Niedrigkeit, Verborgenheit und Schmach – warum? Stationen Jesu Christi auf dem Weg zum Heil
von Eberhard Heller
In meinem Beitrag "Gott wird Mensch" (EINSICHT Nr. 4, Dez. 2012, S.107 ff) habe ich versucht zu zeigen, welche theologischen Probleme mit dieser Menschwerdung Gottes verbunden waren und wie sie erst in der Formel der "hypostatischen Union" des Cyrill von Alexandrien im Jahre 431 eine Lösung gefunden hatte. Des weiteren hatte ich skizziert, warum Gott Mensch wurde (mit Hinweisen auf Anselm von Canterbury und Maria von Agreda) und hatte schließlich noch darauf aufmerksam gemacht, wie er Mensch wurde. „Gott, der Allmächtige hat sich herabgelassen, in der Ohnmacht eines kleinen Kindes zu erscheinen, in der allergrößten Ärmlichkeit, um uns reich zu machen. Er kam in der tiefsten Niedrigkeit, um auch den vergrämtesten und gedemütigtesten Menschen dort abzuholen, wo ihn das Schicksal hinversetzt hat oder wo er selbst aus Enttäuschung hin entflohen ist." Diesen Gedanken des Gottes in der Niedrigkeit! möchte ich fortführen.
Die Geburt im Stall ist ja nicht nur ein Hinweis auf die Ungastlichkeit der Mitmenschen, sondern auch auf die Ärmlichkeit, in der Gott Mensch wurde. Den Hirten auf dem Feld war es vorbehalten, den neugeborenen Gottessohn zu besuchen, während die damalige religiöse Elite einen Messias erwartete, der ihre politische Situation bereinigen sollte. Christus kommt auch als unmündiges Kind, das wie alle anderen Kinder auch, der elterlichen Obhut bedarf. Und wie er dieser Hilfe bedurfte, sollte sich bald zeigen.
Doch auch wenn die legitime religiöse Institution der Juden keine Notiz von der Geburt des Gottessohnes nahm, so ist es doch der greise „gottesfürchtige“ Simeon, der zur Darstellung und Beschneidung Jesu auf Eingebung des Geistes in den Tempel gekommen war, das Kind in seine Arme nahm, um dann auf die eigentliche Bestimmung dieses Jesus-Kindes hinzuweisen: „Nun entläßt du deinen Knecht, o Herr, nach deinem Wort in Frieden; denn meine Augen haben geschaut dein Heil, das du bereitest hast vor allen Völkern als Licht zur Offenbarung für die Heiden und zur Verherrlichung deines Volkes Israel.“ (Lk. 2, 29-32) Den Eltern, die sich über diese Rede wunderten, prophezeite der Greis: „Siehe, dieser ist bestimmt zum Falle und zum Auferstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird.“ (Lk. 2, 34)
Die weitere Ehrung erfährt das Jesus-Kind wiederum nicht von den Juden, sondern von Weisen aus dem Morgenland, die gekommen sind, um dem „neugeborenen König der Juden“ zu huldigen. Nicht umsonst heißt das Fest der hl. Drei Könige Epiphanie, „Erscheinung des Herrn“, denn durch diese Magier erfährt nun der König Herodes von einem Konkurrenten, den es auszuschalten gilt: Er läßt alle Kinder im Alter von zwei Jahren in Bethlehem ermorden. Nur durch das Traumgesicht eines Engels wird Joseph, der Ziehvater vor dem Massaker gewarnt und zur Flucht nach Ägypten angehalten. Die Familie kehrt nach Nazareth zurück, nachdem Joseph abermals von einem Engel den Befehl dazu erhalten hatte, nachdem Herodes gestorben war. (Vgl. dazu Mt. 2, 13-23)
Jesus war also nur knapp dem Tode entronnen. Schon der Hinweis auf sein Königtum sollte ihm eigentlich zum Verhängnis werden. Er hätte sich auch auf andere Weise inkarnieren können: "Mit großer Macht und Herrlichkeit", so wie seine Wiederkunft angekündigt wird, oder auch in einer weniger spektakulären Form, aber nicht in dieser extremen Situation der völligen Hilflosigkeit, durch die er an die Hilfe anderer Personen angebunden war. Die konkrete Offenbarung hätte auch anders verlaufen können. Und die Frage bleibt, warum der Gottessohn auf diese Weise später seine messianische Tätigkeit aufnimmt.
Von Nazareth reiste der Jesus-Knabe im Alter von 12 Jahren – das ist das Alter, in dem Juden religionsmündig werden – mit seinen Eltern nach Jerusalem zum Osterfest. Als sie den Knaben auf der Heimreise vermißten, um ihn dann endlich im Tempel unter den Lehrern wiederzufinden – „es staunten alle, die ihn hörten, über sein Verständnis und seine Antworten“ (Lk. 2, 47) – entgegnete er auf die Vorhaltungen seiner Mutter nur: „Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?“ (Lk. 2, 49) Doch die Eltern verstanden diesen Hinweis auf seine Gottessohnschaft nicht. Derweil heißt es bei Lukas weiter: „Und er zog hinab mit ihnen und kam nach Nazareth und war ihnen untertan.“ (Lk. 2, 51)
Mit diesen spärlichen Worten sind die nächsten 21 Jahre seines Lebens beschrieben, bis Jesus seine öffentliche Lehrtätigkeit begann. Was heißt nun „er war ihnen untertan“? Man kann es sich leicht vorstellen. Sein Ziehvater Joseph war Zimmermann – er galt ja als des „Zimmermanns Sohn“ – und Jesus wird ihm bei seiner Arbeit behilflich gewesen sein: d.h. auch Hobelspäne aufkehren, Werkzeug schleifen, d.h. alle Hilfsarbeiten, die mit dem Beruf des Vaters verbunden waren. Wie also sollten die Zeitgenossen in diesem Knaben, dann in dem jungen Mann den Messias vermuten, in jemandem, der die Werkstatt auskehrt, in dieser Verborgenheit?
Und als er seine öffentliche Lehrtätigkeit begann, ließ er sich von Johannes taufen, der die Bußtaufe spendete, obwohl er Christus, der absolut Reine, ihrer nicht bedurfte, weswegen Johannes zu Recht sagte: „Ich habe nötig, von dir getauft zu werden,“ worauf Jesus antwortete: „es ziemt uns, daß wir jegliche Gerechtigkeit erfüllen“. (Mt 3, 14 f) Da öffnete sich der Himmel, woraus eine Stimme sprach: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe.“ (Mt. 3,17) Gottvater bezeugt Jesus als seinen Sohn, bevor er begann, als Gott-Mensch zu wirken. Er „durchwanderte ganz Galiläa, lehrte in den Synagogen, predigte das Evangelium vom Reiche und heilte jegliche Krankheit und jegliches Gebrechen im Volke“. (Mt. 4, 23)
Zur Mithilfe bei seiner Mission sucht Jesus seine Jünger. An wen wendet er sich? An jüdische Theologen, denen der Messianismus ihres Volkes, die Heilsversprechen ihres Jahwe-Glaubens bekannt war, die also nur so einer Art Weiter- und Fortbildung bedurft hätten? Nein, keine Sachverständigen, keine Fachleute! Er beruft Simon Petrus und seinen Bruder Andreas, zwei Fischer, von denen der eine – Petrus - , in dem er sich Jesus zu Füßen wirft, noch bekennt: „Herr, geh weg von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch.“ (Lk. 5, 8) Doch Jesus befiehlt ihnen, mitzukommen, damit er aus den Fischern „Menschenfischer“ (Mt. 4, 19) machen werde. Fischer sind es, denen er später seine Vollmachten übertragen wird, denen er aber schon jetzt seine Macht demonstriert hat durch den (über)reichen Fischfang.
Ist es dann nicht gerade Petrus, der ihn in der Nacht seiner Gefangennahme dreimal verleugnen wird? Und doch ernennt Christus nach seiner Auferstehung gerade ihn, Petrus, als Chef Seiner Kirche. Derjenige, der ihn verleugnet hatte vor der Macht , den macht Christus zum obersten Verwalter und Hüter seiner Gründung. „Als sie Mahl gehalten hatten, sagte Jesus zu Simon Petrus: ‚Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese?’ Er antwortete ihm: ‚Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe.’ Jesus sprach zu ihm: ‚Weide meine Lämmer!’“ Jesus fragte dreimal und Petrus antwortete traurig: „Herr, du weißt alles, du weißt, daß ich dich liebe.“ Jesus sprach zu ihm: „Weide meine Schafe!“ (Joh. 21,15-17) Verwundern muß doch auch, daß er einen seiner Verfolger, den Saulus als konvertierten Paulus zum Völkerapostel macht, der die größten Anstrengungen auf sich nimmt, um den Menschen in der damals bekannten Welt das Evangelium zu verkünden. Nicht das Wissen, sondern die Liebe – das meint auch die Treue zum Gesamt-erbe, welches Christus hinterlassen hat - ist das Kriterium Gottes für die Verleihung von Vollmachten.
Und warum das Erscheinen Gottes zunächst im Verborgenen, in der Verdemütigung, in der Hilflosigkeit, in der Ausgrenzung gegenüber den damaligen religiösen Autoritäten? Man darf nicht vergessen, daß der Hohe Priester Kaiphas zusammen mit dem Synedrium ihn, den Gottes-Sohn, die lebendige Wahrheit, wegen „Gotteslästerung“ zum Tode verurteilt hat, welches Urteil die römische Besatzungsmacht (Pilatus) auf Betreiben des Hohen Priesters vollstrecken ließ. Doch die Schuldfrage an seiner Verurteilung läßt Chri-stus nicht offen. Zu Pilatus sagte er: „Du hättest keine Macht über mich, wäre sie dir nicht verliehen von oben. Darum hat derjenige, der mich dir ausgeliefert hat [d.i. der jüdische Hohe Rat], eine größere Schuld.“ (Joh. 19,11)
Die Hinrichtung Jesu, die als Schmach nicht mehr vergrößert hätte werden können, für jemand, der sich als Erlöser des Volkes Israel verstanden wissen wollte, angekündigt als Messias, als Heiland, also als derjenige, der das Heil bringen wollte, der Israel erretten wollte, endet als Gotteslästerer am Kreuz... allen Grund, an ihm irre zu werden.
Um das zu verhindern, nimmt Jesus vor seiner Leidensgeschichte den Petrus, den Jakobus und den Johannes mit auf den Berg Tabor, wo „sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, seine Kleider aber wurden weiß wie Licht.“ (Mt. 17,2) Jesus und seinen Begleitern erschienen Moses und Elias, die mit ihnen redeten, und aus den Wolken sprach eine Stimme: „Siehe, das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe, auf ihn sollt ihr hören.“ (Mt. 17, 5) Hier bezeugt der Vater nun zum zweiten Mal Jesus als seinen Sohn.
Christus mußte seinen Jüngern seine Verklärung zeigen, damit sie nicht an ihm irregehen sollten, und es war für die Jünger schier undenkbar, wie es nach dem Karfreitag für sie weitergehen sollte. Alles verlassen, alles schmählich untergegangen, und dann noch die Verleugnung dessen, dem Christus später die Leitung seiner Kirche übertragen wird. Und dann der unglaubliche Triumph in der Auferstehung, durch die der geistige Tod, die Sünde überwunden wird: Tod, wo ist dein Stachel?
Und hier kann man nun auch versuchen, unsere Frage, warum diese Niedrigkeit, in der der Gott-Mensch Jesus Christus in dieser Welt erscheint, warum das Ertragen der grenzenlosen Schmach seiner Kreuzigung, zu beantworten.
Die Liebe Christi, mit der er uns begegnet, geht über das weit hinaus, was Liebe normalerweise will: die unbedingte Annahme des anderen in einem Liebesbund, um diesen Bund mit Liebe zu erfüllen. Der Gott-Mensch kommt in eine Welt, die beladen ist mit Schuld, mit den Verbrechen vieler Menschen. Er sucht auf der einen Seite den Zugang zu den mit Schuld und Verzweiflung Beladenen, indem er ihnen auf einer Stufe begegnet, die niemand als überheblich abweisen kann. Auf der anderen Seite will er das, was nicht sein soll, auslöschen. Das Nicht-Soll soll nicht sein. Er leistet Sühne für unsere Sünden, indem er unsere Sünden zu seinen eigenen macht, um sie so aufzuheben, sie auszulöschen. Das kann nur er, der absolut Sündenlose. Er macht uns erst wieder prinzipiell frei von Schuld, wenn wir sein Opfer annehmen, damit wir selbst unbelastet und frei lieben können. D.h. Christus schenkt uns mit seiner Sühne-Liebe eine Überliebe, die unsere Liebesfähigkeit erst ermöglicht und die unsere so weit übersteigt. Das erklärt auch seine Zurückhaltung gegenüber den Sündern. Er will sie retten, nicht verurteilen. Denn im Himmel ist über eine einzige Bekehrung bekanntlich größere Freude als über 99 Gerechte. |