"Im Anfang war das Wort"
- Die Elemente der Weihnachtsliturgie -
von
Martin Mosebach
Jeden Tag Weihnachten feiern zu sollen ist wahrscheinlich auch für
Liebhaber dieses Festes ein eher unheimlicher Gedanke. Aber die
unaustauschbare Individualität, die dem Weihnachtsfest vor allem in den
letzten Jahrhunderten zugewachsen ist, hat es nicht zu allen Zeiten
besessen. In den frühen Jahrzehnten des Christentums, vor allem in den
von Paulus geprägten Gemeinden, gab es kein Weihnachten und sollte es
eigentlich überhaupt keine Feste geben. Was Jesus getan hatte, war in
den Augen dieser frühen Christen so groß, daß ein Fortgang der
Geschichte danach nicht mehr recht möglich schien. Die Getauften lebten
in der Erwartung der Wiederkunft Jesu und wollten mit kalendarischer
Routine nichts mehr zu tun haben. Das neue Leben bestand in einer
Zeitlosigkeit, in der alle Heilsgeschichte in geschichsloser Gegenwart
zusammenrückten. Das Festefeiern und damit die Rückkehr in die Zeit
begann für die Christen zugleich mit dem Erwachen des Bedürfnisses,
sich zu den Orten der Heilsgeschichte zu begeben. Die Feste waren im
Zeitablauf, was Jerusalem oder Bethlehem für den Pilger bedeuteten:
Stationen, durch die das lange Warten auf die Wiederkunft zu einer
Bewegung, einem Entgegengehen wurde.
Als es darum ging, für das "Fest der Geburt unseres Herrn nach dem
Fleisch", wie Weihnachten in der Orthodoxie genannt wird, ein Datum zu
benennen, war niemandem daran gelegen, den gleichsam standesamtlich
korrekten Geburtstag Jesu herauszufinden. Für den hatte sich offenbar
keiner der Jünger und Evangelisten interessiert. Die Versuche, anhand
gewisser Sternkonstellationen, die dem Stern von Bethlehem entsprechen
sollen, astronomische Gewißheit darüber zu gewinnen, sind für die
Neuzeit bezeichnend. Es gibt keinen Zweifel, daß der 25. Dezember, der
im vierten Jahrhundert nach Christus dann schließlich zum Weihnachtstag
erklärt wurde, ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Glaubens
gewählt worden ist. Es hat sich dabei lange die Vermutung gehalten, die
Christen hätten mit dem Geburtsfest Jesu ein heidnisches Festdatum
besetzen wollen, das Fest des spätrömischen "Sol invictus" etwa oder
ein germanisches Sonnenwendfest, und die christliche Rhetorik hat mit
ihren, auf Christus bezogenen Sonnenvergleichen diesen Verdacht
erhärtet. Es ist aber offenbar anders gewesen. Es war wohl gar nicht
das Datum des 25. Dezember mit seinem heidnischen Fest, das die
Kirchenväter beschäftigte; sie blickten auf ein ganz anderes Datum -
den 25. März, der nach alter jüdischer Tradition der Tag war, an dem
Gott das Werk der Weltschöpfung be-gann. Indem sie dieses Datum als den
Tag annahmen, an dem Maria auf Ankündigung durch den Engel ihren Sohn
vom Heiligen Geist empfing, ergab sich der 25. Dezember neun Monate
später als Geburtstag von selbst.
In den Augen der Kirchenväter besaßen die Entstehung der Welt und die
geheimnisvolle Stunde von Nazareth, in der der Engel bei einem jungen
Mädchen eingetreten war, dasselbe Gewicht, beide Ereignisse waren für
sie kosmische Pendants von makelloser Symmetrie, fremdartig genug für
unsere Zeit, die Rationalität und Glauben als Gegensatz erlebt. Wie
Gott aus dem Nichts die Welt schuf, die sich dann von ihm abwandte, so
schuf er gleichfalls aus dem Nichts, ohne Mitwirkung eines Mannes, im
Leib der Jungfrau seinen Sohn, um diese Welt zu sich zurückzuholen -
eine Art "ErlösungsRochade", in der Gott Mensch wird, um den Menschen
vergöttlichen zu können. Das Gegenstück zum Beginn der Genesis - "Im
Anfang schuf Gott Himmel und Erde" - ist der berühmte Prolog des
Johannes-Evangeliums" - "Im Anfang war das Wort" -, der definiert, was
bei Jesu Geburt geschah: "Und das Wort ist Fleisch geworden."
Fleischwerdung, Inkarnation ist der neue Begriff, den diese
Evangelien-Perikope in das Denken der Welt eingeführt hat. Dieser
Begriff enthält den Kern des christlichen Glaubens, der sich weder in
seiner Sicht der Weltentstehung noch in Sitten- und Morallehre von
anderen Religionen wesentlich unterscheidet, sondern in seiner
Überzeugung, der Schöpfergott habe die Gestalt seiner eigenen Schöpfung
angenommen, um den Menschen zur alten, verlorenen Gottebenbildlichkeit
zurückgelangen zu lassen. "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat
unter uns gewohnt" - diesen, Schlußsatz der bewußten Perikope wollten
und durften katholische Christen bis vor kurzem nur auf Knien sprechen
oder hören. Auch der Priester, der das Evangelium des Weihnachtsmorgens
verkündete, beugte bei diesem Satz das Knie. Er war das Arkanum der
christlichen Religion, an ihm schieden sich die Geister derjenigen, die
Jesus von Nazareth nur als großen, gotterfüllten Menschen verehren
wollten, von den Christen.
Es dauerte tausend Jahre, bis der Anfang des Johannes-Evangeliums, die
Verkündung der Welterschaffungs-Weihnacht, aus der Weihnachtsmesse in
jede katholische Messe gelangte. Thomas von Aquin stellte im
dreizehnten Jahrhundert die aus apostolischer Zeit stammende Lehre,
Jesus sei unter den Gestalten von Brot und Wein beim eucharistischen
Opfer wirklich gegenwärtig, auf den Boden der aristotelischen
Philosophie und schuf für sie eine neue Terminologie, in der die
wirkliche Gegenwart des Erlösers und die Wandlung, der Opfergaben in
sein Fleisch und unter die Begriffe "Realpräsenz" und
"Transsubstantiation" gefaßt wurden. Die Krönung dieser philosophischen
Durchdringung war das Fest Fronleichnam, in dem der in Brotgestalt
anwesende Christus besonders geehrt werden sollte. Thomas stellte die
Texte für die neue Fronleichnamsmesse zusammen und dichtete ein langes
Lehrgedicht, die Sequenz "Lauda Sion", das für diese Liturgie" so
populär wurde, daß es sogar einen satirischen Niederschlag in den
"Carmina Burana" fand.
Für die "Präfation" von Fronleichnam griff der um Worte wahrlich
nicht verlegene Philosoph je-doch auf ein bereits vorhandenes Gebet
zurück, auf die "Präfation" von Weihnachten. Diese Verbin-dung des
eucharistischen Opfers mit Weihnachten wird heute noch gelegentlich als
Verlegenheitslösung verstanden. Dabei macht der Wortlaut des Gebets
sofort klar, was Thomas im Sinn hatte: "... denn indem Wir Gott mit den
Augen erkennen, sollen wir zur Liebe zur unsichtbaren Welt hingerissen
werden" - das läßt sich ebenso auf das Kind in der Krippe wie auf die
während der Wandlung in der Messe über den Kopf des Priesters
erhobene Hostie beziehen.
Dies Opfer der konsekrierten Gaben von Brot und Wein sollte zwar den
Kreuzestod gegenwärtig werden lassen. Thomas hatte in seinem
systematischen Denken jedoch die Notwendigkeit erkannt, daß auch der
eucharistische Christus, um getötet zu werden, zunächst leben mußte.
Was bei der Wandlung der Opfergaben geschah, war deshalb nicht nur
Opfer und Tod, sondern auch Geburt: Christus wurde auf dem Altar
geboren, um dort geopfert zu werden. Die Tücher, die den Altar
bedeckten, vertraten nicht nur das Grabtuch von Jerusalem, sondern auch
die Windeln von Bethlehem.
Als Fronleichnam gestiftet wurde, wurde das Weihnachtsevangelium "Im
Anfang war das Wort" zuerst im Dominikaner-Meßbuch, bald darauf aber in
allen Meßbüchern zum Schlußevangelium einer jeden Messe. Der Priester
las es nach dem Schlußsegen mit leiser Stimme und kniete wie an
Weih-nachten, wenn er es laut las oder sang, beim letzten Satz. "Im
Anfang war das Wort" wurde zum Resümee der Liturgie, zur Summe all
ihrer vielen verschiedenen Worte und Handlungen. "Wir haben seine - des
inkarnierten Wortes - Herrlichkeit gesehen" - das sollte von jeder
Messe gesagt werden können, in der man die feierlich ausgestellte
Hostie erblickt hatte.
Warum hat man dies weihnachtliche Schlußevangelium aus der Messe
entfernt? Vielleicht, weil man vergessen hatte, was es aussagen sollte?
Das Vergessen und Nichtwissen der Bedeutung liturgischer Details ist
für die Liturgie und ihren sinnvollen Vollzug eigentlich kein großes
Unglück. Das Beste einer Symphonie mag sich auch dem mitteilen, der
nichts von Kontrapunkt und Quintenzirkel versteht. Wissen muß man
allerdings, daß es in der Liturgie kein noch so kleines Element gibt,
hinter dem sich nichts Gewichtiges verbirgt. So beweist das erst im
Mittelalter in die Liturgie geratene Schlußevangelium, wie sehr die
Kirche in ihrer Messe dem Ideal der Apostel treu geblieben war: jeden
Tag Karfreitag und Ostern, aber eben auch Weihnachten zu feiern.
(aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.12.02, mit freundlicher Genehmigung der Redaktion)
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Leserbrief
16.10.02
Sehr geehrter Herr Heller,
Ich bin Münchner, musste aber nach Mexiko auswandern, um etwas von
'Einsicht' zu erfahren, sowie der traditionellen hl.Messe von Kaplan R.
in meiner Heimatstadt. Ich arbeite als Leiter eines Forschungszentrums
(der katholischen Tradition) an der Universidad Autónoma de
Guadalajara, und habe vor kurzem bei einem meiner häufigen Besuche im
Büro des Universitätspräsidenten (Rector) ihre Zeitschrift gesehen.
Zunächst eimal möchte ich sie alle beglückwünschen ob ihrer Ausdauer im
wahren Glauben. Darüber hinaus jedoch möchte ich Sie bitten, die
Zeitschrift an meine schon alten Eltern zu schicken (...). Meine Mutter
ist schon ein wenig mit dem 'Kirchenkampf' vertraut, und insofern
empfänglich für die sicherlich traurige, aber unleugbare Tatsache, dass
die heutige Kirche nicht mehr die ewige Kirche ist, und diese von jener
verfinstert ist (Apostolicae Sedis vacantae).
Domine, adjuva nos. Perimus. Saludos cordiales,
Andreas Böhmler |