Christus in der Kirche
von Karl Adam (aus: Das Wesen des Katholizismus, Düsseldorf 1936, S. 23-41)
"Siehe, Ich bin bei euch bis ans Ende der Welt." (Matth.28,20)
Fragen wir die katholische Kirche nach dem, was sie von sich selbst hält, was ihren Wesensanspruch ausmacht, ihr Selbstbewußtsein, so antwortet sie uns durch den Mund ihrer bedeutendsten Lehrer aus allen Jahrhunderten: Die Kirche ist die Verwirklichung des Gottesreiches auf Erden. „Die jetzige, die gegenwärtige Kirche ist das Reich Christi und das Reich der Himmel", so betont mit Wucht der hl. Augustin (de civ. Dei 20, 9, 1). Das „Himmelreich", das „Gottesreich", das Christus im Anschluß an Daniels Prophetie (7, 9—28) verkündet, das wie ein Senfkorn heranwächst und wie ein Sauerteig die Welt durchdringt, und das wie ein Acker Weizen und Unkraut birgt bis zur Ernte, dieses „Reich der Himmel" sieht die Kirche in ihrem eigenen Wesen keimgelegt und dargestellt. Sie ist sich bewußt, die Erscheinung des im Gottesreich hereinbrechenden Neuen, übernatürlichen zu sein, die Erscheinung des Heiligen. Sie ist im Kleid des Vergänglichen die neue, von Christus auf die Erde gebrachte übernatürliche Wirklichkeit, die in irdischen Hüllen sich bezeugende göttliche Wahrheit und Gnade. Und insofern sich ihre Fülle in der Person Christi schöpferisch erschlossen hat, spricht Paulus, der Völkerapostel, ihr tiefstes Geheimnis aus, wenn er die Kirche in Anlehnung an hellenistische Formeln den Leib Christi nennt (1. Kor. 12, 27; Kol. 1, 18. 24; Eph. 1, 22; 4, 12): „Wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, ob wir nun Juden oder Griechen, Knechte oder Freie sind, und wir sind alle zu einem Geist getränkt" (1. Kor. 12, 13).
Christus, der Herr, ist das eigentliche Ich der Kirche. Die Kirche ist der von den Heilandskräften Jesu durchwirkte Leib. So innig ist diese Verbindung Christi mit der Kirche, so unzertrennlich, so naturhaft und wesensmäßig, daß Paulus im Kolosser- und Epheserbrief Christus geradezu das Haupt des Leibes nennt. Als das Haupt des Leibes der Kirche macht Christus den kirchlichen Organismus erst fertig und ganz. Christus und die Kirche lassen sich so wenig voneinander getrennt denken wie das Haupt und sein Leib (Kol. 1,18; 2, 19; Eph. 4,15 f.). Diese Überzeugung von der Christusdurchlebtheit, von der Wesensverbindung der Kirche mit Christus ist ein Grundstück der christlichen Verkündigung. Von Origenes über Augustin bis Pseudodionysius und darüber hinaus bis Thomas von Aquin und darüber hinaus bis zu unserem unvergeßlichen Möhler, dem Tübinger Meister, steht diese Gewißheit im Brennpunkt der Lehre von der Kirche. Es ist den Lehrern der Kirche eine Lust, in immer neuen Wendungen das Wort Augustins zu wiederholen, mit dem er die mystische Einheit von Kirche und Christus feiert: beide sind „eins", „ein Leib", „ein Fleisch", „eine und dieselbe Person", „ein Mensch", „ein Christus", „der ganze Christus". Nicht zarter und anschaulicher hätte diese wesenhafte Bezogenheit von Christus und Kirche, dieses ihr inniges Einssein zum Ausdruck gelangen können als durch das Bild von der Brautschaft zwischen Christus und der Kirche, das Paulus im Anschluß an die Redeweise mancher Propheten (Hos. 1 —3; Jer. 2,2; Jes. 54,5) erstmals verwendet (2. Kor. 11,2). Die Kirche ist nach Paulus die Braut Christi, für die Er sich hin-gegeben hat. In ähnlichem Gedankengang feiert St. Johannes in der Geheimen Offenbarung die „Hochzeit des Lammes", und er singt von der „Braut", die sich bereit hält (Offenb. 19, 7. 8). Die spätere mystische Theologie wob aus diesen biblischen Gedanken ihre wundersame duftige Brautmystik: Christus der Herr, die Kirche Seine Braut und beide zeugen in innigem Verein die Kinder des Lebens. Diese übernatürliche Wesenheit der Kirche wirkt sich in erster Linie in ihren ursprünglichsten Schöpfungen aus, in Dogma, Sitte und Kultus.
Ihr Dogma will nichts anderes sein als die von der Kirche in unfehlbarem Lehrentscheid zu glauben vorgestellte Offenbarungswahrheit Christi, die frohe Botschaft von all der köstlichen Wirklichkeit, von all dem flutenden Leben, das mit dem unerschaffenen Wort in die raumzeitliche Welt eingetreten ist. Die Dogmen der Christologie im engeren Sinn beschreiben die Person des Gottmenschen, das Ausstrahlen der „Herrlichkeit Gottes" auf dem Antlitz Jesu. Die Dogmen von der Erlösung beschreiben Sein Erlöserwirken im Leben, Leiden und Sterben und zur Rechten des Vaters. Die Dogmen von der Dreifaltigkeit führen zum Quellgrund dieses göttlichen Lebens, zum Schoß des Vaters und verfestigen die raumzeitliche Erscheinung Jesu in den ewigen innergöttlichen Ausgängen. Die mariologischen Dogmen beschreiben die leiblichen natürlichen Zusammenhänge der Menschheit Jesu und Sein Erlöserwirken gegenüber der eigenen gebenedeiten Mutter. Die Dogmen von der Gnade sichern die Ungeschuldetheit, die Gottverdanktheit des Erlösertums Jesu und begründen die neue Grundstimmung der Erlösten: Liebe, Friede, Freude im Heiligen Geist. Die Dogmen von der Kirche und den Sakramenten und Sakramentalien beleuchten die Vermittlung des in Christus aufquellenden neuen Lebens an die Menschen aller Zeiten und Orte. Die Dogmen von den letzten Dingen beschreiben Jesus als den Richter und Vollender, und wie Er nach vollbrachter Erlösung Seine Herrschaft dem Vater zurückgibt, auf daß „Gott alles in allem sei". So tragen alle Dogmen der katholischen Kirche den Namenszug Christi; sie wollen irgendeine Seite Seiner Verkündigung ausprägen, sie wollen den lebendigen, erlösenden, regierenden, richtenden Christus nach allen Weiten Seiner geschichtlichen Entfaltung uns vor Augen führen.
Und nicht anders steht es mit der kirchlichen Sittlichkeit und dem kirchlichen Kultus. Das Grundziel aller Kirchenzucht, alles Unterrichts und aller Predigt ist, im Gläubigen einen „zweiten Christus" zu gestalten, ihn, wie die Väter sich ausdrücken, „christförmig" zu machen. Dieses eine höchste Erziehungsziel wahrt der christlichen Sittlichkeit ihre innere Einheit. Es gibt keine doppelte Moral in der Kirche, weil es nur einen Christus auszugestalten gilt. Unendlich mannigfach sind nur die Weisen und Wege, auf denen dieses eine Ziel angestrebt wird, so mannigfach wie die Menschen selbst, die zu Christus emporwachsen und ausreifen sollen. Nicht wenige Gläubige werden nur in leisem, schattenhaftem Umriß Christi Bild in sich auszuformen vermögen. Allein wie die Natur sich darin gefällt, zuweilen in einzelnen vollendeten Gebilden sozusagen ihr Bestes zu geben und ihre überschüssige Kraft in ihnen auszuleben, so schießt die in der Kirche wirksame Fülle Christi, der Reichtum Seines Gnadensegens, immer wieder in diesen und jenen Heiligengestalten zu leuchtenden Strahlenbündeln empor, zu Wundern der Selbstlosigkeit und Liebe, der Reinheit, Demut und Hingabe. Professor Merkles Buch über „Religiöse Erzieher der katholischen Kirche" mag auch den Fernstehenden einigen Einblick gewähren in den tiefen Ernst und die heldische Kraft, mit der die Kirche aller Jahrhunderte nach der Verwirklichung des Bildes Christi, nach der Umsetzung Seines Geistes in Fleisch und Blut, nach Jesu Fleischwerdung im einzelnen Menschen ringt.
Dieselbe Christusverwobenheit, Christuserfülltheit wie die kirchliche Sittlichkeit atmet der kirchliche Kult. Wie jedes einzelne Gebet der Liturgie mit dem altchristlichen Segenswort schließt: „Durch Christus, unsern Herrn", so ist jede gottesdienstliche Handlung vom Meßopfer an bis zur letzten Gebetsgeste ein Hinweis auf Christus, ein „Erinnern" an Ihn. Ja, noch mehr: Der kirchliche Kult ist nicht bloß ein kindliches Erinnern an Christus, sondern ein in sichtbaren geheimnisvollen Zeichen erfolgendes Teilhaben an Jesus und Seiner Erlöserkraft, ein erquickendes Berühren des Saumes Seines Gewandes, ein befreiendes Betasten Seiner heiligen Wunden. Das ist der tiefste Sinn der kirchlichen Liturgie, den Erlösersegen Christi als heilige, erschütternde, das ganze Christenleben erfüllende Wirklichkeit gegenwärtig, anschaulich und fruchtbar zu machen. Im Vorgang der Taufe strömt für das gläubige Bewußtsein Christi Opferblut in die Seele, reinigt sie von allen Schwächen der Erbschuld und durchtränkt sie mit Sei-nen eigenen heiligen Lebenskräften, auf daß ein neuer Mensch daraus werde, der wiedergeborene Mensch, der Mensch der Gotteskindschaft. Im sakramentalen Vorgang der Firmung sendet Jesus Seinen „Tröster", den Geist des Starkmuts und gotterfüllten Glaubens ins erwachende religiöse Bewußtsein, um aus dem Kind Gottes einen Kämpfer Gottes emporzubilden. Im Sakrament der Buße tröstet Jesus als vergebender Heiland die bekümmerte Seele mit dem Friedenswort: Geh hin, deine Sünden sind dir vergeben. Im Sakrament der Ölung tritt der barmherzige Samaritan ans Krankenbett und träufelt neuen Lebensmut und Opfergeist ins wunde Herz. Im Sakrament der Ehe verwurzelt Er die Liebe von Mann und Weib in Seiner eigenen tiefen Liebe zu den Seinen, zur Gemeinschaft, zur Kirche, in Seiner Treue bis in den Tod. Und in der Handauflegung der Priesterweihe überträgt Er Seine messianische Vollmacht, Seine Sendegewalt an die von Ihm berufenen Jünger, um durch sie fortzeugend die neuen Menschen, die Kinder Gottes aus dem Reich des Todes zu erwecken.
Die Sakramente sind nichts anderes als die sichtbare, durch das Wort Jesu und den apostolischen Gebrauch verbürgte Gewähr, daß Jesus mitten unter uns wirkt. In allen bedeutsamen Wendepunkten unseres kleinen Lebens, in seinen Höhen und seinen Tiefen, am Traualtar und an der Wiege, am Krankenbett, in allen Ängsten und schweren Erschütterungen, die über uns kommen mögen, steht in der verhüllenden Form des sakramentalen Gnadensegens Jesus da als Freund und Tröster, als Wundarzt der Seele und des Leibes, als Seligmacher. Zumal Thomas von Aquin (Summa theologica, p. 3, q. 65 a.1) hat diese innige Durchflochtenheit des ganzen Christenlebens mit dem Sakraments- und Erlöserglauben lichtvoll beschrieben. Doch auch der Altmeister Goethe spricht warm von ihr im 7. Buch des 2. Teils von „Dichtung und Wahrheit", und er schließt seine Abhandlung mit der bezeichnenden Bemerkung: »Wie ist dieser wahrhaft geistige Zusammenhang im Protestantismus zersplittert, indem ein Teil dieser Symbole für apokryphisch und nur wenige für kanonisch erklärt werden, und wie will man uns durch das Gleichgültige der einen zu der hohen Würde der anderen vorbereiten."
Aber das Tiefste und Heiligste sind die aufgezählten Sakramente noch nicht. So sehr er-schließt Sich Jesus Seinen Gläubigen, so durchgreifend ist Seine Erlöserliebe, daß Er Sich als persönliche Gnadenwirklichkeit in den Gläubigen setzt. Sein Innerstes teilt Jesus den Seinen mit, das Köstlichste, was Er hat, Sein Ich, Seine gottmenschliche Persönlichkeit. Wir essen Sein Fleisch und trinken Sein Blut. So sehr liebt Jesus Seine Gemeinde, daß Er sie nicht bloß mit Seinem Segen und Seiner Kraft, sondern mit Seinem wahrhaften gottmenschlichen Ich durchlebt, daß Er in Fleisch- und Blutgemeinschaft mit ihr tritt und sie mit Seinem Wesen verbindet wie der Weinstock die Rebe. Nein, wir sind nicht als Waisen in der Welt zurückgelassen. Unter den Gestalten von Brot und Wein lebt der Meister unter Seinen Jüngern, der Bräutigam bei Seiner Braut, der „Herr" inmitten Seiner Gemeinde, bis Er dereinst wiederkommen wird in sichtbarer Herrlichkeit von den Wolken des Himmels. Das Altarssakrament ist das stärkste, tiefste, innerlichste „Erinnern" an den Herrn, bis Er wiederkommt. Und darum können wir Jesus nicht vergessen, ob die Jahrhunderte und Jahrtausende dahingehen und Völker und Kulturen immer aufs neue durcheinanderwirbeln. Und darum gibt es kein Herz auf Erden, selbst nicht das Herz von Vater und Mutter, das von Millionen und Millionen so wahr und treu, so tatkräftig und hingebend geliebt würde wie das Herz Jesu.
Wir sehen: In den Sakramenten, zumal im Sakrament des Altars spiegelt sich der Grundgedanke der Kirche am leuchtendsten wider, die Wahrheit von der Eingliederung der Gläubigen in Christus, Darum erscheint es dem Katholiken oberflächlich, die kirchlichen Sakramente wegen dieser und jener äußerlichen Ähnlichkeit auch in ihrem eigentlichen Gehalt und in ihrer beherrschenden Stimmung aus außerchristlichen Vorstellungsreihen und Kulten, etwa aus den heidnischen Mysterien, abzuleiten. Die kirchlichen Sakramente atmen vielmehr ursprüngliches christliches Leben. Sie sind als unmittelbare Stiftung Christi der getreueste Ausdruck und Niederschlag der urchristlichen Frohbotschaft vom unzertrennlichen Verbundensein mit Christus, vom dauernden „Sein in Christus". In der katholischen Sakramentsmystik wird Christus als der Herr der Gemeinde, als ihr geheimer Kraft- und Segensquell gläubig bejaht und erfahren. In ihr prägt sich das Grundwesen der Kirche aus, das Fortleben Christi in ihr.
Dogma, Sitte und Kult offenbaren nach dem Gesagten in erster Linie das Bewußtsein der Kirche, übernatürlichen Geblüts, Christi Leib zu sein. Dieses Bewußtsein beherrscht aber weiterhin auch den Geist ihrer Ordnungen und Einrichtungen, die besondere Art und Weise, wie die Kirche ihr übernatürliches Leben ausgewirkt haben will, vor allem den kirchlichen Amts- und Sakramentsbegriff. Sprachen wir also bis jetzt von dem übernatürlichen Leben in der Kirche, so beleuchten wir nunmehr die besondere Form, in der dieses Leben dargeboten wird. Weil die Kirche nichts anderes sein will als der Leib Christi, als die Auswirkung Seines gottmenschlichen Wesens in der Geschichte, ist Christus der Verklärte der eigentliche Quellgrund ihrer Gewalten und Vollmachten derart, daß alle diese Vollmachten nur in Seinem Namen geübt werden und im eigentlichen, tiefsten Sinn Ihm angehören. Das ganze Verfassungsleben der Kirche ist durchaus aris-tokratisch, von oben, von Christus her bestimmt, nicht demokratisch. Die Autorität, die Vollmacht kommt nicht von unten, von der Gemeinde, sondern von oben, von Christus. Von dem in Christus offenbar gewordenen Gott fließt der Strom der neuen Gewalten über die Apostel zur Kirche. Schon der alte Afrikaner Tertullian unterstreicht diesen Sachverhalt. „Die Kirche von den Aposteln, die Apostel von Christus, Christus von Gott" (de praescr. 37). Die Apostel wirkten nicht kraft eigenen Rechtes, sondern als „Abgesandte" und Stellvertreter Christi: „Wer euch hört, der hört Mich, und wer euch verachtet, der verachtet Mich; wer aber Mich verachtet, der verachtet den, der Mich gesandt hat" (Lk. 10, 16; vgl. Mt. 10, 40). Und die Apostel ihrerseits bestellten, wie die neutestamentlichen Schriften, besonders die Pastoralbriefe, bezeugen (vgl. Tit. 1, 5; 1. Tim. 4, 14; 2. Tim. 1, 6; Apg. 20, 28), überall da, wo sie neue Gemeinden gründeten, durch Handauflegung die „Erstlinge", d. h. die Erstbekehrten, zu Vorstehern, die an ihrer Statt die „Her-de Gottes weiden" sollten, wie der hl. Petrus so schön und bezeichnend sich ausdrückt (1. Petr. 5, 2). Nicht die Gemeinden waren also die Träger, das Subjekt der apostolischen Vollmachten, sondern die im Namen Christi von den Aposteln an ihrer Statt gewählten „Ältesten", „Vorsteher", „Aufseher". Und nach dem Hinscheiden der Apostel waren es wieder diese Ältesten, welche ihre Sendegewalt durch Handauflegung weitergaben und die neu erstehenden Gemeinden um die mit der Sendegewalt Betrauten sammelten. Wohl hatten die Gemeinden mitzubestimmen und mitzuraten, wer die Sendungsgewalt erhalten solle. Aber die Gewalt selber war ausschließlich eine apostolische Gewalt, ein Reservat der von den Aposteln sich ableitenden „Vorsteher". Man darf sagen: Die ganze altchristliche Literatur bezeugt diesen Gedanken. In klassischer Anschaulichkeit entwickelt ihn bereits eine der ersten christlichen Schriften, der 1. Klemensbrief (Cor. 44, 3).
Das kirchliche Amt ruht also auf der apostolischen Nachfolge (successio apostolica), auf der durch Handauflegung erfolgenden Fortleitung jener Sendegewalt, welche die Apostel von Christus empfangen hatten. Diese apostolische Sendegewalt, wie sie sich von Bischof zu Bischof weiterleitet bis auf den heutigen Tag, ist nach ihrem inneren Wesen betrachtet nichts anderes als die messianische Vollmacht Jesu. Auf dem Weg der apostolischen Nachfolge strömt sie fortzeugend weiter und teilt Jesu Wahrheit und Gnade der Menschheit mit. So steht also Jesus selbst hinter dem kirchlichen Amt. Christus ist, wie die Schule sich ausdrückt, die „Hauptursache" (causa principalis) aller kirchlichen Funktionen, ihr letzter Kraftquell und Wirkungsgrund. Der Mensch ist nur Werkzeug, die causa instrumentalis, von all dem, was Christus selbst in der Kirche lehrt und heiligt und anordnet. Darum tritt in der kirchlichen Funktion das menschliche Ich, das Persönliche, die Individualität als solche betrachtet, völlig zurück. An die Stelle des Persönlichen tritt die den Leib Christi durchwaltende Heilandsmacht Jesu. Ihr Ausdruck und Niederschlag ist das kirchliche Amt. Das Amt ist wesentlich Dienst Christi, das heißt ein Dienst, der im Namen und Auftrag Christi allein vollzogen wird und von der Autorität Christi her aus-schließlich seine Bedeutsamkeit hat. Wohl kann die Persönlichkeit des Amtsdieners auf die Art und Weise, wie er Christi Willen durchführt, beträchtlich abfärben. Allein das Wesentliche seiner Leistung, der Kern seiner Wirksamkeit ist von persönlichen Vorzügen und Schwächen durchaus unabhängig. Denn sein Predigen und Regieren geschieht, so sehr es von den Kräften seiner Persönlichkeit getragen ist, in der Vollmacht Christi. Und nicht er tauft, sondern Christus tauft durch ihn. Der kirchliche Amtsbegriff fließt also unmittelbar aus der Grundüberzeugung von dem inneren Durchlebtsein der Kirche durch ihren „Herrn". Er ist nicht eine unevangelische Entlehnung aus heidnischen Quel-len, etwa gar aus dem jüdischen oder römischen Recht, sondern die Ausprägung des christlichen Urgedankens: „Christus ist es, der predigt; Christus ist es, der tauft." Das kirchliche Amt will nichts anderes als den großen urchristlichen Gedanken schützen, daß in der Kirche nur eine Autorität zu Recht besteht, nur ein Lehrer, ein Gnadenbringer, ein Hirt: Christus, der Herr. Nicht eine Erstarrung und Verknöcherung bedeutet darum der kirchliche Amtsbegriff, sondern ein Freimachen des Blicks und der gläubigen Haltung für Christus und Ihn allein. Keine menschliche Autorität, kein fremdes Du soll zwischen Christus und den Gläubigen treten. Unmittelbar von Christus selbst soll die göttliche Wahrheit, die Gnade, das Leben in die Seele strömen. Das kirchliche Amt sichert also — so widersprechend das klingen mag — gerade durch sein unpersönliches, Außerpersönliches Gepräge die Freiheit der christlichen Persönlichkeit. Es bewahrt vor der geistigen Gewaltherrschaft und dem Mittleranspruch der sogenannten Führerpersönlichkeiten und teilt Christus und Gläubige unmittelbar einander gegenüber. Das Amt trennt also nicht, sondern verbindet, oder vielmehr, es schützt und sichert jenes geheimnisvolle Kraftfeld und jene wundersamen Kraftfeldfiguren, die aus der Polarität von Christus und Seele entstehen. Es schützt und sichert den unmittelbaren Zusammenhang und Lebensaustausch zwischen dem Haupt und Seinen Gliedern.
Das gilt von dem kirchlichen Lehramt so gut wie von dem Priester- und Hirtenamt. Auch das kirchliche Lehramt ist an das Wort des Herrn gebunden: Nur einer sei euer Lehrer, Christus (Mt. 23,10). Wenn der katholische Priester das Wort Gottes verkündet, so predigt Christus selbst durch ihn. Wohl kommt diese Autorität Christi gerade in der Lehrverkündigung Seines Stellvertreters am eindringlichsten und leuchtendsten zum Aus-druck. Aber auch in der Predigt eines schlichten Kaplans in einsamer Dorfkirche vernimmt der Gläubige Christi Wort. „Durch die Seinen spricht Christus selbst, und durch Seine Boten vernimmt man Seine Stimme" (Augustin, in Ev. Joh. tract. 47,5). Die ganze Geschichte der christlichen Glaubenskämpfe ist von diesem christozentrischen Lehrbewußtsein der Kirche beherrscht. Weil ihre Verkündigung an Christus ausschließlich gebunden ist, darum hält die Kirche so trotzig und starr an der überkommenen Christusbotschaft fest. Darum gibt es bei ihr kein Liebäugeln und kein Verbrüdern mit dem Zeit-geist. Ihr Lehren ist und will nichts anderes sein als ein Fortüberliefern der von den Aposteln verkündeten Botschaft Christi. Was Paulus seinem Schüler Timotheus ein-schärft: „Timotheus, bewahre das dir Anvertraute!" (2.Tim. 1,14; vgl. I.Tim.4, 16; 6,14), das ist der Leitsatz aller kirchlichen Lehrverkündigung. Dieser Geist zäher Überliefe-rungstreue fließt unmittelbar aus der christozentrischen Grundhaltung der Kirche. Von dieser Grundeinstellung aus wandte sich die Kirche von jeher gegen jede Vergewaltigung durch Führerpersönlichkeiten, Schulen und Richtungen. Da, wo durch diese Schulen das gemeinchristliche Bewußtsein, die überlieferte Botschaft von Christus getrübt oder bedroht erschien, da zögerte sie nicht, selbst über ihre größten Söhne hinwegzuschreiten, über einen Origenes, Augustin, ja — hier und dort — selbst über einen Thomas von Aquin. Und überall da, wo grundsätzlich nicht die Überlieferung, nicht das Feststehen auf dem Boden der Geschichte, der urchristlichen Gegebenheiten, der fortlebenden Glaubensgemeinschaft, sondern das eigene enge Denken und das eigene kleine Erlebnis und das eigene arme Ich zum Träger der Christusbotschaft gemacht werden sollte, da sprach sie umgehend ihr Verwerfungsurteil aus, und dieses Urteil würde sie fällen, selbst wenn ein Engel vom Himmel käme, der anders lehrte, als sie von den Aposteln überkommen hat. Die Geschichte der kirchlichen Lehrverkündigung ist nichts anderes als die Geschichte ihres zähen Festhaltens am Evangelium Jesu, eine folgestrenge Durchführung Seines Gebotes : Nur einer sei euer Lehrer, Christus (Augustinus: „Christus erst, qui docet: audimus, timeamus, faciamus.“ De disc. Christ. 14,15).
Noch unmittelbarer denn hinter dem kirchlichen Lehramt steht Christus, der „Herr" der Gemeinde, hinter dem sakramentalen Wirken der Kirche. Nur wer dieses Entscheidende verkennt, mag wähnen, daß sich „in der scholastisch-dogmatischen Auffassung von der Wirksamkeit der Sakramente die primitiven Vorstellungen von der automatischen Kraft, von dem Manna der heiligen Handlung verraten". (Heiler, Friedrich: „Der Katholizismus, seine Idee und seine Erscheinung“ 1923, S. 12) Nach katholischer Lehre wird die „sakramentale" Gnade, die im Unterschied zur vorübergehenden „wirkenden" Gnade eine dauernde Gottverbundenheit schafft, nicht durch die persönlichen, sittlich-religiösen Bemühungen des Sakramentsempfängers erzeugt, gewirkt (ex opere operantis), sondern vielmehr durch den bloßen Vollzug des sakramentalen Zeichens selbst (ex opere operato). In jedem Sakrament ist ein Objektives gegeben (opus operatum), nämlich eine eigentümliche Verbindung von Ding (Materie) und ausdeutendem Wort (Form), in wel-cher nach dem Willen Christi die sakramentale Gnade anschauliche Gestalt gewinnt. In-dem diese Verbindung nach der Absicht der Kirche am Empfänger vollzogen wird, wird das sichtbare Zeichen zum „Werk Christi" (opus Christi), das unabhängig vom persönlichen Anteil des Empfängers kraft seines gültigen Vollzugs die im Symbolgehalt des Zeichens angedeutete sakramentale Gnade wirkt18. Dadurch z. B., daß im Namen der heiligsten Dreifaltigkeit das Taufwasser über das Haupt des unmündigen Kindes gegossen wird, wird das Kind eben durch den Vollzug dieses Aktes von der Erbschuld abgewaschen und in die göttliche Liebesgemeinschaft aufgenommen. Es öffnet sich gleichsam der Himmel, und die Stimme des Vaters ruft: „Du bist mein geliebtes Kind."
Der sakramentale Akt vermittelt also tatsächlich „ohne jedes subjektive Moment" die Gnade des Erlösers, wenigstens soweit das Heil eines unmündigen Kindes in Frage kommt. Da, wo es sich um die Rechtfertigung eines mündigen, zum religiös-sittlichen Bewußtsein erwachten Menschen handelt, muß sich der Empfänger, von der zuvor-kommenden wirkenden Gnade erfaßt, für die im sakramentalen Akt objektiv dargebote-ne Gnade subjektiv — durch Akte des Glaubens, der Buße und Reue — vorbereiten. Die-se religiös-sittliche Bemühung des Erwachsenen ist aber nicht die wirkende Ursache der Begnadigung (causa efficiens), sondern bereitet nur darauf vor (causa dispositiva). Die Wirkursache der Gnade ist ausschließlich Christus selbst, der durch das von Ihm festgesetzte Gnadenzeichen Seinen Gnadenwillen kundtut und anbietet. Die sakramentale Gnade ist also etwas Gegebenes, Geschenktes, etwas, was über und jenseits aller persönlichen Bemühung durch den sakramentalen Akt bereits gewährleistet ist. Ob diese ursprünglich bereits dargebotene sakramentale Gnade auch wirklich für mich wirksam wird, d.h. ob sie in mir den Zustand der Rechtfertigung tatsächlich herstellt oder vervollkommnet, das hängt von dem Ernst ab, mit dem ich mich der zuvorkommenden Gnade geöffnet und auf den Sakramentsempfang vorbereitet habe. Der katholische Sakramentsbegriff setzt also, sofern er auf eine persönliche Aneignung der sakramentalen Gnade hinzielt, die religiös-sittliche Mitwirkung des Empfängers voraus. Darum hat er mit jenem primitiven Zauber nichts zu tun, der vom kraftgeladenen „Manna" allein das Heil erwartet.
Wer von einer „magischen Wirksamkeit" des Sakraments reden zu sollen glaubt, löst es übrigens nicht bloß vom Empfänger, sondern auch von Christus, dem eigentlichen und einzigen Gnadenspender, los und stellt es auf sich selbst. Das kirchliche Sakrament wird unter seinen Händen aus einem Gnadenzeichen ein selbständiger, kraftbegabter Gnadenquell, ein heiliger Zauber. In Wirklichkeit ist das Sakrament nicht und keinen Augen-blick auf sich selbst gestellt. Es hat seinen ganzen Sinn und seinen ganzen Bestand nur in und durch Christus. So wie es Christus während Seines Erdenwallens nicht verschmähte, Seine leiblichen Heilungen an unscheinbare Symbole zu knüpfen (vgl. Mk. 7, 32; Jo. 9,6), so erhob Er in einem neuen erhabenen Sinn auch die Sakramente zu eigentlichen Werk-zeugen Seiner Erlösermacht (causae instrumentales), um durch sie, durch ihre Sichtbare Gegebenheit, die Seelen zu heiligen. Ja, nach der Meinung der sogenannten Franziskanerschule, die auch heutzutage noch vertreten wird, eignet dem Sakrament überhaupt keine ihm irgendwie innewohnende „physische" Ursächlichkeit. Die Gnade strömt viel-mehr unmittelbar von Jesus in die Seele des Gläubigen. Das Sakrament ist nur ein mit Feierlichkeit umkleidetes Zeichen Christi, verdinglichter Gnadenwille Jesu, ein anschaulich gemachtes, sinnenfälliges, wirksames: Ich will, sei rein!
Freilich: Etwas Dingliches, Unpersönliches bleibt auch nach dieser Ausdeutung im kirchlichen Sakramentsbegriff verborgen. Es bleibt wahr, daß die Gnade Christi nicht mit der sittlich-religiösen Betätigung des Gläubigen oder des Priesters, sondern mit der objektiven Setzung des Gnadenzeichens ursächlich verbunden wird. Aber warum ist das so? Gerade im Unpersönlichen, Dinglichen des Sakraments kommt das Tiefste zum Aus-druck, was die Kirche ihr eigen nennt: ihre innigste Verbundenheit mit Christus, ihr Wirken rein aus der Fülle Christi, ihr Heiligen durch die Kraft Christi allein. Eben weil es nicht das Menschliche an ihr ist, was die Menschen heiligt, sondern allein die Kraft Christi, darum ist der Segen Christi nicht an rein natürliches, menschliches Wirken gebunden, nicht an das Glauben und Büßen des Sünders, auch nicht an das Beten und Op-fern heiliger, hochgestimmter Seelen, außerordentlich begnadeter Persönlichkeiten, heiliger Propheten, Bischöfe und Priester, sondern an ein völlig Unpersönliches, an ein totes Zeichen, das nichts für sich hat als den Vorzug, ein Zeichen Christi, ein gültiger Ausdruck Seines Gnadenwillens zu sein. Der kirchliche Sakramentsbegriff will also gerade das Tiefste im Christentum wahren, das, wofür der hl. Paulus litt und stritt, die völlige Ungeschuldetheit der Gnade und den Gedanken, daß Christus „alles in allem" ist. Weil darum das Unpersönliche des Sakraments unmittelbar mit dem Wesentlichen des Christentums gegeben ist, darum ist es so alt wie das Christentum selbst und so alt wie der Leib Christi, die Kirche. Die biblische Theologie betont mit Nachdruck, daß bereits die Sakramentslehre des hl. Johannes und des hl. Paulus dieses Unpersönliche an sich habe, daß sie ein rein sakramentales Wirken im umschriebenen Sinn, wenigstens der Sache nach, kenne und darum durchaus katholisch bestimmt sei. Und wie könnte es auch anders sein! Da, wo Christus im Mittelpunkt steht, wo mit dem Wort Ernst gemacht wird, daß wir aus Seiner Fülle alles empfangen haben, scheiden alle menschlichen Heilsursachen aus. Da gibt es keine menschlichen Mittler, wie Augustin gegen die Donatisten bemerkt. Da ist Christus allein am Werk. Als sich in der korinthischen Gemeinde einige Gläubige an einzelne hervorragende Persönlichkeiten anschlossen und eine Petrus-, Paulus- und Apollopartei bildeten, als ob sie ihr Heil auf menschliche Größen bauen wollten, da wehrte sich Paulus mit der flammenden Glut des Christuszeugen gegen solche Vermenschlichung des Evangeliums. „Was ist denn Apollo, was Paulus? ... Diener dessen, durch welchen ihr gläubig geworden seid ... einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus" (1. Kor. 3, 4 ff.). Um die Herausstellung und Sicherung dieser Grundlage des Christentums handelt es sich im kirchlichen Sakramentsbegriff. In jahrhundertelangen Kämpfen gegen die Montanisten, Novatianer und Donatisten und späterhin wieder gegen die Waldenser, Albigenser und Hussiten wiederholte die Kirche das Wort des hl. Augustin: „Die Sakramente heiligen durch sich selbst, nicht durch die Menschen." Denn nicht die Menschen taufen und sprechen von Sünde frei, sondern Christus allein. Indem das christliche Sakrament gerade durch sein unpersönliches Gepräge alle menschlichen Heilsvermittler ausschaltet, gewährleistet es den unmittelbaren freien Lebensaustausch zwischen dem Haupt und Seinen Gliedern. Darum ist nirgends so wie in der katholischen Frömmigkeit die persönliche Freiheit des religiösen Auslebens geschützt. So mannigfach wie die ungezählten Blätter am Baum, so mannigfach sind die Frömmigkeitsformen, in denen sich das sakramentale Christuserlebnis des Katholiken auswirkt.
Noch ein weniges wäre über die Bezogenheit des kirchlichen Hirtenamts zum Haupt der Kirche zu sagen. Nach dem Johannesevangelium (21, 15 ff.) beauftragte der verklärte Christus den Apostel Petrus: „Weide Meine Lämmer, weide Meine Schafe!" Nicht seine eigenen Schafe soll Petrus weiden, sondern die Schafe Christi. Die Hirtengewalt tritt also bei Johannes deutlich als Stellvertretungsgewalt, als eine Gewalt an Christi Statt in Erscheinung. In diesem Sinn übt sie bereits der hl. Paulus gegenüber dem unzüchtigen Korinther: „Im Namen des Herrn Jesu Christi" und „mit der Kraft des Herrn Jesu Christi" übergibt er ihn „dem Satan zum Verderben des Fleisches, auf daß der Geist selig werde am Tag des Herrn" (1. Kor. 5, 4). Alle Maßnahmen der Kirchenzucht sind von dem Bewußtsein der Kirche getragen, im Namen und in der Kraft Jesu zu entscheiden. Insoweit sich das kirchliche Hirtenamt freilich nicht wie das Lehr- und Priesteramt unmittelbar auf übernatürliche, von der christlichen Offenbarung ein für allemal umschriebene Wirklichkeiten bezieht, auf die Wirklichkeit des Dogmas und Sakraments, sondern die Einführung dieser übernatürlichen Wirklichkeit ins praktische Leben, die Anwendung der christlichen Normen und Werte auf das forttreibende, von Tag zu Tag wechselnde Leben der Menschen und Völker zum Gegenstand hat, besteht nicht für alle seine einzelnen Maßnahmen die unbedingte Gewißheit, daß sie im Sinne und Geiste Jesu geschehen. So ist es möglich, daß sich, wie schon der hl. Augustin wiederholt unterstreicht, in der Handhabung der Kirchenzucht Menschliches, Allzumenschliches einschleicht, und daß Irrtümer und Fehler zu beklagen sind. Allein wenn auch das Einzelne fehlerhaft sein mag, das leuchtende Ziel, die leitenden Grundsätze und die entscheidenden Mittel der Kirchenzucht sind nach der Überzeugung des Gläubigen Geist Christi, in Seiner Wahrheit, Liebe und Kraft geborgen. Der Katholik weiß, daß die Herrschaft der Kirche eine Herrschaft der Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe ist, und darum ist für ihn das Problem Dostojewskis gelöst, das in der Legende vom Großinquisitor oder vielmehr in dem großen Romanbruchstück der Gebrüder Karamasoff, von dem die Legende nur ein Teil ist, so packend gezeichnet ist, das Problem, ob denn eine menschliche Herrschaft nicht gleichbedeutend mit Vergewaltigung sei. Ja, so ist es. Jede rein menschliche Herrschaft ist notwendig Gewaltherrschaft, ob sie nun von einzelnen oder von einer Gemeinschaft ausgeübt wird. Nur im sichtbaren Gottesreich der Kirche ist der Mensch vom Menschen frei. Denn nicht den Menschen dient er, sondern Gott. Darin liegt das Außenstehenden so unbegreifliche Geheimnis des kindlichen Gehorsams, den der Gläubige kirchlichen Vorschriften entgegenbringt, eines Gehorsams, der bereitwillig und mit tapferem Ja das eigene kleine Meinen und Wünschen dem in der kirchlichen Satzung sich aussprechenden Willen Christi, der die Kirche leitet, unterwirft; der das kleine, enge Ich bereitwillig ausweitet zum großen Ich der Kirche. Das ist nicht Kadavergehorsam, nicht Sklavengesinnung, das ist für den Gläubigen ein religiöser Akt, unbedingte Hingabe an den die Kirche durchwaltenden Willen des Herrn, Gottesdienst. Dieser Gehorsam ist darum nicht feig und schwach, sondern stark und opferbereit, männlich und stolz selbst vor Königsthronen. Er ist treu bis zur Hingabe der irdischen Güter, ja sogar des eigenen Lebens, ein Opfer seiner selbst an den die Kirche durchlebenden Christus. In dieser Treue rinnt das Edelblut des Glaubens. Wenn morgen ein Wettersturm über die christlichen Gemeinschaften dahinbraust, wenn sie bekennen müssen bis aufs Blut — ich weiß nicht, ob alle Gemeinschaften geschlossen und stark und treu bleiben, geschart um den einen Christus; ob die Bande, mit denen sie ihre Mitglieder in geruhsamen Zeiten zusammenhielten, sich nicht in tausend Splitter auseinanderlösen, wie wenn der Wind in die Halme fährt. Aber das weiß ich: Das Band, das die Kirche und ihre Glieder zusammenhält, das wird kein Teufel und kein Dämon sprengen. Denn es ist von dieser Erde nicht. Es ist vom „Herrn" der Kirche geschlungen, vom Gottmenschen Christus Jesus. |