Brief an Benedikt XVI.
Italienische Intellektuelle bitten um Revidierung
des Konzils
deutsche Übersetzung: pius.info.
zitiert nach Mitteilungsblatt Nr. 395 vom Dez. 2011, S. 8 ff.
Vorwort der Redaktion:
Im Dezemberheft des MITTEILUNGSBLATTES der Priesterbruderschaft St. Pius
X. erschien in deutscher Übersetzung ein Brief von 50 italienischen Professoren
und Doktoren an Benedikt XVI. , der im
italienischen Original im Internet unter www.riscossacristiana.it verbreitet wird, in dem sie ihn bitten, die
Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils zu überdenken und jene Passagen zu revidieren,
welche mit der Tradition unvereinbar sind bzw. ihr widersprechen. Dabei
beziehen sie sich auf Prof. Romano Amerio,
der in seinem Buche "Iota unum" zeigt, wie die wahre Religion
Jesu Christi betrügerischerweise in eine neue umgeändert wurde, die das
Christentum aufhebt. Auch wenn wir gewünscht hätten, daß diese Darlegung viel früher
erschienen wäre, so werden doch hier Probleme aufgezeigt, die auch wir
aufgegriffen und bereits vor 30 bis 40 Jahren gelöst haben. Der Brief zeigt,
daß die theologischen Thesen, die auf dem II. Vatikanischen Konzil und in
seiner Nachfolge verbreitet wurden, selbst nach über 45 Jahren noch virulent sind
und nach einer Aufhebung schreien.
Eberhard Heller
***
An den Obersten Hirten Benedikt XVI., damit
er eine vertiefte Untersuchung des Pastoralkonzils Vatikanum II in die Wege
leite
Heiliger Vater!
Msgr. Brunero Gherardini, Priester der Diözese Prato und Chorherr der
Petersbasilika in Rom, bestens bekannt als emeritierter Professor für
Ekklesiologie an der Päpstlichen Universität des Lateran und als Dekan der
italienischen Theologen, hat im Jahre 2009 an Eure Heiligkeit eine
ehrfurchtsvolle und dringende Bittschrift gerichtet. Sie hatte die Eröffnung
einer kritischen Debatte über die Texte des II. Vatikanums zum Ziel, einer
kritischen Debatte in gemäßigtem und öffentlichem Rahmen. Diesem Schritt hat
sich 2010 Roberto de Mattei, Professor für die Geschichte der Kirche und des
Christentums an der Europäischen Universität von Rom und Vizepräsident des
nationalen Forschungsrates, angeschlossen.
In seinem Bittgesuch schrieb Msgr. Gherardini:
„Zum Wohle der Kirche – und
genauer zur Verwirklichung der salus animarum, die deren erste und suprema
lex ist (vgl. CIC 1983, can. 1752) – erscheint es mir nach Jahrzehnten
freier Kreativität der exegetischen, theologischen, liturgischen,
historiographischen und ‚pastoralen’ Aktivitäten im Namen des II. Vatikanischen
Konzils dringend erforderlich, etwas Klarheit zu schaffen, indem man in autori-tativer
Form Antwort auf die Frage nach seiner Kontinuität – nicht durch Behauptungen,
sondern durch Beweise – mit den anderen Konzilien und nach seiner Treue zur
Tradition gibt, die in der Kirche immer Geltung besaß. (...) Es erscheint in
der Tat schwierig, wenn nicht geradezu unmöglich, mit der erwünschten
Hermeneutik der Kontinuität den Anfang zu machen, ohne zuvor eine einge-hende
und wissenschaftliche Analyse der einzelnen Dokumente vorgenommen zu haben,
ihrer Gesamtheit wie ihrer Einzelinhalte, ihrer unmittelbaren wie ihrer
entfernten Quellen, anstatt nur fortzufahren, von ihnen lediglich zu sprechen,
sei es durch wiederholtes Anführen des Inhaltes oder durch seine Darstellung
als absolute Neuheit.
Ich habe gesagt, dass eine Untersuchung von solcher und so großer
Tragweite in hohem Maß die Arbeitsmöglichkeit einer einzelnen Person
übersteigt, nicht nur weil ein und die- selbe Aussage eine Behandlung auf
verschiedenen Gebieten erfordert – auf historischem, patristischem,
juristischem, philosophischem, liturgischem, theologischem, exegetischem,
soziologischem sowie profanwissenschaftlichem – sondern auch, weil jedes
Konzilsdokument Dutzende von Inhalten berührt, die zu beherrschen allein die
jeweiligen Fachleute imstande sind.
Als ich die Sache wiederholt überdachte, entstand mit der Zeit in mir
die Idee – die ich jetzt Eurer Heiligkeit zu unterbreiten wage – einer
umfassenden und möglicherweise definitiven Klarstellung des letzten Konzils im
Hinblick auf jeden einzelnen seiner Aspekte und Inhalte. Es erscheint in der
Tat logisch und angemessen, dass jeder seiner Aspekte und Inhalte in sich wie
im Kontext mit allen an- deren untersucht wird, mit dem Blick auf alle Quellen und
aus der besonderen Perspektive des vorangehenden kirchlichen Lehramtes, des
feierlichen wie des ordentlichen. Anhand einer so breit angelegten und
einwandfreien wissenschaftlichen Arbeit, im Abgleich mit den sicheren
Ergebnissen der kritischen Betrachtung des jahrhundertelangen Lehramtes der
Kirche wird es dann möglich sein, Argumente für eine zuverlässige und objektive
Bewertung des II. Vatikanums zu finden, die folgende Fragen - unter vielen
anderen – zu beantworten helfen:
1. Was ist sein wahres Wesen?
2. Sein pastoraler Charakter – diesen Begriff
wird man autoritativ präzisieren müssen: In welcher Beziehung steht er zu seinem eventuell
dogmatischen Charakter? Ist er mit diesem vereinbar? Setzt er ihn voraus?
Wider- streitet er ihm? Ignoriert er ihn?
3. Ist es wirklich möglich, das II. Vatikanum
als dogmatisch zu definieren? Und sich demzufolge darauf als auf ein dogmatisches Konzil zu berufen?
Kann man mit ihm neue theologische Aussagen stützen? In welchem Sinn? Mit
welchen Grenzen?
4. Ist es ein ‚Ereignis’ im Sinne der Schule
von Bologna, welches also die Verbindungen mit der Vergangenheit abbricht und
eine in jeglicher Hinsicht neue Ära begründet? Oder lebt in ihm die gesamte Vergangenheit
fort in eodem sensu eademque sententia?
Es ist offensichtlich, dass die Hermeneutik des Bruchs und diejenige der
Kontinuität von der Antwort abhängen, die man auf solche Fragen geben wird.“
[1] In seiner jüngsten und sehr gut dokumentierten Geschichte des II.
Vatikanums hat Professor de Mattei der Öffentlichkeit eine präzise und
realistische Übersicht über den stürmischen und dramatischen Ablauf dieses
Konzils vorgestellt. Er schließt:
„Am Ende dieses Buches sei es mir erlaubt, mich mit Verehrung an Seine
Heiligkeit Benedikt XVI. zu wenden, indem ich dem Nachfolger Petri, dem ich
mich unauflöslich verbunden fühle, meine tiefe Dankbarkeit dafür zum Ausdruck
bringe, dass er die Pforten für eine ernsthafte Debatte über das II.
Vatikanische Konzil geöffnet hat. Für diese Debatte, ich wiederhole es, wollte
ich einen Beitrag leisten, nicht als Theologe, sondern als Historiker.
Allerdings schließe ich mich dem Bittgesuch jener Theologen an, die in
ehrfurchtsvoller und kindlicher Art und Weise vom Stellvertreter Christi auf
Erden erbitten, eine vertiefte Untersuchung des II. Vatikanischen Konzils in
seiner ganzen Vielschichtigkeit und in seiner ganzen Ausdehnung einzuleiten,
um die Kontinuität mit den vorausgehenden zwanzig Konzilien zu prüfen und um
die Schatten und die Zweifel zu zerstreuen, die fast seit einem halben Jahrhundert der Kirche Leiden zufügen, verbunden
mit der Gewissheit, dass die Pforten der Hölle sie nie überwältigen werden. (Mt
16,18) [2]
Und wir Unterzeichner, einfache Gläubige, die wir sind, schließen uns
voll und ganz diesen ehrfurchtsvollen und erlaubten Bitten an. Wir sind gewiss,
es nicht an der kindlichen Ehrfurcht gegenüber Eurer Heiligkeit fehlen zu
lassen, wenn wir uns erlauben, den vier oben gestellten Fragen einige andere
aus den zahlreichen Fragen anzufügen, die unserer Ansicht nach ganz gewiss eine
klärende Antwort verdienen, wie es aus den Analysen von Msgr. Gherardini und
von Theologen und Akademikern hervorgeht, die seit dem Beginn der
Nachkonzilszeit sich energisch dafür eingesetzt haben, Erklärungen über das II.
Vatikanische Konzil zu erhalten:
5. Welches ist die genaue
Bedeutung, die dem Konzept der „lebendigen Tradition“ zuzumessen ist, die in
der Konstitution Dei Verbum über die göttliche Offenbarung aufscheint?
In seiner jüngsten und grundlegenden Untersuchung über das Konzept der katholischen
Tradition hat Msgr. Gherardini behauptet, dass im II. Vatikanum sich eine
„kopernikanische Revolution“ abgespielt hat, wenn es um die Auffassung von der
Tradition der Kirche geht, weil man darin nicht klar den dogmatischen Wert der
Tradition definiert hat (Dei Verbum, 8). [...]
6. Welches ist die genaue
Bedeutung, die der neuen Definition der katholischen Kirche zukommt, wie sie in
der Dogmatischen Konstitution (die indes kein Dogma definiert) Lumen gentium
über die Kirche enthalten ist?
Wenn sie übereinstimmt mit jener aller Zeiten, dass nämlich die
katholische Kirche die einzige und wahre Kirche Christi ist, weil sie die
einzige ist, die durch die Jahrhunderte hindurch das von unserem Herrn und den
Aposteln ihr übergebene Glaubensgut unter der Leitung des Heiligen Geistes
bewahrt hat – warum hat man dann eine Änderung vornehmen wollen, indem man auf
eine für den einfachen Gläubigen wenig verständliche Art geschrieben hat, die
einzige Kirche Christi „subsistiere“ „in der katholischen Kirche, die vom
Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet“ werde,
während „außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der
Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die
katholische Einheit hindrängen“? Man muss zugeben, dass dies nie erklärt worden
ist.
Erscheint in dieser Formulierung die katholische Kirche nicht wie ein
einfacher Teil der Kirche Christi? Ein einfacher Teil, denn die Kirche Christi
umfasse auch – zusätzlich zur katholischen Kirche – „vielfältige Elemente der
Heiligung und der Wahrheit“, die sich „außerhalb“ der katholischen Kirche
finden? Dies hat zur Folge, dass die „einzige wahre Religion [...], verwirklicht
in der katholischen, apostolischen Kirche“ (Erklärung Dignitatis humanae -
Über die Religionsfreiheit 1,2), jene eine „Kirche Christi“ wäre, die
„Elemente“ außerhalb der katholischen Kirche umfasst. Würde das darauf
hinauslaufen - wenn man so will - dass die „eine wahre Religion“ gemäß dem
Konzil auch in den nicht-katholischen „Elementen der Kirche Christi“ subsistiert?
7. Welches ist die genaue Bedeutung, die man
der Kirche, verstanden als „Volk Gottes“ (Lumen gentium 9-17), zumessen
muss, ein
Begriff, der in der Vergangenheit nur einen Teil des Ganzen bezeichnete, während
das Ganze den „mystischen Leib Christi“ darstellt?
8. Welche Bedeutung muss man der
Weglassung der Ausdrücke „über- natürlich“ und „Transsubstantiation“
[Wesensverwandlung] in den Texten des Konzils beimessen? Verändert diese
Weg-lassung auch den Inhalt der Vorstellungen, wie hier und dort behauptet
wird?
9. Welches ist die genaue Bedeutung
des neuen Begriffs der Kollegialität? Wie muss man die Interpretation
der Nota explicativa praevia, die dem Text von Lumen gentium vorangestellt
ist, im Lichte der beständigen Lehre der Kirche auffassen? (Diese Note wurde
dort eingefügt, um die Kontroverse zwischen den Konzilsvätern zu beseitigen.)
Wir beziehen uns auf die durch Romano Amerio klar zum Ausdruck gebrachten
Zweifel:
„Die Nota praevia weist
die klassische Interpretation der Kollegialität zurück, nach der der Papst
Träger der höchsten Gewalt in der Kirche nur sei, wenn er sie auf eigenen
Wunsch mit der Gesamtheit der von ihm zum Konzil einberufenen Bischöfe teile.
Die oberste Gewalt ist nur dann eine kollegiale, wenn der Papst sie nach
eigenem Willen überträgt. Auch weist die Nota praevia die Doktrin der
Neuerer zurück, wonach der Träger der höchsten Gewalt in der Kirche das
Kollegium in Gemeinschaft mit dem – nicht ohne den – Papst sei, der zwar das Haupt
des Kollegiums sei, aber die höchste Gewalt – auch wenn er allein handelt – nur
in seiner Eigenschaft als Haupt des Kollegiums ausübe. Er wäre demnach der
Repräsentant des Kollegiums. Er habe die Pflicht, dieses zu konsultieren, um
dessen Zustimmung zum Ausdruck zu bringen. Diese Theorie trägt den Stempel
einer mit der göttlichen Seinsweise der Kirche schwerlich zu vereinbarenden
Lehre, nach der Autorität ihren Ursprung in der Mehrheit habe. Die Nota
praevia richtet sich gegen die eine wie die andere Theorie und legt fest,
dass die höchste Gewalt zwar im Kollegium der mit ihrem Haupt verbundenen
Bischöfe liegt, das Haupt sie aber unabhängig vom Kollegium ausüben kann, das
Kollegium andererseits niemals unabhängig vom Haupt.“[4]
Ist es richtig zu behaupten, dass die Zuordnung rechtlicher Gewalt –
jener eines wahren Kollegiums im eigentlichen Sinn - an die Einrichtung der
Bischofskonferenzen durch die Tatsache selbst die Rolle des Bischofs
herabgesetzt und entstellt hat? In der Tat scheinen heute in der Kirche die
Bischöfe einzeln genommen nichts mehr zu gelten. (Eure Heiligkeit möge uns
unsere Offenheit verzeihen.) Lesen wir zu diesem Punkt noch einmal bei Amerio:
„Das noch bedeutsamere Novum in
der nachkonziliaren Kirche ist, dass zur Mitwirkung aller Kreise der Kirche
rechtlich definierte Organe geschaffen wurden, so die ständige Bischofssynode,
die Bischofskonferenzen, die Diözesan- und Nationalsynoden, die Pastoral- und
Priesterräte und dergleichen mehr. [...] Die Konstituierung der Bischofskonferenzen
hat zwei Dinge bewirkt: die Verformung der organischen Struktur der Kirche und
den Autoritätsverlust der Bischöfe. Diese sind nach dem vorkonziliaren Recht
Nachfolger der Apostel und jeweils einzeln Leiter der eigenen Diözese mit
ordentlicher Vollmacht in geistlichen und zeitlichen Angelegenheiten, üben dort
also die gesetzgeberische, richterliche und exekutive Gewalt aus (can. 329 und
335). Die Autorität war genau festgelegt, persönlich und – abgesehen vom Amt
des Generalvikars – unübertragbar. (Im Übrigen war der Generalvikar dem Bischof
beigestellt – ad nutum.) [...] Das Konzilsdekret über die Hirtenaufgabe
in der Kirche Christus Dominus spricht der Bischofskörperschaft
kollegiale Gewalt zu, d.h. die ‚höchste und volle Gewalt über die ganze
Kirche’, die in allem der des römischen Bischofs gleich wäre, wenn sie ohne
dessen Zustimmung ausgeübt werden könnte. Sie wurde schon immer der vom Papst
zum ökumenischen Konzil einberufenen Bischofskonferenz zuerkannt. Man stellt
aber die Frage, ob eine Autorität, die nur durch eine über ihr stehende Instanz
ihre Verwirklichung findet, noch als höchste gelten könne und ob sie nicht in
bloße Virtualität zurückfalle, fast zu einem ens rationis werde. Es
entspricht aber dem Geist des II. Vatikanums, dass der Ausübungsmodus
bischöflicher Amtsgewalt, um die Kollegialität zu verwirklichen, der der
Bischofskonferenzen ist.
In diesem Zusammenhang ist etwas eigenartig: Das Dekret (Nr. 37)
erblickt den Entstehungsgrund dieser neuen Institution in der Notwendigkeit für
die Bischöfe ein und desselben Landes, einvernehmlich zu handeln, und bemerkt
nicht, dass diese – nunmehr rechtlich ausgestaltete – Gebundenheit an das
Zusammenwirken das Ordnungssystem der Kirche verändert, weil an die Stelle des
Bischofs eine Bischofskörperschaft tritt und an die Stelle der persönlichen
Verantwortung eine kollektive, also in Bruchteilen mitgetragene. [...] Mit der
Errichtung der Bischofskonferenzen ist die Kirche nunmehr ein polyzentrischer
Organismus [...].
Die erste Folge der neuen Organfunktion ist
also eine Lockerung des Bandes der Einheit, was sich in gewaltigen Meinungsverschiedenheiten
über höchst wichtige Punkte gezeigt hat [z.B. über die Lehre der Enzyklika Humanae
vitae vom 25. Juli 1968, welche den Gebrauch der Verhütungsmittel verbot].
[...] Die zweite Folge [der
neuen Organfunktion] ist der Autoritätsverlust der einzelnen Bischöfe. Sie
leisten weder den ihnen Anvertrauten noch dem Heiligen Stuhl Entsprechung, ist
doch die persönliche Verantwortlichkeit durch eine kollektive ersetzt, die - im
gesamten Organismus bestehend - nicht mehr bei dessen einzelnen Komponenten
liegen kann.“[5]
Beschränkung des Priesters auf die Rolle eines Leiters und eines
Vorstehers in der Versammlung des „Volkes Gottes“
10. Welche genaue Bedeutung soll
man heute dem Priestertum geben, das eine wahre Einrichtung der Kirche ist? Ist
es wahr, dass seit dem Konzil der Priester vom Stande des „sacerdos Dei“ herabgesetzt
worden ist zu jenem des „sacerdos populi Dei“ und in besonderer Weise
beschränkt worden ist auf die Rolle eines Leiters und eines Vorstehers des
Volkes Gottes und auf die Rolle eines Sozialarbeiters? In diesem Zusammenhang
muss Lumen gentium 10,2 der Kritik unterworfen werden wo scheinbar das
„Amtspriestertum“ oder das „hierarchische Priestertum“ auf dieselbe Ebene
gestellt wird wie das behauptete „gemeinsame Priestertum der Gläubigen“.
Dies wurde indes früher allein als Ehrentitel verwendet. Dagegen
behauptet der Text, dass beide aufeinander hingeordnet sind, ad invicem
tamen ordinantur (siehe auch Lumen gentium 62,2). Lumen gentium 13,3
scheint das Priestertum als einfache „Funktion des Volkes Gottes“ aufzufassen;
die Tatsache, dass man die priesterliche „Funktion“ des Predigens des
Evangeliums an die erste Stelle setzt (Dekret Presbyterorum Ordinis -
Über das Amt und das priesterliche Leben 4: „...ist es die erste Aufgabe der
Priester als Mitarbeiter der Bischöfe, allen die frohe Botschaft Gottes zu
verkünden“), während im Gegensatz dazu das Konzil von Trient herausstellt, dass
die Aufgabe des Priesters an erster Stelle damit charakterisiert sei, dass
ihm „die Vollmacht übergeben wurde, seinen [Christi] Leib und sein Blut zu
konsekrieren, darzubringen und auszuteilen sowie auch die Sünden zu vergeben
und zu behalten“. (DS, 957/1764)
Ist es wahr, dass das II. Vatikanum den
kirchlichen Zölibat heruntersetzt, indem es behauptet: „Die Kirche hat die
vollkommene und ständige Enthaltsamkeit um des Himmelreiches willen, die von
Christus dem Herrn empfohlen, in allen Jahrhunderten bis heute [...] besonders
im Hinblick auf das priesterliche Leben immer hoch eingeschätzt“, doch „ist sie nicht vom Wesen des Priestertums selbst
gefordert (Presbyterorum ordinis 16)“; wäre diese Behauptung
nicht gerechtfertigt durch eine falsche Interpretation von 1 Tim 3,2-5 und Tit
1,6?
11. Welches ist die genaue
Bedeutung des Prinzips der „Kreativität“ in der Liturgie, die ohne
Zweifel aus der Tatsache fließt, dass den Bischofskonferenzen eine weite
Kompetenz auf diesem Gebiet eingeräumt worden ist, einschließlich der Möglichkeit,
neue Kultformen zu erproben, um sie dem Charakter und den Traditionen der
Völker anzupassen und sie so weit wie möglich zu vereinfachen?
All dies ist in der Konstitution Sacrosanctum Concilium über die
Liturgie vorgeschlagen: Art. 22,2 über die neuen Kompetenzen der
Bischofskonferenzen; Art. 37; 39 und 40 über die Anpassung an den Charakter und
die Traditionen der Völker und über die Kriterien der liturgischen Anpassung im
Allgemeinen; Art. 21 und 34 über die liturgische Vereinfachung.
Wurden nicht ähnliche Erlaubnisse der
Erneuerung auf liturgischem Gebiet zu allen Zeiten vom Lehramt der Kirche
verworfen? Es
ist wahr, dass die Konstitution Sacrosanctum Concilium immer die
Kontrolle des Heiligen Stuhles über die Liturgie und die Neuerungen fordert
(Sacrosanctum Concilium, 22,1; 40,1 und 2), aber diese Kontrolle hat
sich als wirkungslos erwiesen, wenn es darum geht, die sich in der Kirche
ausgebreitete Verwüstung der Liturgie zu hindern, welche die Gläubigen von den
Kirchen entfernt hat. Diese Verwüstung entfesselt sich heute weiter - trotz der
disziplinären Anordnung und des Unterdrückens der Missbräuche, wie es Eure
Heiligkeit gewollt hat. Könnten kompetente Studien nicht die Gründe für dieses
Scheitern ins Licht rücken?
Welchen Unterschied gibt es zwischen der
konziliaren Religionsfreiheit und der Freiheit des laizistischen Gewissens?
Wir können natürlich nicht alle Fragen formulieren, die die Texte des
Konzils aufwerfen und die in Beziehung stehen mit der gegenwärtigen Lage der
Kirche. In diesem Zusammenhang erlauben wir uns, nur noch das, was folgt,
hinzuzufügen:
12. Das Konzil hat zum ersten Mal in der Kirchengeschichte das Prinzip
der Religionsfreiheit als ein Recht des Menschen oder als ein Naturrecht der
Person verkündet, um was es sich auch handeln möge. Aus dieser Tatsache heraus
soll dieses Recht als das höhere gegenüber dem Recht der einzig geoffenbarten
Wahrheit, nämlich unserer katholischen Religion als wahre Religion, im Hinblick
auf die anderen Religionen verkündet werden dürfen.
Und doch sind diese anderen Religionen nicht
geoffenbart und kommen folglich nicht von Gott. Dieses Prinzip der Religionsfreiheit gründet
sich auf die Annahme, dass alle Religionen gleich sind, und seine Anwendung
zieht als Konsequenz die Begünstigung des religiösen Indifferentismus, des
Agnostizismus und letzten Endes des Atheismus nach sich. Worin unterscheidet
sie sich, so wie sie vom Konzil verstanden wird, wirklich von der Freiheit des
laizistischen Gewissens, das geehrt wird als „Menschenrecht“ und das die
antichristliche Französische Revolution verkündet hat?
13. Scheint der gegenwärtige
Ökumenismus nicht ebenfalls zu einem ähnlichen Resultat zu führen, nämlich zum
religiösen Indifferentismus und dem Glaubensverlust, da sein Hauptziel
nicht die Bekehrung (soweit es möglich ist) des Menschengeschlechtes zu
Christus ist, sondern vielmehr seine Einheit und sogar seine Vereinigung in
einer Art neuer Kirche oder Weltreligion, die imstande wäre, eine neue
messianische Ära des Friedens und der Brüderlichkeit unter allen Völkern
einzuläuten? Falls dies die Ziele des gegenwärtigen Ökumenismus sind – und sie
finden sich bereits zum Teil in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes -
Über die Kirche in der modernen Welt – scheint dann dieser ökumenische Dialog nicht
in gefährlicher Weise abzugleiten zu einem gewissen „Übereinkommen zwischen
Christus und Belial“? Müsste nicht der Dialog der postkonziliaren Kirche mit
der modernen Welt überprüft werden?
Heiliger Vater,
die Bitten, die wir in diesem einfachen Gesuch Ihnen wagemutig
vorgetragen haben, mögen sicher einem gewissen Teil der Hierarchie missfallen,
der schon das von Mgr. Gherardini vor zwei Jahren formulierte Gesuch nicht
geschätzt hat. Es handelt sich um jenen Teil der Hierarchie, der die außergewöhnliche
Schwere der Krise, die die Kirche seit 50 Jahren heimgesucht hat, anscheinend
noch nicht verstanden hat; einer Krise, deren vorkonziliare Voraussetzungen
während des Konzils aufgebrochen sind, wie es das Buch von Professor de Mattei
und vor ihm in kürzerer Art und Weise jenes von P. Ralph M. Wiltgen S.V.D. und
von Professor Romano Amerio beweisen.
In unserer Seele und in unserem Gewissen als Gläubige scheint uns dieses
Bittgesuch, das in Ehrfurcht Ihnen gegenüber verfasst ist, in vollkommener
Harmonie, so wagen wir zu sagen, mit dem Werk der Restauration, der Erneuerung
und Reinigung der streitenden Kirche, die Eure Heiligkeit unternommen hat trotz
des Widerstandes und der Schwierigkeiten aller Art, von denen jedermann weiß.
Wir beziehen uns nicht nur auf das unbeugsame Handeln Eurer Heiligkeit gegen
die Verderbnis der Sitten, die in einen Teil des Klerus eingedrungen ist, und
auf das Werk der Sanierung bei den wohlbekannten Einrichtungen der
christlichen Nächstenliebe und Hilfe, die nur noch katholisch dem Namen nach
sind.
Wir beziehen uns auch auf die „Befreiung“ der
Feier der Messe im alten römischen Ritus (unzutreffend der „tridentinische“ genannt, wenn
man bedenkt, dass sein Kanon gemäß einer sicheren Überlieferung auf die
apostolischen Zeiten zurückreicht) und der Spendung der Sakramente und des
Ritus des Exorzismus gemäß dem vorkonziliaren Rituale. Wir beziehen uns auch auf die Nachlassung der Exkommunikationen, die auf
den Bischöfen der von Erzbischof Lefebvre gegründeten Priesterbruderschaft St.
Pius X. aus bekannten disziplinären Gründen gelastet hat. (...) Wir
schließen also unser demütiges Bittgesuch, indem wir die Hilfe des Heiligen
Geistes herabrufen, damit Eure Heiligkeit in dieses Unternehmen der
Wiederherstellung der Herrschaft Christi im Herzen der Katholizität auch die
gewünschte Revision des Konzils einschließen kann.
Mit der Zusicherung unserer kindlichen Verehrung und unserer Ehrfurcht,
In Domino et in Corde Mariae
24. September 2011
Es folgen die Unterschriften von ungefähr 50 Persönlichkeiten, unter
diesen:
1. Prof. Paolo Pasqualucci, Professor der
Philosophie
2. Msgr. Brunero Gherardini, Dekan der
italienischen Theologen, Dozent für Ekklesiologie
3. Msgr. Antonio Livi, emeritierter Professor der
Philosophie an der Lateranuniversität
4. Prof. Roberto de Mattei, Europäische Universität
Rom
5. Prof. Luigi Coda Nunziante, im persönlichen
Namen und in seiner Eigenschaft als Präsident der Vereinigung „Famiglia
Domani“
6. Dr. Paolo Deotto, Direktor der „Riscossa
Cristiana“, www.riscossacristiana.it
7. Prof. Piero Vassallo, Dozent der Philosophie,
Condirektor der „Riscossa Cristiana“
8. Prof. Emilio Biagini
9. Prof. Paolo Mangiante
10. Prof. Primo Siena
11. Dr. Luciano Garibaldi
12. Dr. Mauro Faverzani
13. Dr. Virginia Coda Nunziante
14. Dr. Pucci Cipriani
15. Dr. Normanno Malaguti
16. Dr. Giovanni Ceroni
17. Dr. Paolo Maggiolo
18. Maria Viscidi
19. Dr. Carla D’Agostino Ungaretti, Rom
20. Alfredo Bazzani, Verona
21. Francesca Poluzzi
22. Diakon Don Roberto Donati, Florenz
23. Fabio Scaffardi, Florenz
24. Dr. Giovanni Catanzaro
25. Annarosa Berselli
26. Tommaso Lopatriello, Policoro (MT)
27. Francesco Dal Pozzo, Bologna
28. Don Marcello Stanzione und für die Fromme
Vereinigung „Milizia di San Michele Arcangelo“
29. Prof. Dante Pastorelli, Leiter der ehrwürdigen
Konfraternität „S. Girolamo e S. Francesco Poverino in S. Filippo Benizi“,
Florenz. Präsident der „Una Voce“, Sektion Florenz
30. Maria Eleonora Bagnoli, Prato
31. Cesaremaria
Glori, Belluno
32. Maria Matilde
33. Calogero Cammarata, Präsident von „Inter
Multiplices Una Vox“, Turin
34. Dr. Cristina Siccardi, Castiglione Torinese
(TO)
35. Dr. Carlo Manetti, Castiglione Torinese (TO)
36. Roberto Sgaramella, USA
37. Alessandro Gnocchi
38. Mario Palmaro
39. Mario Crisconio, Ritter des Malteserordens,
Leiter des „Pio Monte della Misericordia“ (in Neapel), Präsident von „Una
Voce“, Sektion Neapel
40. Enrico Villari, Ingenieur und Dr. der
Philosophie, Neapel
41. Marcello Paratore, Dozent für Philosophie, Neapel
42. Giuseppe De Vargas Machuca, Leiter der „Reale
Arciconfraternità e Monte del SS. Sacramento dei Nobili Spagnoli“, Neapel
43. Giovanni Turco, Universitätsdozent, Präsident
von „Società Internazionale Tommaso d’Aquino“, Sektion Neapel
44. Giovanni Tortelli, Schriftsteller, Gelehrter
des Kirchenrechts und der Kirchengeschichte, Florenz
Dieses Bittgesuch wird verbreitet durch die
Internetseite www.riscossacristiana.it, auf der sich der Text in Italienisch
befindet. Übersetzung: pius.info.
Anmerkungen:
[1] Brunero Gherardini, Gesuch an den Heiligen
Vater; im Epilog zu: Das Zweite Vatikanische Konzil – Ein ausstehender Diskurs,
Carthusianus-Verlag, Mülheim / Mosel, 2010, S. 233-235
[2] Roberto de Mattei, Il concilio Vaticano II.
Una storia mai scritta, Lindau, Torino, 2010, p. 591
[3] B. Gherardini, „Quod et tradidi vobis“. La
Tradizione vita e giovinezza della Chiesa, in Divinitas, Nova Series, 2010 (53)
nn. 1-2-3, pp. 165-186
[4] Romano Amerio, Iota Unum. Eine Studie über die
Veränderungen in der katholischen Kirche im XX. Jahrhundert, Edition Kirchliche
Umschau, 2000, S. 92f
[5] Ibid. S. 511-515, §§ 232-233