Die Gemeinschaft der Heiligen
Leon Bloy
Die Gemeinschaft der Heiligen! Was bedeuten diese beiden Worte dem Großteil der Christen, die sie jeden Tag als einen ihrer Glaubensartikel wiederhersagen? Die nicht ganz Ungebildeten müssen eigentlich wissen, daß diese Worte die theologische Bezeichnung der Kirche sind, des mystischen Leibes Christi, und daß darum alle Gläubigen seine sichtbaren Glieder sind. Das sind die Anfangsgründe. Aber wie viele sind fähig, über diese verpflichtende Annahme hinaus den Gedanken zu fassen - gemeinsam mit den Aposteln -, daß einzig die Dämonen außerhalb der Kirche stehen, daß kein menschliches Wesen von der Erlösung ausgeschlossen ist, und daß selbst die in der tiefsten Finsternis lebenden Heiden ihrer inneren Mächtigkeit nach Katholiken sind, Erben Gottes und Mit-Erben Christi?
Wenn die Menschen nicht alle ohne Ausnahme in der Möglichkeit stünden, Heilige zu sein, hätte der neunte Glaubensartikel keinen Sinn. Es gäbe keine Gemeinschaft der Heiligen. Sie ist der Zusammenklang aller Seelen seit Erschaffung der Welt, und dieser Zusammenklang ist so wunderbar zwingend, daß es unmöglich ist, sich ihm zu entziehen. Die unbegreifliche Ausschließung einer einzigen Stimme wäre eine Gefahr für die ewige Harmonie. (...)
Aber Gott kennt sein Werk, und das genügt. Wir brauchen nur zu wissen, daß eine erhabene Ausgewogenheit von ihm gewollt ist, und daß die Gewichtigkeit eines jeden seiner vernunftbegabten Geschöpfe sich selbst den liebegetragenen Vermutungen der größten Heiligen völlig entzieht. Alles, was wir in Ehrfurcht und Anbetung erahnen können, ist das beständige Wunder eines unfehlbaren Gleichgewichtes zwischen den Verdiensten und den Verschuldungen der Menschen, derart, daß die geistig Mittellosen von den im Geiste Reichen ausgeglichen und die Furchtsamen ergänzt werden durch die Kühnen. Aber das geht vor sich, ohne daß wir das Geringste davon wissen, gemäß der wunderbarerweise unbekannten Anordnung der Wahlverwandtschaft unter den Seelen. Ein Eingreifen der Gnade, das mich aus einer schweren Gefahr rettet, kann durch eine Liebestat bestimmt worden sein, die heute morgen oder vor fünfhundert Jahren von einem ganz unbekannten Menschen vollbracht wurde, dessen Seele in geheimnisvoller Weise der meinen entsprach und die auf diese Weise ihren Lohn erhält.
Da die Zeit für Gott nicht existiert, konnte der unerklärliche Sieg an der Marne durch das ganz demütige Gebet eines kleinen Mädchens entschieden werden, das erst in zweihundert Jahren geboren werden wird. Umgekehrt ist es jedem verstattet, alte oder gegenwärtige Katastrophen hervorzurufen, in dem Maße wie andere Seelen von der seinen in Schwingung versetzt werden können. Was man den freien Willen nennt, ist jenen unscheinbaren Blumen ähnlich, deren gefiederte Samenkörner der Wind nach allen Richtungen in oftmals ungeheure Entfernungen davonträgt, um wer weiß welche Berge oder Täler einzusäen. Die Offenbarung dieser Wunder wird das Schauspiel einer Minute sein, welche die Ewigkeit währen wird. (...)
O wunderbare und übernatürliche Stille, die plötzlich an die Stelle des ungeheuerlichen Dröhnens der Schlacht tritt. Unendliche Stille in der Finsternis oder im Licht, man weiß es nicht. Aber nun finden wohl unaussprechliche Begegnungen und Überraschungen statt. Unhörbare Stimmen, Antlitze der Seelen erkennen sich für immer durch die durchsichtig gewordenen Scheidewände der Völker und Mauern der Jahrhunderte... Hier ist dein eigentliches Ich! wird der Richter verkünden und sich an das Gewissen eines jeden wenden. Und das ist wahrlich alles, was uns von diesem furchtbaren Augenblick zu fassen vergönnt ist.
Es gibt in jeder Seele - ich schreibe das für Dich, Elisabeth - einen "geheimnisvollen Abgrund". Jeder hat in sich einen Abgrund, den er nicht kennt, den er nicht erkennen kann. Wenn uns dieverborgenen Dinge offenbart sein werden, gemäß der Verheißung, wird es unvorstellbare Verwunderungen geben. Ich weiß nicht, wer Deine Lehrer sind, mein liebes Kind, aber ich weiß nur allzu genau, was man gewiß unterlassen hat, Dich verstehen zu lehren. Man hat Dir gesagt, daß Du eine unsterbliche Seele hast, die es zu retten gilt etc. Aber niemand hat Dir gesagt, daß diese Seele ein Abgrund ist, in dem alle Welten verschlungen werden könnten, in dem der Sohn Gottes selbst, der Schöpfer aller Welten, verschlungen ist; daß diese Seele in Wahrheit das Grab Christi ist, für dessen Befreiung einstmals ungezählte Menschen ihr Leben gegeben haben.
Man hat Dir auch gesagt, daß Jesus für Dich gestorben ist, für Deine Seele, aber Du hast nicht erfahren, daß Du das Recht und sogar die Pflicht hast, Dich einmal als ganz allein auf der Welt existierend zu betrachten, das heißt, auch wenn Du die einzige Tochter Adams wärest, würde die Zweite göttliche Person Fleisch geworden sein, hätte sich kreuzigen lassen für Dich, wie sie es für Milliarden anderer getan hat; und so bist Du unaussprechlich und ganz im Besonderen kostbar, da das All geschaffen worden ist für Dich allein, das Paradies, das Fegefeuer und die Hölle zugerüstet worden sind für Dich allein, und die Mutter mit dem durchbohrten Herzen leidet und fleht für Deine Seele allein.
Man hat Dir sicherlich von der Gemeinschaft der Heiligen erzählt, da dies ein Glaubensartikel ist, aber ohne Dir zu erklären, daß Du Jesus Christus angehörst als ein wesentliches Glied seines göttlichen Leibes, und daß Du nun nicht nur an ihm teilhast, sondern ihm gleich geworden bist, das heißt, Du selbst bist in der Weise Gott und Erlösergott, daß es Menschengeschöpfe gibt in unbekannter Zahl, die von Dir abhängen, die durch Dich unterstützt und gerettet werden sollen, durch Dich, Elisabeth, unbekannte Nachfahrin der alten Cenomanen, die gegen Cäsar kämpften. Die Gemeinschaft der Heiligen, das Gegenmittel oder Widerspiel der Völkerzerstreuung von Babel, bezeugt eine menschliche Verbundenheit in der Verantwortlichkeit, die so göttlich, so wunderbar ist, daß es keinem menschlichen Wesen möglich ist, den anderen nicht zu antworten, in welcher Zeit sie auch leben, in welcher Zeit sie auch gelebt haben oder zu leben berufen sind. Die kleinste unserer Handlungen versetzt unendliche Tiefen in Schwingung und läßt alle Lebenden und alle Toten erschauern, und doch so, daß jeder unter den Milliarden Menschen wirklich allein vor Gott ist. Solcherart ist der Abgrund unserer Seelen, ist ihr Geheimnis.
(aus: Leon Bloy, Der beständige Zeuge Gottes, hersg. von Raissa Maritain, Salzburg 1953, S. 375 ff.)
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