„Wie funktioniert der Islam?“
von
Manfred
Kleine-Hartlage, Sozialwissenschaftler – er zeigt die Tiefenstruktur des Islam
Im
Interviw mit Moritz Schwarz
Schwarz: Herr Kleine-Hartlage, wie funktioniert
der Islam?
Kleine-Hartlage: Er ist ein umfassendes, alle
Lebensbereiche regelndes System. Es gibt keine Trennung zwischen der Religion
hier, der Politik da, dem Recht dort – deshalb auch keine zwi-schen Islam und
Islamismus. Der Islamismus ist kein Mißbrauch des Islam, denn der Islam
funktioniert anders.
Schwarz: Konkret?
Kleine-Hartlage: Es ist doch auffällig, daß es
in der islamischen Welt bis heute nie zu Glaubens-krisen gekommen ist, wie wir
sie bei uns in Europa kennen, und daß es dort so gut wie keine Atheisten gibt.
Der Grund dafür ist, daß die Rolle der Religion im Gefüge islamischer Gesellschaften
eine ganz andere ist als die des Christentums bei uns: Der Islam setzt den
Menschen nicht nur, wie alle Religionen es tun, in Beziehung zum Jenseits und
legt fest, was gut und Böse ist, sondern er definiert auch, was im legalen
Sinne Recht und Unrecht, im politischen Sinne legitim und illegitim, im
empirischen Sinne wahr und unwahr ist. Der Islam ist also sozusagen die DNS
seiner Gesellschaften: nicht nur eine Religion, sondern ein soziales System.
Schwarz: Man kann also den Islam nicht
abschaffen, ohne den Zusammenbruch der Gesellschaft zu riskieren?
Kleine-Hartlage: So ist es, das islamische
Normen- und Wertesystem regelt das Zusammenleben in muslimischen Gesellschaften
weit über den im engeren Sinne religiösen Bereich hinaus; ohne den Islam
könnten sie gar nicht funktionieren. Und das ist es, was ihn so stabil und (...)
macht.
Schwarz: Sie sind allerdings kein Islam-,
sondern Sozialwissenschaftler.
Kleine-Hartlage: Das stimmt, aber soziologische
Analysen zeichnen sich generell durch eine bestimmte Herangehensweise aus, die
sich von denen der jeweiligen Fachdisziplinen unterscheidet. Sie müssen kein
Ökonom sein, um Wirtschaftssoziologie zu treiben, und kein Jurist für die
Rechts-soziologie. Und eben kein Islamwissenschaftler, um die Soziologie des
Islam zu analysieren.
Schwarz: Sie sagen, daß wir den Islam gar nicht
verstehen. Warum?
Kleine-Hartlage: Weil wir in Begriffen denken,
die ihm nicht entsprechen. Wir verwenden eine Sprache, die zur Beschreibung
unserer eigenen Kultur, nicht aber zu der des Islam taugt. Die Beschäftigung
mit dem Islam macht die unbewußten Prämissen des eigenen Denkens bewußt, weil
diese Prämissen im Islam eben nicht geteilt werden. Er hält uns gewissermaßen
den Spiegel vor.
Schwarz: Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Kleine-Hartlage: Religionen prägen das System
der kulturell gültigen und sozialisatorisch verinnerlichten Vor-Annahmen über
Fragen wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Moral, Ethik, Gesellschaft oder Gewalt.
Also alle Annahmen, die dem eigentlichen politischen Denken vorausgehen. Im
Islam gehört zu diesen Selbstverständlichkeiten sein allumfassender
Geltungsanspruch. Gewiß wird dieses islamische Normen- und Wertesystem nicht
von jedem gleich tief verinnerlicht, aber es prägt die wechselseitigen
Erwartungen der Menschen und muß deshalb auch von solchen Muslimen
berücksichtigt werden, die persönlich nicht so fromm sind. Wobei ein „weniger
frommer“ Muslim in der Regel immer noch gläubiger ist als mancher Namenschrist.
Schwarz: Was folgt daraus?
Kleine-Hartlage: Daß die hierzulande
weitverbreitete Prämisse, unter der wir den Islam wahr-nehmen – nämlich alle
Religionen seien gleich –, in die Irre führt. Lassen Sie mich Ihnen ein
Beispiel nennen: Der Islam kennt etwa keine grundsätzliche Ächtung von Gewalt.
Er ist ein Rechtssystem, er regelt die Gewalt. Christliche Kulturen mit ihrer
prinzipiellen Ächtung von Gewalt tendieren zur Eliminierung privater Gewalt und
sind auf den Staat und sein Gewalt-monopol angewiesen, islamische nicht. Im
Gegenteil: Gewalt hat Prestigewert.
Schwarz: Warum?
Kleine-Hartlage: Weil der Prophet es vorgemacht
und im Koran verewigt hat, daß die Fähigkeit zur Gewaltanwendung ein Zeichen
göttlicher Erwählung ist, ähnlich wie der materielle Reichtum im Calvinismus.
Gewalt hat im Islam eine strukturierende Funktion: Sie unterscheidet Oben und
Unten, also Herr und Knecht, Mann und Frau, Gläubige und Ungläubige. Der Islam
versteht Frieden auch nicht als universelles Prinzip.
Schwarz: Sondern? Immerhin bedeutet Islam
übersetzt ja „Frieden“.
Kleine-Hartlage: Nein, Islam heißt freundlich
übersetzt „Hingabe“ und weniger freundlich „Unterwerfung“. Das Wort ist aus
derselben Wurzel gebildet wie „Salam“ (Friede), aber ein Synonym ist es nicht.
Die islamische Gesellschaftsauffassung basiert auf der Aufteilung der
Menschheit in „Gläubige“ und „Ungläubige“ – und er läßt keinen Zweifel daran,
daß die „Ungläubigen“ über kurz oder lang historisch zu verschwinden haben.
„Gut“ im ethischen Sinne ist, was der Ausbreitung des Islam frommt, „böse“,
was diese behindert. Die Vorstellung einer universellen Ethik, nach der alle
Menschen die gleichen Rechte haben, egal welcher Religion sie angehören, oder
Friede als ein Prinzip lehnt der Islam nicht nur ab, sondern dies widerspricht
seiner Grundstruktur.
Schwarz: Dennoch sind die meisten Muslime
friedfertig und keineswegs gewalttätig.
Kleine-Hartlage: Das ist richtig, ist aber
nicht der springende Punkt. Erstens etabliert der Islam ein System kultureller
Selbstverständlichkeiten, das ganz von allein dafür sorgt, daß im Konfliktfall
stets genügend „Extremisten“ und Gewalttäter bereitstehen. Es kommt nicht
darauf an, daß es Massen sind, sondern daß ihre Zahl ausreicht, eine
allgegenwärtige Bedrohung zu erzeugen. Und zweitens erzeugt es eine
stillschweigende soziale Billigung von Gewalt, sofern sie gegen die
„Ungläubigen“ gerichtet ist, auch unter solchen Muslimen, die persönlich nicht
gewalttätig sind. Erst diese Billigung macht die Gewalt zu einer jederzeit
möglichen Option – und damit für alle „Ungläubigen“ zu einer ständigen
Bedrohung, die Nachgiebigkeit zumindest nahelegt.
Schwarz: Ihr Buch trägt den Titel „Das
Dschihadsystem“. Warum subsumieren Sie den Islam unter diesem Begriff,
schließlich ist der Heilige Krieg nur ein Aspekt des Koran?
Kleine-Hartlage: Der Dschihad ist ja nicht
einfach Krieg. Er umfaßt alles, was Muslime tun, um die Welt unter das Gesetz
Allahs zu bringen. Alle islamischen Normen, nicht nur die kriegerischen, haben
den gemeinsamen Fluchtpunkt, die islamischen Gesellschaften zu konsolidieren
und nicht-islamische Gesellschaften zu verdrängen. Das ist die immanente Logik,
der Leitgedanke, der dem islamischen Normen- und Wertesystem seine innere
Kohärenz verleiht. (...)
Schwarz: Der Heilige Krieg ist allerdings
lediglich der „kleine Dschihad“, während der „große Dschihad“ die persönliche
Vervollkommnung des Menschen als guter Muslim meint.
Kleine-Hartlage: Die Verwendung der Adjektive
groß und klein legt nach unserem Verständnis nahe, daß eine sei wichtig, das
andere unwichtig. Tatsächlich aber ist die Schwerpunktsetzung im Koran genau
umgekehrt. Ich habe die entsprechenden Suren gezählt und statistisch
ausgewertet: Der Koran beschäftigt sich spätestens in den medinensischen Suren
– die im Zweifel die ausschlaggebenden sind – relativ wenig mit dem großen
Dschihad, also dem Ringen um den eigenen Glauben, sehr viel dagegen mit dem
Kampf gegen „Ungläubige“.
Schwarz: Könnte es nicht sein, daß der Aspekt
des kleinen Dschihad als Folge historischer Entwicklungen zu einem eigentlich
zu Unrecht dominierenden Faktor gewuchert ist?
Kleine-Hartlage: Das kann man so sehen, aber
diese historische Entwicklung hat schon der Religionsstifter selbst
vorangetrieben, und sie hat sich im Koran niedergeschlagen. Und das geschah
auch nicht zufällig, sondern stellt eine Entwicklung dar, die logisch aus den
theologischen Prämissen des Islam resultiert. Bekanntlich hat der Prophet von
Anfang an den Kampf gegen die „Ungläubigen“ gefordert und selbst praktiziert:
Er hat 27 Feldzüge geführt, einen jüdischen Stamm ausgerottet, mehrere andere
vertrieben, Kritiker ermorden lassen. Blaise Pascal hat einmal gesagt: „Jesus
ließ sich ermorden, Mohammed ließ morden.“ Und natürlich orientieren sich die
Muslime nicht nur am Koran, sondern auch gerade am Beispiel des Propheten.
Sagen Sie bloß nie einem Muslim, daß dieser Mann nicht der Inbegriff
menschlicher Vollkommenheit gewesen wäre.
Schwarz: Islamismus ist also, wie Sie anfangs
schon andeuteten, in erster Linie eine Form des Islam und entspringt nicht
originär der Sphäre des Extremismus?
Kleine-Hartlage: Islamismus ist lediglich die
politische Seite des Islam, also in der Tat keine Entartung, sondern ein
Bestandteil dieser Religion. Der türkische Ministerpräsident Erdogan hat einmal
völlig zu Recht gesagt, es gebe keinen radikalen und keinen gemäßigten Islam,
sondern nur „den“ Islam. Die Scharia ist kein gesetztes, sondern ein direkt von
Allah gegebenes Recht. Also etwas, das man nicht abändern kann, auch nicht per
Mehrheitsbeschluß, sondern nur erfüllen oder brechen. Die Vorstellung eines
Islam ohne Scharia ist absurd, das wäre – nicht wie Suppe ohne Salz, sondern
wie Suppe ohne Wasser. Daher können Islamisten sich völlig zu Recht auf den
Propheten und den Koran berufen. Und folglich sind diese Islamisten keineswegs
sozial isoliert, sondern durchaus respektierte und für ihre Glaubensstärke
geachtete Mitglieder der islamischen Gemeinschaft.
Schwarz: Ist der Islam denn eine Religion?
Kleine-Hartlage: Ja sicher, nur keine, wie wir
sie uns vorstellen, nämlich eine Lehre, die vor allem auf ein Reich „nicht von
dieser Welt“ abzielt. Es ist eine Religion, die sozial verwirklicht sein will
und die auch davon lebt.
Schwarz: Könnte es aber nicht doch zu einer
Aufklärung im Islam kommen und damit ein gebändigter Euro-Islam möglich sein?
Kleine-Hartlage: Erstens, ich wiederhole: Das
würde die Grundlage islamischer Gesellschaften untergraben. Deshalb dieser
enorme soziale Druck, der dies verhindert. Zweitens ist der Islam in gewisser
Hinsicht bereits selbst eine Art „Aufklärung“, denn er hat ja versucht, alles
was am Christentum paradox und dialektisch, bisweilen auch unverständlich ist,
auf eine einfache Formel zu bringen: Etwa keine Dreifaltigkeit, sondern nur
einen Gott und absolute Transzendenz. Keine Erbsünde, die dazu führt, daß man
daran scheitern muß, sich im christlichen Sinne gut zu verhalten. Stattdessen
klare Regeln, wie man sich gottgefällig verhält und wie nicht. In gewisser
Hinsicht ist der Islam eine sehr rationalistische Religion und insofern besteht
unter Umständen gar nicht das Bedürfnis nach „Aufklärung“.
Schwarz: Wäre nicht wenigstens zuzubilligen,
daß es im Islam zu einer politisch mäßigenden Reformation kommen könnte?
Kleine-Hartlage: Erstens, war denn die
Reformation bei uns so mäßigend? Zweitens, es hat Reformationen im Islam
gegeben, die genau wie bei uns den Anspruch erhoben haben, ein „Zurück zu den
Wurzeln“ zu sein. Während aber im Christentum dieses Zurück bedeutete, das
Innerliche, den Glauben, die Gnade Gottes zu betonen, heißt im Islam ein
„Zurück zu den Wurzeln“ das genaue Gegenteil, also die Betonung der Geltung des
politischen Modells der Urgemeinde des Propheten, deren politisches Profil ich
ja schon beschrieben habe.
Schwarz: Nun zeigt sich in etlichen islamischen
Ländern der Funke der demokratischen Revolution. Widerspricht das nicht Ihrer
Analyse eklatant?
Kleine-Hartlage: Nein,
ich darf daran erinnern, daß diese Ereignisse erst ein paar Wochen alt sind,
und daß sich bereits die ersten Anzeichen für eine islamistische Wendung dieser
Revolutionen andeuten, wie sich etwa an der Ermordung des polnischen Priesters
Marek Rybinski in Tunesien zeigt. In der Türkei versucht man übrigens schon
seit achtzig Jahren die Verwestlichung, und dennoch erleben wir seit Jahren eine
galoppierende Re-Islamisierung. Keiner kann heute sagen, was aus den aktuellen
Aufständen folgt. (...)
(aus:
www.jungefreiheit.de 09/11 25. Februar
2011)