219. 23) So zuletzt R. Gutzwiller, Jesus der Messias 19t.9, 319 . 24) Vgl. J. A. Kleist, The Two False Witnesses, Cath. Bibl. Quarterly 9 (1947) 321-323. 25) Juster I 459 ff. 26) A. Jülicher, Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums (Kultur der Gegenw, I 4) 1906, 52. J. Wellhausen, Das Ev. Marci 1909, 124f. E. Norden, Agnostos Theos 1912, 194-201. W. Heß, Jesus von Nazareth 1906, 113. K. Buchheim, Das messian. Reich 1948, 290. Auch H. Schell, Christus 1922, 18f scheint dieser Auffassung zu sein; er betont aber den messianischen Charakter des Tempellogions. Zur Kritik vgl. R. A. Hoffmann. Das Wort Jesu von d. Zerstörung u. d. Wiederaufbau d. Tempels, Heinrici-Festschr, 1914, 130-139, spez. 136-138; Ed. Meyer I 188-192. 27) R. A. Hoffmann a. a. O. 138f zieht die Geschichtlichkeit des ganzen Zeugenverhörs in Zweifel mit der Begründung, daß "in dem lukanischen Parallelbericht, der unabhängig von der Mt-Mk-Tradition verfaßt sein dürfte, von einem Zeugenverhör überhaupt nicht die Rede ist" (138). Aber Lk läßt das Zeugenverhör ohne Zweifel nur deswegen aus, weil es den Ausgang des Prozesses nicht entscheidend beeinflußt hat (vgl. Exkurs IV). Eine Erinnerung an das Verhör dürfte in Lk 22,71 vorliegen. Die Szene Mk 14, 57-59 zu verdächtigen, geht schon deswegen nicht an, weil sie durch 15, 29 gesichert wird. 28) Rabbinische Belege b. Billerbeck I 1003-5, solche aus der Apokalyptik b. Bousset-Greßmann 238-240; s. auch M. Simon, Retour du Christ et reconstruction du Temple dans la pensée chrétienne primitive, in: Aux sources de la tradition chrétienne (Mél. M. Goguel) 1950, 247-257, bes. 247f. 29) Vgl. Mk 10, 48; 11, 9 f; zahlreiche Stellen bei Joh. 30) Soviel wir wissen, war "Gottessohn" im Judentum kein gebräuchlicher Messiasname. Die etwa bei Billerbeck III 17. 19f zusammengestellten Belege aus der Apokalyptik und dem rabbinischen Schrifttum sind kaum brauchbar. 1 Hen 105, 1 f wird als christlich beeinflußte Interpolation beurteilt und in 4 Esra 7, 28f; 13, 32. 37.52; 14, 9 wird auf Grund der verschiedenen Übersetzungen des nicht erhaltenen semitischen Originals angenommen, daß der Urtext das Wort "Knecht" (ebed) geboten hat. Was die rabbinische Literatur betrifft, so bezeugt sie zwar die messianische Deutung von Ps 2, 7, aber nur spät und selten, und vor allem wird der Gottessohntitel nie außerhalb einer direkten Anführung der Psalmstelle verwendet. S. dazu W. G. Kümmel, Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern, in: Aux sources de la tradition chretienne (Mel. M. Goguel) 1950, 120-131, bes. 130 m. A, 36f; J. Schmid, Ev. n. Mk 31954,18. Wenn die messianische Verwendung des Titels demnach im Judentum nicht sicher nachgewiesen ist, so besagt das freilich nicht unbedingt, daß sie völlig unbekannt war; vgl. selbst J. Bieneck, Sohn Gottes als Christusbezeichnung der Synoptiker 1951, 25. Es ist damit zu rechnen, daß der Rabbinismus diesen Messiastitel absichtlich vermieden hat, teils, weil er auf christlicher Seite eine geläufige Würdebezeichnung Jesu geworden war (Billerbeck III 20), teils, weil er Assoziationen an die Mythologie auslösen und daher als anstößig erscheinen mußte, teils, weil der Gegensatz gegen Rom die Verwendung eines dem Divi filius entsprechenden Prädikates verbot (Bousset-Greßmann 228). Im NT finden sich zwei Stellen, wo die Ausdrücke "Gottessohn" und "Christus" offensichtlich synonym gebraucht sind: Lk 4, 41 a. b; Apg 9, 20. 22. Sie allein schon verwehren es, unter Berufung auf das Fehlen sicherer jüdischer Zeugnisse die messianische Bedeutung des Ausdrucks "Sohn des Hochgelobten" in Mk 14, 61 für unmöglich zu erklären. - Nach Chr. Maurer, Knecht Gottes u. Sohn Gottes im Passionsbericht des Mk.-Ev., Zschr. f. Theol. u. K. 50 (1953) 24. 27 ist hier mit "Gottessohn" der stellvertretend leidende Gottesknecht gemeint; es bleibt aber unerklärt, wie Kaiphas dazu gekommen sein soll, die Frage nach einem solchen Anspruch zu stellen. Wenn der Titel hier wirklich für "Gottesknecht" gebraucht sein sollte, was kaum zu beweisen ist, dann wäre er im Sinne der damaligen Gottesknechtsvorstellung zu verstehen, d. h. als einfache Messiasbezeichnung (ohne daß damit die Leidensvorstellung verbunden wäre). 31) Wie das Volk so kannte auch die offizielle Theologie des Judentums der Zeit Jesu nur einen menschlichen Messias, s. Billerbeck III 20-22; Bousset-Greßmann 222-232; P. Volz, Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde im ntl. Zeitalter 1934, 203 f. Der Jude Tryphon bei Justin, Dial. 49, 1 spricht aus, was allgemeine Überzeugung war: "Wir alle erwarten im Messias einen Menschen von Menschen". Selbst soweit die alte Synagoge dem Messias "Präexistenz" (dazu s. Billerbeck II 333-340), Superiorität über die Engel (vgl. etwa Tanch. B. Toledoth § 20 [70 a] bei Billerbeck I 483), das Sitzen zur Rechten Gottes und das Kommen auf den Wolken des Himmels (s. unten Anm. 50) zuschrieb, hielt sie am Dogma von der Menschennatur des Messias fest. Auch die mit wunderbaren Farben gezeichnete Messiasgestalt des PsSal 17 ist "eine durchaus menschliche Gestalt" (Bousset-Greßmann 228). In der spät jüdischen Apokalyptik freilich trägt der eschatologische Führer fast rein übernatürliche Züge, s. Bousset-Greßmann 259-268; Volz a. a. O. 224-228. Dennoch wird man auch da nicht von einem "göttlichen Wesen" (J. Bonsirven, Art. Judaisme X: Le Messianisme, Diet. de la Bible, Suppl. IV [1949] 1232-58, spez. 1241: "être divin"), sondern nur von einem "himmlischen Menschen" sprechen dürfen. "Darin sind sich alle jüdischen Schriftsteller einig, daß der Heiland unter Gott steht" (Volz a. a. O. 225). Mit dem apokalyptischen Messiasbild, das nur in kleinen privaten Kreisen (vgl. H. Preisker, Ntl. Zeitgeschichte 1937, 240) lebendig war, hatte die Messiasvorstellung der Hohenpriester und Schriftgelehrten des Prozesses Jesu gewiß nichts zu tun. 32) Vgl. zuletzt Bieneck a. a. O. 54 A. 30; Ricciotti a. a. O. 617. 33) Bickermann a. a. O. 176-179 bestreitet nachdrücklich, daß das Mk 14, 64 gebrauchte griechische Wort blaspämia die Bedeutung von Gotteslästerung habe. Sowohl in der Profangräzität als auch im NT bezeichne es jede beleidigende, verletzende oder auch nur unpassende Äußerung, gleichgültig, gegen wen sie gerichtet ist. Im Sinne von Gotteslästerung sei das Wort nur dann zu nehmen, wenn ausdrücklich Gott als Objekt genannt sei (Ant. 4, 8, 6 § 202) oder wenn der unmittelbare Zusammenhang die Ergänzung dieses Objekts verlange (Joh 10, 33). Keine der beiden Voraussetzungen treffe hier zu und der Ausdruck bedeute einfach "mauvais propos" (S. 177) oder "enormite" (179f). Bickermann zieht daraus die Folgerung, daß das Synedrium kein Todesurteil gefällt haben kann. Aber bei Mk 14, 61-64 stellt der Zusammenhang doch ganz außer Zweifel, daß Jesu Äußerung als gegen Gott gerichtet aufgefaßt wurde. Sowohl in der Frage des Hohenpriesters ("der Hochgelobte") als auch in Jesu Antwort ("die Kraft") wird auf Gott Bezug genommen. 34) Mischna Sanh. VII 5 a. 35) Vgl. Klausner a. a. O. 463; Bickermann a. a. O. 176 A. 2; E. Meyer II 452 A. 1. Die veraltete Auffassung, daß die Mischnabestimmung bereits für das Synedrium Geltung hatte, bei W. Bousset, Kyrios Christos 1913,53. 36) Goguel a. a. 0.426. 37) S. dazu Exkurs VI. 38) Belege bei Billerbeck I 1008-1019. 39) Mk 2,7; Joh 10,33; Apg 12, 22f; 14, 14. Die Arbeit von E. W. Daily, A Study of Blasphemy in the Gospels (Diss. Southern Baptist Seminary) 1954 war mir nicht zugänglich. - Das AT gibt nirgends eine Definition der Gotteslästerung, s. Ex 22,27; Lev 24,11.16; Num 15, 30f; 1 Sm 3, 13; 1 Kg 21, 10. 40) Vgl. zuletzt etwa Goguel a. a. O. 426 u. J. Lebreton, Dict. de la Bible IV (1949) 1055. 41) Von keinem der im 1. Jahrhundert n. Chr. auftretenden Umstürzler und Volksbeglücker wird überliefert, daß er die Messiaswürde beansprucht habe, weder von Judas dem Galiläer (Bell, 2, 4, 1 § 56; Ant. 17, 10, 5 § 27H; Apg 5, 37), noch von seinem Sohn Menachem (Bell. 2, 17, 8 f § 433-448; Vita 5 § 21), noch von Theudas (er gab sich nach Ant. 20, 5, 1 § 97f als "Prophet", nach Apg 5,36 als "bedeutend" aus), noch von dem Ägypter zur Zeit des Prokurators Felix (auch er behauptete "Prophet" zu sein: Ant. 20, 8, 6 § 169-172; Bell. 2, 13, 5 § 261-263; vgl. Apg 21, 38), noch von dem Gaukler, der unter Festus das Volk in die Wüste führen wollte (Ant. 20, 8, 10 § 188). 42) Schürer I 682-695. 43) Vgl. F. Büchsel, Jesus 1947,112: "Gewiß haben die Juden nicht jeden, der den Messiasanspruch für sich erhob, zum Tod verurteilt. Aber die anderen, die dies taten, waren entweder belangloser oder Männer, die der Hohe Rat aus anderen Gründen gewähren lassen konnte. Mit einer so umfassenden und einflußreichen Bußpredigt an das Volk, seine Führer eingeschlossen, ist ihrer keiner hervorgetreten. Dieser Angriff auf Volk und Führerschaft machte die Entscheidung unausweichlich, sie mußte schließlich gegen ihn fallen". 44) M.-J. Lagrange, Évangile selon S. Marc 1947, 40H und Le Messianisme chez les Juifs 1909, 221f wendet dagegen ein, daß nach rabbinischer Lehre der Messias anfangs ein verborgenes Dasein führen werde. Es ist richtig, daß sich dieser Glaube bei den späteren Rabbinen findet, vgl. Billerbeck II 339f und 488f; N. Messel, Der Menschensohn in den Bilderreden des Henoch 1922, 71-76. Aber dabei denken die Rabbinen an die Zeit vor dem öffentlichen Auftreten des Messias. Wenn dieser kommt, wird niemand wissen, wo er sich bisher verborgen gehalten hat; das hat man ja auch gegen Jesus, dessen Herkunft bekannt war, eingewendet: Joh 7, 27, Der an die Öffentlichkeit getretene Messias jedoch wird nach rabbinischer Anschauung als solcher legitimiert werden, entweder so, daß er auf dem Dach des Tempels stehend von göttlichem Licht umstrahlt wird (Billerbeck III 9f), oder dadurch, daß Elias ihn bekannt macht (Billerbeck IV 797f). Selbst die Vorstellung, daß der Hohepriester der messianischen Zeit den Messias bekanntgibt, scheint bezeugt zu sein (Test. Levi 2, s. Billerbeck IV 798). Besonders bezeichnend für die rabbinischen Erwartungen ist Pirqe Maschiach (Beth ha-Midr. 3, 73, 17): "In jener Stunde wird Gott den Messias mit einer Krone bekleiden und den Helm des Heiles auf sein Haupt setzen und wird Glanz und Herrlichkeit auf ihn legen und ihn schmücken mit Ehrengewändern und ihn auf einen hohen Berg stellen, um Israel frohe Botschaft zu bringen" (Billerbeck III 10). Zu den rabbinischen Zeugnissen kommen drei Stellen bei Justin : Dial. 8, 4; 49, 3; 110, 1. 45) Vgl. auch A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung 1933, 439 Anm.1. (Die Richter Jesu haben das Bekenntnis zur messianischen Würde als Gotteslästerung angesehen, weil sie sich eben seiner erledigen wollten); ähnlich E. Meyer 11 452 A. 1. 46) Der Text kann als gesichert gelten; die in späteren Hss bezeugte Lesart "Du hast es gesagt, daß ich es bin" ist Verschmelzung der Mk- mit der Mt-Form (26,64: "Du hast es gesagt"). Daß die weniger bestimmte Bejahung bei Mt (vgl. auch Lk 22, 70) ursprünglich und die Mk-Formulierung apologetische Umformung sei (so z. B. J. Héring, Le Royaume de Dieu et sa venue da près Jesus et d après l apôtre Paul 937, 128; Goguel a. a. O. 422f), ist unwahrscheinlich; Mt und Lk haben die Antwort Jesu an den Hohenpriester seiner Antwort an Pilatus (Mk 15, 2: "Du sagst es") angeglichen. 47) Zur Mt-Fassung (26, 64) vgl. Goguel 423f. 48) Die Worte "Menschensohn ... kommend auf den Wolken des Himmels" spielen auf Dan 7, 13 an, die Worte "sitzend zur Rechten Gottes" auf Ps 11 0 (109) 1. 49) E. Meyer I 194 hat also unrecht, wenn er das Menschensohnlogion für unmotiviert und daher für ungeschichtlich hält. Auch M. Buber, Zwei Glaubensweisen 1950, 110 dürfte den Zusammenhang zwischen der Bejahung V. 62a und der Prophetie 62b nicht gesehen haben, da er - ohne nähere Begründung - behauptet, die Verknüpfung des "Ich bin es" mit dem Folgenden sei "nicht zu halten"; er beanstandet außerdem die Verbindung des "Sitzens" mit dem "Kommen" (die doch durch die beiden atl. Texte gegeben war) und den "eher gnostisch klingenden" Ausdruck "Kraft" (der in Wirklichkeit die geläufige hebräisch-aramäische Gottesumschreibung geburah bzw. geburtha wiedergibt; s. G. Dalman, Worte Jesu, I 1930, 164f Billerbeck I 1006f; W. Grundmann, Th W II 298, Z. 42ff). 50) Zur messianischen Deutung von Ps 110 (109) 1 im vorchristlichen Judentum s. Billerbeck IV 452-459; das NT setzt die Gebräuchlichkeit dieser Deutung in Mk 12,35-37 Parr voraus. Auch Dan 7, 13 ist "von der alten Synagoge nirgends kollektiv auf das Volk der Heiligen, sondern durchgängig individuell auf den Messias gedeutet worden" (Billerbeck I 956). Schon die ältesten Teile der Bilderreden des Henochbuches beziehen Dan 7, 9ft auf den Messias (1 Hen 46, 1-3a; 48, 2; 69, 29). Das Kommen auf den Wolken des Himmels wird dem Messias im Anschluß an Dan 7,13 ausdrücklich zugeschrieben in 4 Esra 13,1 ff. Die messianische Auslegung der Stelle ist den Juden auch nach Justin, Dial. 32, 1 bekannt. Die rabbinischen Zeugnisse bei Billerbeck I 67. 483. 486. 843. 956f. Zur Erwartung eines rein menschlichen Messias s. oben Anm. 31. 51) R. W. Husband, Prosecution of Jesus 1916,201. 52) Mischna Sanh. VII 5b; 4 Kön 18,37. 53) Der Ornat wurde in den Jahren 6-37 n. ehr. von den Römern in der Burg Antonia in Verwahr gehalten und nur für die liturgischen Funktionen an den Festtagen herausgegeben, und zwar nach Ant. 18, 4, 3 § 94 bereits 7 Tage vor einem Fest, nach 15,11,4 § 408 dagegen erst am Vortag eines Festes. 54) S. Exkurs VII. 55) An der Mißhandlung Jesu, die übrigens von der ähnlichen Szene Joh 18,22 zu unterscheiden ist (anders P. Benoit, Angelicum 20 [1943] 156f; mit der Möglichkeit, daß die Szene bei Joh ein "Nachhall" der synoptischen ist, rechnet K. L. Schmidt, Jesus Christos kolaphizomenos und die colaphisation der Juden, in: Aux sources de la tradition chrétienne 1950, 218-227, bes. 219), scheinen sich nach dem Mk-Text, der als handelnde Personen zunächst "einige", dann ausdrücklich "die Diener" nennt, auch Mitglieder des Synedriums beteiligt zu haben; aber vielleicht ist 65b nur Dublette zu 65a (die Annahme, daß die "Schläge" 65b etwas anderes seien als die "Faustschläge" 65 a, ist lexikalisch unbegründet, s. Bauer WB 1337 u. 799, hier auch Hinweis auf Hesychius: kolaphizomenos = rapizomenos). Nach Lk 22, 63 jedenfalls haben nicht die Synedristen, sondern nur die Wächter Jesus mißhandelt. Daß die Szene Lk 22, 63-65 identisch ist mit der bei Mk 14, 65 erwähnten, ist manchmal zu Unrecht bestritten worden (z. B. von K. Kastner, Jesus vor dem Hohen Rat 1930, 110-112, der Jesus sowohl vor als auch nach der Synedrialsitzung mißhandelt werden läßt, während Innitzer a. a. O. 164 eine Mißhandlung durch die Synedristen noch im Beratungssaal, eine zweite durch die Wächter zwischen Verurteilung und Morgensitzung annimmt). Die Einreihung der Szene bei Lk ist das Ergebnis literarischer Bearbeitung des Mk-Textes (s. Exkurs IV); die Tätlichkeiten begreifen sich auch viel leichter nach als vor der Urteilsverkündigung. Ob der Vorfall bei Mk chronologisch genau eingereiht ist, steht nicht unbedingt fest. Es könnte sein, daß Mk bei der Anreihung der Mißhandlung an die Verurteilung von der Absicht geleitet war, die bittere Tatsache der Verwerfung Jesu durch die Repräsentanten Israels stark ins Licht zu rücken: Die Obrigkeit hat ihn verurteilt, die Männer aus dem Volk haben ihn beschimpft und mißhandelt. Historisch gehört die Szene vielleicht hinter den in Mk 15, 1 erwähnten "Beschluß", mit dem die Synedrialsitzung beendet wurde.
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