c. Die Moderne ist Meister des Zweifels
Die Moderne ist Meister des Zweifels, des Anzweifelns und des Bezweifelns - und das nicht ohne Grund: Die Wahrheit wird nicht so sehr durch den frontalen Angriff, das platte dialmetrale Bestreiten der Wahrheit, sondern viel nachhaltiger durch die sublime Methode des ‚bloßen’ Anzweifelns, des Infragestellens - ohne die Behauptung des Gegenteils - beschädigt: Das offene Vertreten der Gegenposition, ein Schöpfergott sei nicht existent, noch sei er je existent gewesen, wäre angesichts des aus dem Werden und dem Sein - und also dem Gewordensein - der sichtbaren Welt mit Evidenz zu ziehenden Schlüsse ein Kampf auf verlorenem Terrain. Er würde der Wahrheit die Ehre geben:
Der bekennende Atheismus, die apodiktisch Behauptung, die Welt könne keinen außerweltlichen Ursprung besitzen, einmal ausgesprochen, entlarvt sich angesichts des sichtbaren Seins als parteiisch, kurzsichtig, als stumpf- und schwachsinnig und spielt damit denen, die das Gegenteil behaupten, in die Hände: sie bahnt geradezu der Wahrheit den Weg. Das Heer der bekennenden Atheisten gleicht einer Kombatandenschar, die unter Triumphgeheul ihre Deckung verlassen und geradezu arg- und wehrlos in das Schußfeld der Gegner hineinlaufen. Sie haben nicht begriffen, daß der ‚Beweis’, Gott könne nicht existieren, einen außerordentlich großen Mangel an Intelligenz offenbart.
Der Zweifel, der subtile Atheismus hingegen ist ‚intelligenter’, ‚vernünftiger’, scheinbar harmloser, er ist diffuser, nachhaltiger, zerstörerischer, zersetzender, hinterhältiger und verschlagener: „Wenn ich das Kind gefunden haben sollte, so will auch ich niederfallen und es anbeten!“
Er verhält sich scheinbar ‚weise’, ‚neutral’, ‚objektiv’ und ‚bescheiden’, fast ‚demütig’: er verzichtet darauf, eine eigene Gegenposition zu besetzen, die ihrerseits greifbar und damit angreifbar wäre. Er zertritt ‚bloß’ unter einer Geste scheinbar mitfühlenden Bedauerns: „So jedenfalls nicht!“ Der Zweifel verhält sich scheinbar integer, fast skrupelhaft: aus scheinbar hehren und edlen Motiven nährt der Zweifler seine Position, ‚kann’ er sich nicht zur vollen Zustimmung durchringen, es verbleiben ihm ‚letzte’, allerdings nicht zu überwindende Zweifel.
Der Zweifel ist unangreifbar: Versuchen Sie denjenigen, der nicht überzeugt sein will, den ‚Skeptiker’ mit überzeugenden, schlüssigen Argumenten zu überzeugen - er ‚kann’ und er wird Ihren Argumenten im Ergebnis nicht zustimmen (wollen).
Der Zweifel ist nicht heiß, er ist nicht kalt, er ist lau: er bezweifelt doch ‚nur’, ohne zu bestreiten - und geht im übrigen seiner Wege. Der Zweifel ist die Geisteshaltung - mehr noch die Willensrichtung - der Moderne: Sie bestreiten nicht, daß es einen Schöpfergott, einen Erhalter gebe, sie bezweifeln nur - und gehen im übrigen ihrer Wege: Dort allerdings sind die ‚Zweifler’ geradezu wie ‚ausgewechselt’; gar nicht mehr wiederzuerkennen sind die blutleeren ‚Unentschlossenen’, die scheinbar ehrlich mit ihrer Unwissenheit ringenden Zauderer: In ihren ureigensten Angelegenheiten im Hier und Jetzt sind sie sehr ‚vital’, zielstrebig, ‚feurig’, ausgelassen, da haben sie jede Scheu, jede Skepsis, jegliche Unentschlossenheit, jegliche ‚Skrupelhaftigkeit’ abgelegt - und beweisen damit, daß ihr ‚Skeptizismus’ keineswegs ‚wertfrei’, sondern ‚zweckgerichtet’ ist, daß er nichts anderes als Fassade, als Maskerade, Verstellung, parteiische Ignoranz ist, hergeholt und vorgeschoben: Sie bezweifeln dort, um hier ungestört ihre eigenen Wege gehen zu können.
Betreffend die ‚letzten’ Dinge, womit sie bezeichnenderweise die ersten, grundlegenden Wahrheiten meinen, sind sie unschlüssig, zaudernd, fast depressiv; betreffend das Diesseits sind sie ganz aufgekratzt, krekel, unangemessen fröhlich-forsch, nahezu wie getrieben – diesem Verhalten der modernen Welt haften die Züge einer massiven bipolaren-affektiven Störung, einer kollektiven psychischen, einer seelischen Erkrankung an. Denn jene bestreiten nicht, sondern sie ‚bezweifeln’ ‚nur’ die Wahrheit - ja scheinbar nicht einmal das: Sie bezweifeln nur die Allgemeingültigkeit des Satzes, Gott sei Schöpfer und Erhalter. Vor allem aber bezweifeln sie die Aussage, Gott sei Erhalter: Sie wollen allenfalls einen zu den Geschicken eines jedes Einzelnen beziehungslosen, einen fernen, abwesenden Gott zulassen, um eines, das Entscheidende zu verhindern: den festen Glauben an einen persönlichen, zu jedem einzelnen in engster Beziehung stehenden präsenten Gott als Schöpfer und als Erhalter.
Allerdings ist jegliche Überzeugung - sei sie nun zutreffend oder unzutreffend - dem Begriff nach dogmatisch intolerant: Sie schließt entgegenstehende Überzeugungen, abweichende Standpunkte aus. Es scheint paradox, aber es ist dennoch zutreffend: Dies gilt genauso für die Überzeugung(sstufe) des Zweifels, nämlich die (sichere) Überzeugung, es gebe keine (sichere) allgemein gültige Wahrheit. Jegliche Lebensanschauung erhebt notwendig Wahrheitsanspruch, hält sich für wahr, begreift sich als die allein ‚seligmachende’, und kann sich folglich nicht ‚anpassen’, ohne ihren Anspruch auf Daseinsberechtigung aufzugeben, ohne daß deren Anhänger eine Art Bewußtseinsspaltung und dadurch einen schleichenden Glaubensverfall erleiden:
Bestes Beispiel dafür sind die Christen, die ‚man’ mit dem Schlachtruf ‚Toleranz’ ‚integriert’ und so zu ‚Christen’ gemacht hat – und jene sich ‚integrieren’ und zu ‚toleranten’ ‚Christen’ machen ließen. Denn auch und gerade die Religion der Aufklärung, die strenggläubige Religion der ‚Toleranz’, die Religion des ‚modernen Menschen’ begreift sich als allein ‚seligmachend’ und ist folglich substantiell intolerant: Sie kollidiert frontal mit dem Begriff ‚Wahrheit’.
Nach dem Credo der Aufklärung existiert ‚die Wahrheit’ nicht; es gibt sie nur in der verneinenden Form. Außerhalb der vielen subjektiven ‚Wahrheiten’ und über die platten Gegebenheiten des Hier und Jetzt hinaus existiert ‚die Wahrheit’ nicht. Alleinseligmachend ist nach deren Darstellung, daß ein jeder auf seine eigene subjektive Weise, seinem eigenen Stern und seiner ihm allein eigenen Wahrheit folgend, selig werden möge.
Denn sie fordern ‚Toleranz’, eben weil sie jeglichen Allgemeingültigkeitsanspruch irgendeiner höheren Wahrheit, insbesondere irgendeiner Religion leugnen: Alle Religionen, auch der Atheismus sind gleichwertig und also gleichgültig – und daher ist der Mensch frei; und genau deshalb existiert ‚das Menschenrecht auf Irrtum’: Weil es ‚die Wahrheit’ nicht gebe und daher auch gar kein Irrtum betreffend die nicht exisierende Wahrheit möglich sei und also keinerlei Verpflichtung gegenüber der - nicht existierenden - Wahrheit bestehen könne.
Eine Weltanschauung, die irgendeinen Wahrheitsanspruch geltend macht, und sei es auch ‚nur’ die Wahrheit, daß es ‚die Wahrheit’ nicht gebe, ist in diesem Punkt notwendig dogmatisch intolerant – auch und gerade die Religion der ‚Toleranz’, die der Sache nach jegliche metaphysiche allgemeingültige Wahrheit leugnet und insofern intolerant ist:
Die Aussage „eine allgemeingültige Wahrheit existiert nicht“, ist das Glaubensbekenntnis des Zweifels. Sie heißt ja nichts anderes als: „Selbstverständlich gibt es eine allgemeingültige Wahrheit, aber eben nur eine und sonst keine. Es existiert nämlich nur unsere Meta-Wahrheit: ‚Es gibt keine allgemeingültige Wahrheit!’ “ Denn die gefühlsselige ‚Bruderliebe’, die ‚Philadelphia’ (ohne Gott), die ‚Weltoffenheit’ und ‚Menschenfreundlichkeit’ der Aufklärung ist an Bedingungen geknüpft, die so selbstverständlich sind, daß sie als ‚blinder Fleck’ gar nicht wahrgenommen werden: Jegliche ‚Kultur’, jegliche Weltanschauung ist in dieser aufgeklärten ‚Bruderliebe’ strikt aufgefordert, die jeweils anderen, die konkurrierenden Weltanschauungen als gleichwertig zu achten, jedenfalls nicht als fehlerbehaftet, nicht als von der Substanz her irrig und daher substantiell minderwertig zu ‚diskriminieren’. Als gleichwertig können verschiedene Weltanschauungen aber nur dann erachtet werden, wenn die tragenden ‚Werte’ dieser Weltanschauungen als jeweils gleichwertig anerkannt werden. Dieses Anerkenntnis kann allerdings nur um den Preis der Preisgabe eigener, als gültig anerkannter Wahrheiten und ‚Werte’ abgegeben werden; es gelingt nur um den Preis der Relativierung jeglicher Wahrheit.
Die Praktizierung dieser Art von ‚Bruderliebe’, die Befolgung der Parole „seid umschlungen, Millionen, in eurem Anderssein im Reigen des multikulturellen Miteinanders“ ist nur unter der Bedingung der Konversion möglich: wenn der so Bekehrte dem Bekenntnis: „es gibt keine (gültige) Wahrheit“ den Vorzug einräumt, wenn er zum Glauben an den Zweifel konvertiert ist.
„Wenn man aber der Meinung ist, es sei kein Unterschied zwischen den verschiedenen und einander widersprechenden Religionsformen, so läuft dies schließlich darauf hinaus, daß man sich für gar keine entscheiden, gar keine praktizieren will. Eine solche Ansicht mag sich daher dem Namen nach von der Gottesleugnung (Atheismus) unterscheiden, in der Sache selbst aber ist es kein Unterschied. Denn wenn jemand von Gottes Dasein überzeugt ist, dann muß er notwendig einsehen, wenn er nicht unvernünftig sein und sich nicht selbst widersprechen will, daß Einrichtungen für den Dienst an Gott, die derart verschieden und in den wichtigsten Punkten einander widersprechend sind, unmöglich gleich wahr, gleich gut, gleich Gott wohlgefällig sein können.“ (aus dem Apostolischen Rundschreiben „Immortale Dei“ Papst Leo XIII. vom 1.11.1885)
„Nun kommen wir zu einer weiteren überreichen Quelle von Übeln, unter denen leider die Kirche heute schwer leidet. Wir meinen die Gleichgültigkeit, den Indifferentismus, jene verkehrte Ansicht, die sich durch die Bosheit ruchloser Menschen überallhin verbreitet hat: Man könne durch das Bekenntnis jedes beliebigen Glaubens das ewige Heil erlangen, wenn nur das sittliche Leben nach den Regeln von Rechtschaffenheit und Anständigkeit ausgerichtet sei.“ (aus dem Apostolischen Rundschreiben Papst Gregor XVI. „Mirairi vos arbitramur“ vom 15.8.1832)
Die Philadelphia der Aufklärung, die scheinbarer Menschenfreundlichkeit und Güte ist ihrem Wesen nach subtilste Missionierungs- und Konversionsarbeit zu Gunsten jener Meta-Wahrheit der Aufklärer; sie ist „Tempeldienst, Steinmetz- und Maurerarbeit am Tempel der Menschheit“, jener ‚einen Welt’, in der die Menschheit in der ‚neuen Weltordnung’ ohne und also gegen Gott existieren soll: „Auf deine Schlechtigkeit vertrautest du und sprachst: ‚Nicht einer mich durchschaut’. Doch deine Weisheit, deine Klugheit haben dich berückt. ‚Ich bin’s ja’, dachtest du, ‚sonst keine’.“ (AT, Isaias 47, 10)
“Komm, ich will dir die Verdammung der großen Buhlerin zeigen, die über vielen Wassern thront. Die Könige der Erde haben mit ihr Unzucht getrieben, und am Weine ihrer Buhlerei haben die Bewohner der Erde sich berauscht. Nun führte er mich im Geiste in die Wüste. Da sah ich ein Weib auf einem scharlachroten Tier sitzen, das bedeckt war mit Lästerworten, sieben Häupter und zehn Hörner hatte. Das Weib war in Purpur und Scharlach gekleidet, überladen mit Gold, Edelsteinen und Perlen. In der Hand hielt es einen goldenen Becher, gefüllt mit Greuel und dem Unrat seiner Unzucht. Auf seiner Stirn stand ein Name geschrieben, ein Geheimnis: Das große Babylon, die Mutter der Dirnen und der Greuel der Welt. Ich sah das Weib trunken vom Blute der Heiligen und vom Blute der Zeugen Jesu. Als ich es sah, staunte ich gar sehr.“ (NT, Offenbarung des hl. Johannes 17, 1 - 6),
Es ging jenen Verwirrern der Wahrheit darum, die von zwei festen, sich fortbewegenden ‚Beinen’, von Vernunft und Glauben getragene Annahme der einen Offenbarungslehre, den einen Schöpfer und den Einen Dreigestaltigen Seienden Gott als ‚unwissenschaftlich’, ‚mittelalterlich-rückständig’, als ‚ungebildet’, als ‚vernunftwidrig’, als ‚dumm’ zu propagieren. Man erinnere sich beispielsweise nur an die vornehmlich aus dem deutschsprachigen protestantischen Raum seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts etwa zweihundert Jahre währenden unternommenen wütenden Versuche der sog. ‚Bibelkritik’, die Gestalt des ‚historischen’ Jesus in eine bloß ‚mythische’ Gestalt zu ‚zerkleinern’ und den ‚historischen’ Gehalt, den Wahrheitsgehalt der Evangelien zu ‚verflüssigen’. Es ging genau darum, fälschlicherweise die Vernunft als im Widerspruch zur Offenbarungslehre stehend und den Menschen als sittlich ‚autonom’ erscheinen zu lassen; es ging darum, das Vertrauen auf Gott zu zerstören und somit die Liebe zu Gott erkalten zu lassen. „Gedenke Herr, den Edomssöhnen den Tag Jerusalems, an dem sie riefen: ‚Zerstört, zerstört es gründlich!’ Du Tochter Babels, du Verwüsterin…“ (AT, Psalm 137 (136), 5 – 8)
Es ging darum, die präzise in Worte gefaßte Erkenntnis des Aristoteles von dem einen außerweltlichen Ursprung des Universums, dem ersten selbst unbewegten Beweger aller Bewegung, der ersten selbst unverursachten Ursache aller Ursachen, dem ersten und einzigen Grund aller Gründe, dem einzigen Zweck aller Zwecke, der einzigen Wirklichkeit aller Wirklichkeiten, dem Sein („ICH bin der: ’ICH BIN’“), das die Welt als das Geliebte bewegt, ungeschehen zu machen. Die als ‚Gottesbeweise’ benannten Vernunftgründe des Aristoteles und des hl. Thomas von Aquin, die die ihrer Natur nach nach Wahrheit strebende menschliche Vernunft für befähigt und aus ihrem ‚natürlichen’ Wahrheitsstreben heraus für verpflichtet erklären, aus dem Sein des Universums und den allgegenwärtigen Erscheinungen von Veränderung und von Geschehen als Wirkung von Ursachen auf einen Schöpfer zu schließen, sind aber nicht wegzudiskutieren, wenn man das Suchen ohne Augenbinde und das Ertasten ohne Fäustlinge, ohne die Tendenz, zu ignorieren und zu verneinen, betreibt: „Wer mißt mit seiner Faust die Wasser und wer den Himmel mit der Spanne? Wer faßt denn in ein Drittelmaß der Erde Staub und wägt die Berge mit der Waage, in ihren Schalen ihre Hügel? Wer mißt den Geist des Herrn? Und wer ist sein Berater, der ihn unterwiese? Wen zieht er je zu Rat, daß er ihn weise machte und ihn den Pfad der Ordnung lehrte und ihn in Einsicht weiterbrächte und ihm die Weisheitsbahn entdeckte?“ (AT, Isaias 40, 12 – 14)
Wissen, menschlich-bruchstückhaftes, wenn es sich nicht um vorurteils-behaftetes, selbst-überschätzendes Wissen oder eitles Koketieren mit einem angeblichem Wissen von angeblich unvermögender Erkenntnis, wenn es sich nicht um überaus stolz zur Schau getragene Ignoranz handelt, ist ein Weg, um zur Wahrheit zu gelangen: Gott aber ist nicht nur ‚die Liebe’, sondern zugleich ‚der Felsen’, ‚die Wahrheit’ – und mit der in Worte gekleideten in analoger Weise schlußfolgernden Erkenntnis des Aristoteles von der einen außerweltlichen Ursache der erfahrbaren Dinge war das geistige Heranreifen der Menschen, auch und gerade der Heiden für die Aufnahme der ganzen göttlichen Offenbarung, war „die Fülle der Zeiten“ (Galaterbrief 4, 4) gekommen: „Tauet, ihr Himmel, von oben, die Wolken mögen regnen den Gerechten; die Erde tu sich auf, und sprosse den Heiland; und die Gerechtigkeit entspringe zugleich! Ich, der Herr, schaffe ihn!“ (Allioli-Bibel, AT, Isaias 45, 8): „Jesus antwortete ihm: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (NT, Johannes 14, 6)
Daher lautet die Lehre der hl. Kirche, definiert in der 3. Sitzung, 24.4.1870, Dogmatische Konsitution „Dei filius“ des (I.) Vatikanischen Konzils (vergl. Denzinger/Hünermann, a.a.O., Rdn. 3001, 3004): „Die heilige katholische apostolische Römische Kirche glaubt und bekennt, daß ein wahrer und lebendiger Gott ist, Schöpfer und Herr des Himmels und der Erde, allmächtig, ewig, unermesslich, unbegreiflich, an Vernunft und Willen sowie jeglicher Vollkommenheit unendlich; da er eine einzige, gänzlich einfache und unveränderliche geistige Substanz ist, ist er als der Sache und dem Wesen nach von der Welt verschieden zu verkünden, als in sich und aus sich vollkommen selig und über alles, was außer ihm ist und gedacht werden kann, unaussprechlich erhaben… Dieselbe heilige Mutter Kirche hält fest und lehrt, daß Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen gewiß erkannt werden kann; ‚das Unsichtbare an ihm wird nämlich seit der Erschaffung der Welt durch das, was gemacht ist, mit der Vernunft geschaut’ (Röm 1, 20): jedoch hat es seiner Weisheit und Güte gefallen, auf einem anderen, und zwar übernatürlichen Wege sich selbst und die ewigen Ratschlüsse seines Willens dem Menschengeschlecht zu offenbaren, wie der Apostel sagt: ‚Oftmals und auf vielfache Weise hat Gott einst zu den Vätern in den Propheten gesprochen: zuletzt hat er in diesen Tagen zu uns gesprochen in seinem Sohn.’ (Hebr. 1, 1,f) “
Und (I.) Vatikanisches Konzil, 3. Sitzung (24.4.1870), Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben: „Wenn auch der Glaube über der Vernunft steht, so kann es doch zwischen Glauben und Vernunft nie einen wirklichen Widerspruch geben, weil derselbe Gott, der die Geheimnisse offenbart und den Glauben eingießt, der Menschenseele auch das Licht der Vernunft gegeben hat. Gott kann sich selbst nicht verleugnen, und die Wahrheit kann der Wahrheit nicht widersprechen. Der bloße Schein eines solchen Widerspruches stammt meist daher, daß die Glaubenswahrheiten nicht im Sinne der Kirche aufgefaßt und dargelegt werden, oder daß Tagesmeinungen als Aussagen der Vernunft ausgegeben werden. Jede Behauptung, die der Wahrheit des erleuchteten Glaubens widerspricht, erklären Wir für falsch (5. Laterankonzil). Da ferner die Kirche mit dem apostolischen Amt der Lehrverkündigung auch die Aufgabe erhielt, das Glaubensgut zu bewahren, so hat sie auch von Gott das Recht und die Pflicht, eine fälschlich sogenannte ‚Wissenschaft’ (1 Tim. 6, 20) zu verwerfen, damit niemand durch menschliche Wissenschaft und leeren Trug getäuscht werde (Kol. 2, 8). Daher darf kein Christgläubiger solche Ansichten, die als der Glaubenslehre widersprechend erkannt werden – besonders wenn sie von der Kirche verworfen sind – als echte Ergebnisse der Wissenschaft verteidigen; er muß sie vielmehr für Irrtümer halten, die durch den Schein der Wahrheit trügen… Glauben und Vernunft widersprechen sich also nie, vielmehr helfen sie sich gegenseitig. Denn die richtig gebrauchte Vernunft beweist die Grundlagen des Glaubens und bildet, vom Glauben erleuchtet, die Wissenschaft von den göttlichen Dingen aus; während der Glaube die Vernunft vom Irrtrum befreit, sie vor ihm schützt und ihr vielfache Erkenntnis mitteilt.“
Die Formel des von den Klerikern zu leistenden Antimodernisteneides gemäß dem Motuproprio „Sacrorum antistitum“ des hl. Papst Pius X. vom 1.9.1910 lautet dem entsprechend:
„Ich verwerfe auch und lehne ab die Lehre derjenigen, die sagen, der gebildetere Christ trage in sich eine doppelte Persönlichkeit: die eine als gläubiger, die andere als geschichtlich denkender Mensch; gleichsam als wäre es gestattet, im geschichtlichen Denken etwas festzuhalten, was dem Glauben des gläubigen Menschen widerspricht, oder Voraussetzungen aufzustellen, aus denen folgen würde, die Glaubenslehren seien falsch oder zweifelhaft, falls dieselben nur nicht direkt geleugnet werden.“
d. Der Liberalismus
Diese ‚westlich’ geprägte ‚Kultur’, die die Freiheit so hoch hält, ist auf einer fundamentalen Lüge aufgebaut: Die Leute sollen nicht begreifen, daß die Freiheit, der menschliche Wille, mag er noch so stark sein wie er will, in jedem Falle blind ist. Wie anders ist es zu erklären, daß die westlichen Gesellschaften immer mehr verkommen, obwohl sie doch frei sind, präziser: gerade weil sie frei sind, denn mit ‚Freiheit’ ist die sterile ‚Sinnfreiheit’, ist im Kern Gottesleugnung, Verneinung eines daseienden und fordernden Gottes gemeint: Die Leute sollten und sollen vom wahren Gott und den Bindungen an ihn ‚befreit’ werden, um sich ihren Göttern, ihren Götzen, ihren ‚Späßen’, dem, was sie ‚ergötzt’, ungehindert von den Forderungen eines angeblich fernen und den Menschen ‚bevormundenden’ Gottes zuwenden zu können:
„Von ihren Sünden sprechen sie wie Sodom unverhohlen. Ein Wehe über sie! Sie tun sich selber Böses an.“ (AT, Isaias 3, 9).
Eine derart im Niedergang befindliche ‚moderne’ Gesellschaft spürt die Folgen ihres Niederganges; nun wird in Teilen der Verlust des Erdbeergeschmackes beklagt, obwohl sie doch die Erdbeere an sich verabscheuen: sie plädieren für den ‚Erhalt’ ‚christlicher Werte’, sie begrüßen die Früchte einer von dem Wandel der Christen durchwebten Gesellschaft. Keinesfalls wünschen sie allerdings eine vom Lebenswandel der Christen geprägte Gesellschaft, eben weil sie an dem blindlings hier und dorthin springenden Geißbock ‚Freiheit’ unverrückt festhalten wollen.
Papst Pius IX. hat dazu in seinem Apostolischen Rundschreiben „Quanta cura“ vom 8.12.1864 ausgeführt, „daß nichts derart todbringend, derart ins Verderben stürzend, derart allen Gefahren ausgesetzt sei, als wenn wir der Meinung sind, es sei für uns völlig ausreichend, daß wir bei unserer Geburt den freien Willen empfangen haben, und wir daher darüber hinaus sonst nichts von Gott zu erlangen suchen. Das bedeutet, daß wir, unseren Urheber vergessend, Seiner Oberherrschaft abschwören, um zu zeigen, daß wir frei sind.“
Dazu aus dem Apostolischen Rundschreiben Papst Leo XIII. „Inscrutabili die consilio“ vom 21.4.1878: „Auch ist zu bedenken, daß eine Freiheit als falsch angesehen werden muß, die über alle durch zügellose Ausbreitung von Irrtümern, durch das freizügige Stillen jeglicher schlechten Gelüste und Begierden, durch Straffreiheit für Schandtat und Verbrechen, sowie durch Unterdrückung der gesetzestreuen Bürger jeglichen Standes in schimpflicher und nichtswürdiger Weise wütet. Denn alles dies sind Verkehrtheiten, die mit der Wahrheit unverträglich sind: Daher liegt in ihnen mit Sicherheit keinerlei wirksame Kraft in Richtung auf die Vollendung des Menschengeschlechtes, die auch im Stande wäre, ihm Gedeihen und Segen zu bringen, denn ‚die Sünde macht die Völker elend’. (Sprichw. 14, 34) Vielmehr ist es ganz unvermeidlich, daß dadurch Geist und Herz der Menschen verdorben werden und die Völker, mit solcher Bürde belastet, gewaltsam ihrem Untergang entgegengetrieben werden. Recht und Ordnung werden dadurch zu Grunde gerichtet, außerdem wird die Stellung und die Aufgabe des Staates sowie dessen öffentliche Sicherheit auf diese Weise früher oder später zugrunde gerichtet und dem äußersten Grad des Verderbens, ja dem Untergang entgegengeführt…
Weil aber Gott die Völker des Erdkreises als heilbar erschaffen hat, indem er die Kirche zum Heile der Völker gegründet und ihr die Gegenwart seines Beistandes bis zum Ende der Welt verheißen hat, hegen Wir ein festes Vertrauen darauf, daß unter eurer bemühten Mitarbeit das durch so viele Übel und Unglücksschläge gewarnte und angespornte Menschengeschlecht endlich in Unterordnung gegenüber der Kirche in ihrem unfehlbaren und irrtumsfreien Lehramt dieses Apostolischen Stuhles sein Heil und sein Glück sucht.“
Und aus dem apostolischen Rundschreiben „Humanum genus“ Papst Leo XIII. vom 20.4.1884: „Gott, der Weltschöpfer und deren weiser Lenker und Leiter, das ewige Gesetz, das gebietet, die Ordnung der Natur zu wahren, und verbietet, diese durcheinander zu bringen, das letzte Ziel des Menschen, das viel höherer als die menschlichen Dinge ist und jenseits des innerweltlichen Bereichs gegründet ist, das sind die Quellen und die obersten Grundsätze allen Rechtes und aller Sitte. Werden diese geleugnet, so wie es von Seiten der Naturalisten und Freimaurer geschieht, so gibt es alsbald für die wissenschaftliche Erkenntnis von Recht und Unrecht keinen festen und unangreifbaren Standpunkt mehr. Tatsächlich ist die einzige sittliche Erziehung, die die Gemeinschaft der Freimaurer noch anerkennt und durch die die Jugend geformt werden soll, die sogenannte rein weltliche, unabhängige und freie, das heißt eine, in der nichts mehr von Religion enthalten ist...
Sie übertreiben vielmehr die Kraft und Vortrefflichkeit der menschlichen Natur, erkennen in ihr allein Grundlage und Maß aller Gerechtigkeit und denken gar nicht daran, daß es zur Bezwingung der niederen Triebe und zur Regelung der Begierden eines stetigen Kampfes bedarf und die Standhaftigkeit höchst notwendig ist. Das ist daran zu sehen, daß man überall in der Öffentlichkeit so viele Reizmittel für die Begierden anbietet, Zeitschriften und Berichte ohne jegliche Scham oder Scheu, Schauspieler, die sich durch Zügellosigkeit hervortun, einer Kunst die einer fälschlich sogenannten Wirklichkeitstreue ihrer Motive entnimmt, einen übertriebenen, verweichlichenden Luxus; kurzum, alles, was dazu dient, die Leidenschaften zu erregen und die Tugend einzuschläfern und zu entnerven. Dies ist freilich ein Handeln in Schande, aber sie handeln damit folgerichtig, weil sie keine Hoffnung auf himmlische Güter mehr haben, ihr ganzes Glück in den mit dem Tod endenden Dingen suchen und gewissermaßen im irdischen zu Grunde sinken.
Was wir gesagt haben wird bestätigt durch die Tatsache, die an sich nicht überrascht, sondern nur insofern, daß man es wagt, sie auszusprechen: weil nämlich schlauen und verschlagenen Menschen niemand sklavischer zu gehorchen pflegt als diejenigen, die die Herrschaft der Begierden entnervt und gebrochen hat, so haben sich in der Freimaurervereinigung Leute gefunden, die öffentlich den Vorschlag machten, planmäßig und mit Bedacht dahin zu wirken, daß eine grenzenlose Zügellosigkeit in allen Lastern unter der Masse verbreitet werde, denn dadurch würde dieselbe ihnen ganz ergeben und willenlos bereit zu jedem künftigen Frevel.“
Sie lügen nicht in ganzen Sätzen, die von ihnen benutzte Semantik ist kaum zu beanstanden; aber sie benutzen in sich verlogene Begriffe, die Semiotik deckt das auf: Die so Indoktrinierten sollen nicht begreifen, daß das bloße Postulat ‚sei frei’ vernunftwidrig ist, weil es viele Dinge gibt, die im Vermögen des Menschen stehen, ihm aber dennoch schweren Schaden zufügen. Der ‚moderne’ Mensch hat nicht begriffen, daß er sich vor seinem ‚freien Willen’ ebenso sehr, wie er als konstituierendes Element des Menschseins zu begrüßen und zu bejahen ist, fürchten sollte: den ihm von hier, da und dort eingeblasenen Wünschen, Träumen und Begehrlichkeiten. Sie gehen meist auf andere, dunklere Weise in Erfüllung, als der danach Strebende sich erhofft hat; die Welt und ihr Fürst versprechen, was sie nicht halten können und wollen. Die Befriedigung der eigenen Wünsche und Triebe in einer ‚Spaßgesellschaft’ kann als Lebenszweck nicht befriedigen: „Ich weiß, o Herr: Des Menschen Schicksal liegt nicht in seiner Hand. Keinem ist es gegeben, auf dem Lebensweg seinen Schritt zu bestimmen.“ (Henne/Rösch, AT, Jeremias 10, 23)
Bezogen auf das Gleichnis von den zu unterschiedlichen Zeiten gedungenen Arbeitern im Weinberg (NT, Matthäus 20, 1 – 16) gleicht die Menschheit derzeit den Arbeitern, die bis zur elften Stunde untätig wartend herumstehen; es sind zutiefst verlorene Generationen, die an ihrer Bestimmung, an ihrem Ziel vorbeigeführt, von ihm weggeführt werden, wie Raupen, denen man die Fähigkeit genommen hat, ihrer Bestimmung als Schmetterlinge entgegenzuwachsen. Sie vegetieren dahin wie die Maulwürfe, dem Licht der Wahrheit abwendig gemacht; und so sterben sie auch – unwissend, halt- und trostlos; bei allem materiellen Überfluß verhungern sie geistigerweise:
„Die Majestätsbeleidigung gegen den ‚König der Könige und den Herrn der Herrscher’ (1 Tim 6,15. Offb 19, 16.), die in einer christusfremden oder gar christusfeindlichen Erziehung sich vollzieht, die Umkehr des Herrenwortes: ‚Lasset die Kinder zu Mir kommen !’ ( Mk 10, 14.) in sein Gegenteil müß bittere Früchte tragen… Die Seelen der Kinder, die Gott den Eltern schenkte, die in der Taufe mit dem Königszeichen Christi besiegelt wurden, sind ein heiliges Treuhandgut, über dem Gottes eifersüchtige Liebe wacht. Derselbe Christus, der gesagt hat: ‚Lasset die Kinder zu Mir kommen’, hat - bei all Seiner erbarmenden Güte - ein schneidendes Wehe gerufen über jene, die den Lieblingen Seines Herzens Ärgernis bereiten. Und welches Ärgernis wirkt vernichtender und nachhaltiger auf ganze Geschlechter als eine Fehlleitung der Jugenderziehung in eine Richtung, die von Christus, der Weg, Wahrheit und Leben ist, wegführt in offenen oder getarnten Abfall von Ihm? Dieser Christus, Dem man die heutige und kommende Jugend zu entfremden versucht, Er ist Derselbe, Der aus den Händen Seines Himmlischen Vaters alle Königsgewalt empfing im Himmel und auf Erden. Er trägt in Seiner allmächtigen Hand das Schicksal der Staaten, der Völker und Nationen. Bei Ihm steht es, ihr Leben, Wachsen, Gedeihen Größe zu kürzen oder zu verlängern. Von allem, was diese Erde trägt, ist nur die Menschenseele unsterblich.“ (aus dem Apostolischen Rundschreiben „Summi pontificatus“ Papst Pius XII. vom 20.10.1939)
„’Es kommen Tage’, Spruch des Herrn, des Herrn, ‚da sende ich ins Land den Hunger, doch Hunger nicht nach Brot, nicht Durst nach Wasser, vielmehr danach, das Wort des Herrn zu hören. Sie wanken dann von Meer zu Meer, von Mitternacht bis Sonnenaufgang hin. So irren sie umher, ein Herrenwort zu suchen, doch sie finden keines. An jenem Tage sinken hin die jungen Mädchen, die Jünglinge, vor Durst verschmachtend.“ (AT, Amos 8, 11 - 13),
„Da sind wir ja doch vom Wege der Wahrheit gewichen; uns hat nicht beleuchtet das Licht der Gerechtigkeit; uns ist nicht aufgegangen die Sonne. Wir haben uns abgemüht auf den Pfaden der Gesetzwidrigkeit und des Verderbens. Wir haben unwegsame Wüsten durchzogen. Doch den Weg des Herrn haben wir nicht erkannt. Was hat der Übermut uns genützt? Was hat uns der Reichtum geholfen mitsamt dem protzigen Tun? Dies alles ging vorbei wie ein Schatten, wie ein flüchtig Gerücht, wie ein Schiff, das die Wogen der See durchfurcht, von dessen Weg keine Spur mehr zu finden, noch von seines Kieles Pfad in den Wellen. So sind auch wir, kaum geboren, schon gestorben. Kein Merkmal der Tugend haben wir aufzuweisen; in unserer Bosheit wurden wir weggerafft.“ (Henne/Rösch, AT, Weisheit 5, 6 – 13)
Der Aufenthalt des Menschen in dieser Welt ist aber nicht Teil und Ergebnis des Zufalls, eines undurchschaubaren Schicksals, er ist kein sinn- und nutzloses ‚Hinausgeworfensein zum Tode’. Das Leben ist mehr als nur ein nutzloses Jagen nach Erwerb und Genuß vor dem Vergehen ohne Wiederkehr. Eine solche dem Lebenszweck nach ziel- und nutzlose Menschheit muß wieder ihrem dem Menschen eigenen Ziel zugeführt werden; der Mensch ist gezwungen, sich für Gott oder für das Absurde, die Sinnlosigkeit zu entscheiden, zwischen dem dem einen, dem wahren Gott zu leistenden Dienst oder der Gefolgschaft gegenüber den offenkundig vergänglichen Götzen.
„Laß mich, o Herr, mein Ende bedenken! Das Maß meiner Tage, wie ist's doch so klein! Laß mich erkennen, wie sehr ich vergänglich! Sieh, spannenlang hast du mein Leben bemessen. Meine Zeit ist vor Dir wie ein Nichts. Nur ein Hauch ist der Mensch, wie fest er auch stehe. Nur ein Schatten, wandelt der Mensch dahin. Um nichts geht sein Lärmen. Er scharrt zusammen und weiß doch nicht, wer es einheimst.“ (Henne/Rösch, AT, Psalm 39 (38), 5 – 7)
e. Die wahre Freiheit: „Libertas praesantissimum“
Aus dem Apostolischen Rundschreiben „Libertas praestantissimum“ Papst Leo XIII. vom 20.6.1888, Quelle: Leo XIII. - Lumen De Caelo. Erweiterte Ausgabe des „Leo XIII. der Lehrer der Welt". Praktische Ausgabe der wichtigsten Rundschreiben Leo XIII. und Pius XI. in deutscher Sprache, herausgegeben von Carl Ulitzka, Päpstlicher Hausprälat, Ratibor, 1934, S. 96-119, zitiert nach www.kathpedia.com, sprachlich überarbeitet; vergl. auch Denzinger/Hünermann, a.a.O., Rdn. 3252:
„Die Freiheit, diese äußerste wertvolle Gabe der Natur, kommt nur den Wesen zu, welche den Gebrauch der Intelligenz oder Vernunft besitzen. Sie verleiht dem Menschen jene Würde, wodurch er sich selbst in der Hand hat bei seinen Entschlüssen, und so Herr über seine eigenen Handlungen wird. Es kommt aber sehr darauf an, wie man sich dieser Würde bedient, weil aus dem Gebrauch der Freiheit die höchsten Güter, aber auch die größten Übel erwachsen. Gewiß steht es in den Menschen Macht, der Vernunft zu gehorchen, das sittlich Gute zu wählen und geraden Wegs sein höchstes Ziel zu verfolgen. Doch kann er auch nach jeder Richtung hin abirren: er kann einem trügerischen Scheingute folgen und so die sittliche Ordnung stören und sich freiwillig ins Verderben stürzen…
Diejenigen besitzen, wie Wir gesagt, also Freiheit, die mit Vernunft und Verstand begabt sind; sie ist, wenn wir ihr Wesen betrachten, nichts anderes als die Fähigkeit, Zweckdienliches zu wählen. Wer nämlich eines unter vielen auswählen kann, der ist Herr seiner Handlungen. Weil nun alles, was wir zur Erreichung eines Zweckes wählen, ein Gut ist, das wir ein nützliches zu nennen pflegen, da ferner jedes Gut seiner Natur nach das Verlangen erregt, so ist die Freiheit eine Fähigkeit des Willens oder vielmehr der Wille selbst, insofern er, wenn er handelt, zu wählen vermag. Niemals jedoch wird der Wille angeregt, wenn nicht die Erkenntnis des Verstandes gleichsam wie eine Fackel ihm voranleuchtet; ein Gut nämlich, wonach der Wille verlangt, kann nur ein Gut sein, insofern es vom Verstande als solches erkannt wird. Und dies um so mehr, als bei jedem Willensakt das Urteil sowohl über die Wahrheit der Güter als auch darüber, welches Gut den anderen vorzuziehen ist, immer der Wahl vorausgeht.
Urteilen ist aber Sache des Verstandes und nicht des Willens, darüber besteht kein Zweifel. Wenn also die Freiheit eine Fähigkeit des Willens ist, der seinem Wesen nach ein Begehren bedeutet, das der Vernunft gehorcht, so folgt daraus, daß auch die Freiheit, wie der Wille selbst, sich nur erstrecken kann auf ein Gut, das vom Verstande erkannt wird. Beide Vermögen sind aber unvollkommen; es kann mithin geschehen, und es geschieht auch oft, daß der Verstand dem Willen ein Gut vorstellt, das keineswegs ein wahres Gut ist, das vielmehr nur den trügerischen Schein des Guten besitzt, nach dem der Wille alsdann verlangt. Sich irren zu können und sich wirklich zu irren ist ein Fehler, der die Unvollkommenheit unseres Verstandes beweist; wenn auch das Verlangen nach einem trügerischen und nur scheinbaren Gute ein Beweis unserer Freiheit ist, wie auch Krank-sein noch ein Beweis des Lebens ist, so ist jenes Verlangen doch ein gewisser Mangel der Freiheit. Dadurch also, daß der Wille vom Verstande abhängig ist, verdirbt er, wenn er etwas der gesunden Vernunft Widersprechendes anstrebt, durch diesen Fehler die Freiheit in der Wurzel und begeht einen Mißbrauch derselben. Aus eben diesem Grunde besitzt Gott, der unendlich Vollkommene, der die höchste Weisheit und die wesenhafte Güte selbst ist, die höchste Freiheit und kann das sittlich Böse in keiner Weise wollen…
Da es sich so mit der menschlichen Freiheit verhält, so mußte sie gestählt werden durch entsprechende Hilfs- und Schutzmittel, durch welche ihre ganze Tätigkeit auf das Gute hin- und vom Bösen abgelenkt werde; widrigenfalls hätte die Willensfreiheit dem Menschen zum großen Schaden gereichen können. Zunächst war also das Gesetz notwendig, jene Regel für das, was zu tun und zu lassen ist; hiervon kann bei jenen Lebewesen keine Rede sein, die mit Notwendigkeit handeln, weil sie bei all ihrem Tun dem Drange der Natur folgen und anders überhaupt sich nicht betätigen können. Die vernünftigen Wesen jedoch haben eben deswegen, weil sie Freiheit besitzen, es in der Gewalt zu handeln oder nicht zu handeln, so oder anders zu handeln; sie wählen ja, was sie wollen und es geht der Wahl jenes Urteil der Vernunft voraus. Dieses Urteil sagt nicht bloß, was der Natur nach sittlich, was unsittlich ist, sondern auch was gut und zu tun ist, sowie was schlecht und zu meiden ist; die Vernunft schreibt nämlich dem Willen vor, wonach er verlangen darf, und was er zu meiden hat, damit der Mensch dereinstens sein letztes Ziel erreichen kann, auf welches alles hingeordnet ist werden muß. Diese Ordnung der Vernunft heiß Gesetz. Der letzte Grund, warum dem Menschen ein Gesetz notwendig ist, liegt mithin in dem freien Willen; unsere Willensentschlüsse sollen nämlich mit der rechten Vernunft im Einklang stehen. Nichts ist deshalb so falsch und so unsinnig, wie die Behauptung, der Mensch dürfe die Fessel des Gesetzes nicht tragen, weil er von Natur aus frei ist. Wenn das wahr wäre, so würde daraus notwendig folgen, zur Freiheit gehöre, daß sie mit der Vernunft nicht zu tun habe; gerade das Gegenteil ist zweifellos richtig: deshalb muß der Mensch durch das Gesetz geleitet werden, weil er von Natur aus frei ist. Auf diese Weise wird das Gesetz für den Menschen ein Führer bei all seinen Handlungen: es lockt ihn zum Guten durch den Lohn, den es verspricht, und schreckt ihn vom Bösen ab durch die Androhung von Strafe.
Ein solches Gesetz ist an erster Stelle das Naturgesetz, welches geschrieben steht und eingegraben ist in die Seele jedes einzelnen Menschen; es ist nämlich die menschliche Vernunft selbst, die das Gute befiehlt und das Böse verbietet.
Diesem Gebote der menschlichen Vernunft kann aber die Bedeutung eines Gesetzes nur zukommen, weil es die Stimme und die Dolmetscherin jener höheren Vernunft ist, der unser Geist und unsere Freiheit zu gehorchen hat. Da die Macht des Gesetzes darin besteht, Pflichten aufzuerlegen und Rechte zu erteilen, so beruht sie ganz auf der Autorität, d.h. in der wahren Gewalt, sowohl Pflichten und Rechte zu bestimmen, als durch Strafe und Lohn den Befehlen die Sanktion zu verleihen. Es ist klar, dies alles könnte beim Menschen nicht geschehen, wenn nicht Gott es wäre, der als oberster Gesetzgeber ihm für seine Handlungen diese Norm gegeben. Daraus folgt, daß das Naturgesetz ein und dasselbe ist wie das ewige Gesetz, welches den vernünftigen Wesen angeboren ist und sie hinlenkt, so zu handeln, wie es dem Ziele des Menschen entspricht; es ist nämlich die ewige Vernunft Gottes selbst, des Schöpfers und Lenkers der ganzen Welt.
Mit dieser Regel für unser Handeln und diesem Zügel gegen die Sünde sind durch Gottes Güte noch einige besondere Schutzmittel verbunden, die sehr geeignet sind, den menschlichen Willen zu kräftigen und zu leiten. Unter diesen ragt an erster Stelle die Macht der göttlichen Gnade hervor; dadurch daß sie den Verstand erleuchtet und den Willen zu heilsamer Standhaftigkeit stählt, so daß dieser stets zum sittlich Guten angetrieben wird, bewirkt sie, daß wir leichter und sicherer den richtigen Gebrauch unserer angeborenen Freiheit machen. Es ist also durchaus falsch, wenn man behauptet, daß durch die Einwirkung Gottes unsere Willensakte weniger frei würden, denn die Kraft der göttlichen Gnade wirkt innerlich im Menschen und zwar ganz entsprechend seiner natürlichen Neigung, da sie von dem Urheber unserer Seele und unserer Freiheit ausgeht, von dem jedes Wesen seiner Natur entsprechend bewegt wird. Ja gerade dadurch, so bemerkt der englische Lehrer, daß die Einwirkung vom Schöpfer der Natur ausgeht, ist sie in wunderbarer Weise wie geschaffen und geeignet, jegliche Natur in ihrem Wesen zu schützen, und deren eigentümliche Handlungsweise, Kraft und Wirksamkeit zu erhalten.
Was hier von der Freiheit des einzelnen Individuums gesagt ist, kann ohne Mühe auf jene angewandt werden, die in gesellschaftlichem Verbande leben. Was nämlich Vernunft und Naturgesetz für die einzelnen Menschen bedeuten, das besorgt in der Gesellschaft das zum Gemeinwohl aller Bürger erlassene menschliche Gesetz.
Einige aus diesen menschlichen Gesetzen beziehen sich auf das, was von Natur aus gut oder böse ist; sie gebieten das eine zu tun und das andere zu lassen und fügen gleichzeitig die notwendige Sanktion (Lohn oder Strafe) hinzu.
Die Quelle dieser Gesetze ist aber keineswegs die menschliche Gesellschaft, denn die Gesellschaft ist nicht der Ursprung der menschlichen Natur, folglich entscheidet sie auch nicht, was der Natur entsprechend d.h. gut, noch was der Natur widersprechend d.h. böse ist. Gut und Böse ist vielmehr früher als die menschliche Gesellschaft und hat seinen Ursprung durchaus nur in dem Naturgesetz und infolge dessen in dem ewigen Gesetz. Die Gebote des Naturgesetzes also besitzen, wenn sie auch unter die menschlichen Gesetze aufgenommen sind, nicht bloß die Bedeutung eines menschlichen Gesetzes, sie sind vielmehr ausgerüstet mit jener viel höheren und erhabenen Gewalt, welche von dem Naturgesetze selbst und dem ewigen Gesetze ausgeht. Und in Bezug auf diese Art Gesetze ist es eben das Amt des bürgerlichen Gesetzgebers, unter Anwendung der allgemeinen Rechtsordnung die Bürger in Gehorsam zu erhalten, die Bösen aber und die unruhigen Elemente zu zügeln, damit sie vom Bösen abgeschreckt und zum Rechten hingelenkt werden, oder dem gesamten Volke doch wenigstens nicht zum Ärgernis und zum Schaden gereichen.
Andere Gesetze der bürgerlichen Obrigkeit aber fließen nicht unmittelbar und zunächst aus dem Naturrecht ab, sondern in weiterem Abstande und indirekt; sie behandeln verschiedene Dinge, für welche die Natur nur im allgemeinen und ohne genauere Detaillierung Sorge getragen hat. So befiehlt z.B. das Naturgesetz, daß die Bürger sorgen müssen für die öffentliche Ruhe und Wohlfahrt; wie viel sie beisteuern müssen, in welcher Weise, was sie zu leisten haben, wird nicht durch das Naturgesetz, sondern durch menschliche Weisheit genauer bestimmt. Hat man nach dem Maßstabe menschlicher Klugheit solche bestimmte Lebensregeln gefunden, und werden dieselben von der gesetzmäßigen Obrigkeit vorgeschrieben, so bilden sie ein menschliches Gesetz im eigentlichen Sinne des Wortes. Dieses Gesetz gebietet, daß alle Bürger zusammenwirken zum gemeinsamen Zweck der Gesellschaft, es verbietet, davon abzuweichen; insofern es nämlich dem Naturgesetze auf dem Fuße folgt und mit ihm im Einklange steht, führt es zum sittlich Guten und schreckt vom Bösen ab. Daraus erkennt jeder, daß die Norm und Regel nicht bloß für die Freiheit des Individuums, sondern auch des Staates und jeglicher menschlicher Gesellschaft unbedingt in dem ewigen Gesetze Gottes beruht. In einer menschlichen Gesellschaft besteht also die wahre Freiheit nicht darin, daß du tun kannst, was dir beliebt, denn daraus würde ja nur die größte Verwirrung und Unordnung entstehen und der Staat zu Grunde gerichtet werden, sondern vielmehr darin, daß du vermittels der bürgerlichen Gesetze desto leichter nach den Geboten des Naturgesetzes zu leben vermagst… Ob die menschliche Freiheit im Individuum oder in der Gesellschaft, ob sie denen, die befehlen, oder in denen, die gehorchen, betrachtet wird, zu ihrem Wesen gehört notwendig, daß sie jener höchsten und ewigen Vernunft unterworfen ist, die nichts anderes ist als die Autorität Gottes, der befiehlt und verbietet. Diese höchst gerechte Gewalt Gottes über die Menschen hebt so wenig die Freiheit auf oder mindert sie, daß sie dieselbe vielmehr schützt und vervollkommnet. Die wahre Vollkommenheit jeglichen Wesens besteht ja darin, daß es nach seinem Ziele strebt und es erreicht; das höchste Ziel aber, das der Mensch in seiner Freiheit anstreben soll, ist Gott…
Wenn man, so oft überhaupt von Freiheit die Rede ist, darunter die gesetzmäßige und sittliche Freiheit verstünde, wie die gesunde Vernunft und unsere Darlegung sie erwiesen haben, würde niemand es wagen, die Kirche zu tadeln. Leider geschieht es, indem man ihr in höchst ungerechter Weise den Vorwurf macht, sie wäre eine Feindin der Freiheit des Einzelnen oder des Staates. Sehr viele folgen dem Beispiele Luzifers, der das gottlose Wort sprach: ‚Ich will nicht dienen’, und streben im Namen der Freiheit eine unsinnige Zügellosigkeit an. Dazu gehören die Anhänger jener so weit verbreiteten und so mächtigen Sekte, die Liberale genannt werden wollen, indem sie ihren Namen von der Freiheit (libertas) herleiten. In der Tat, was die Naturalisten oder Rationalisten in der Philosophie anstreben, das wollen auf dem Gebiete der Moral und des bürgerlichen Lebens die Anhänger des Liberalismus erreichen, indem sie von den Naturalisten aufgestellten Grundsätze in die Moral und das Leben einführen. Die Grundidee des ganzen Rationalismus ist aber die Oberherrlichkeit der menschlichen Vernunft, welche der göttlichen und ewigen Vernunft den Gehorsam verweigert, sich für unabhängig erklärt und sich selbst zum obersten Prinzip, zur Quelle und zum Richter aller Wahrheit aufwirft.
Die genannten Anhänger des Liberalismus erklären also, daß es keine göttliche Gewalt über uns gebe, der wir im Leben zu gehorchen hätten, jeder sei vielmehr sich selbst Gesetz. Daraus ist jene sogenannte unabhängige Lebensanschauung entstanden, welche unter dem Scheine der Freiheit den Willen von der Heilighaltung der Gebote Gottes befreit, dem Menschen aber eine grenzenlose Zügellosigkeit zu gewähren pflegt.
Es ist leicht vorauszusehen, wohin dies alles besonders in der menschlichen Gesellschaft führen muß. Steht einmal die Überzeugung fest, daß der Mensch niemanden untersteht, so folgt von selbst, daß die Ursache, durch welche eine bürgerliche oder staatliche Vereinigung zustande kommt, nicht in einer Macht, die außer oder über dem Menschen steht, zu suchen ist, sondern einzig und allein in dem freien Willen der Einzelnen; dann stammt die öffentliche Gewalt ebenfalls in ihrem letzten Ursprung vom Volke; und da die Vernunft des Einzelnen die einzige Führerin und Norm des Privatlebens ist, so muß folgerichtig die Vernunft der Gesamtheit die Norm für das öffentliche Leben bilden. Infolgedessen hat die größere Masse auch die größere Macht und die Majorität des Volkes ist es, welche die öffentlichen Rechte und Pflichten bestimmt. Aus dem Gesagten folgt, wie unvernünftig dies ist. Es widerspricht absolut der Natur, nicht bloß des Menschen, sondern auch aller anderen Geschöpfe, wenn man kein Band annehmen will, das den einzelnen Menschen oder die bürgerliche Gesellschaft mit Gott dem Schöpfer und somit mit dem höchsten Gesetzgeber aller verknüpft. Denn alle geschaffenen Dinge müssen notwendigerweise mit der Ursache ihres Daseins in irgend einem Zusammenhange stehen; es gehört zum Wesen der Dinge, ja es gereicht zur Vervollkommnung jedes Wesens, die Stelle und Stufe einzunehmen, welche die natürliche Ordnung verlangt: daß nämlich das Niedere dem Höheren unterworfen sei und ihm gehorche.
Außerdem ist jene Lehre für den Einzelnen wie für die Staaten äußerst verhängnisvoll; denn in der Tat, wenn die menschliche Vernunft einzig und allein über Gut und Böse zu entscheiden hat, wird jeder Unterschied zwischen Gut und Böse aufgehoben; es würde das Unsittliche vom Sittlichen sich nicht dem Wesen nach unterscheiden, der Unterschied wäre von der Meinung und dem Urteil des Einzelnen abhängig, was gefiele, wäre auch erlaubt. Diese sittliche Ordnung, die zur Bändigung und Unterdrückung der stürmischen Leidenschaften fast keine Macht besitzt, würde von selbst zu jeglicher Sittenverderbnis führen. Im öffentlichen Leben löst sich alsdann die öffentliche Gewalt los von ihrem wahren und natürlichen Fundamente, auf dem allein ihre ganze Macht der Förderung des Gemeinwohles beruht. Das Gesetz, das zu bestimmen hat, was zu tun und zu lassen ist, ist dann der Willkür der Masse überantwortet, was leicht zur Tyrannei führen kann. Ist einmal die Oberherrlichkeit Gottes über den Menschen und über die menschliche Gesellschaft abgeschafft, so folgt von selbst, daß es öffentlich keine Religion mehr gibt und alles, was auf Religion bezug hat, gänzlich vernachlässigt werden wird. Ebenso wird die Menge, gestützt auf ihre vermeintliche Gewalt, leicht zu Empörung und Aufruhr sich erheben, und sind die Bande der Pflicht und des Gewissens zerrissen, so bleibt nichts als die bloß rohe Gewalt mehr übrig, die aber für sich allein nicht stark genug ist, die Leidenschaft des Volkes zu zügeln…
Es ist gewiß, daß nicht alle Anhänger des Liberalismus diesen Ansichten voll und ganz zustimmen, da sie doch durch ihre Ungeheuerlichkeit Schrecken einflößen und, wie wir gesehen haben, offenbar falsch sind und die Wurzel der allergrößten Übel bilden. Gezwungen durch die Macht der Wahrheit, gestehen manche ein, ja behaupten es mit Nachdruck, das sei eine falsche Freiheit und werde zur Zügellosigkeit, wenn sie es in ihrem Ungestüm wagt, Wahrheit und Gerechtigkeit zu mißachten. Deshalb müsse sie stets von der gesunden Vernunft gelenkt und geleitet werden und müsse sich folgerichtig auch beugen vor dem Naturgesetz und dem ewigen göttlichen Gesetze. Aber hier, glauben sie, müsse man stehen bleiben, und leugnen, daß der freie Mensch sich auch den Gesetzen zu unterworfen habe, die Gott auf eine andere Weise als durch die natürliche Vernunft uns vorschreibe.
Doch in diesen Worten widersprechen sie sich selbst. Denn ist es wahr, was jene auch zugeben, und was von keinem vernünftigerweise geleugnet werden kann, daß wir dem Willen Gottes, des Gesetzgebers, zu gehorchen haben, weil der ganze Mensch in Gottes Gewalt steht und zu Gott hinstrebt. Ist das wahr, so folgt daraus, daß keiner der gesetzgebenden Autorität Gottes Maß und Weise vorschreiben kann, ohne sich gegen den schuldigen Gehorsam zu verfehlen. Ja, wenn der menschliche Geist in seiner Anmaßung so weit geht, daß er selbst bestimmen will, welches und wie groß die Rechte Gottes und welches die Pflichten des Menschen sind, so hat er mehr dem Scheine als der Wirklichkeit nach eine wahre Ehrfurcht vor den göttlichen Gesetzen, und an Stelle der Autorität und Vorsehung Gottes gilt ihm nur noch sein eigener Wille. Als unsere Lebensnorm haben wir mithin in ständiger Ehrerbietigkeit sowohl das ewige Gesetz, als alle jene einzelnen Gebote zu betrachten, die der unendlich weise und allmächtige Gott nach der von ihm gewählten Weise gegeben hat; wir können sie an klaren und unzweifelhaften Merkmalen sicher erkennen. Und dies umso mehr, da jene Art von Gesetzen vollkommen mit unserer Vernunft harmonieren und das Naturgesetz vervollkommnen, da sie mit dem ewigen Gesetz sowohl den Ursprung als auch den Gesetzgeber gemeinsam haben. Diese Gesetze enthalten nämlich eine Belehrung Gottes selbst an uns, der uns gnädig lenkt und leitet, damit nicht unser Geist und Wille auf Abwege gerate. So muß denn heilig und unverletzt vereinigt bleiben, was nicht getrennt werden darf noch kann, und in allem müssen wir, wie die natürliche Vernunft es vorschreibt, Gott gehorsam und zu Diensten ergeben sein.
Etwas gemäßigter sind, aber ebenso widersprechen sich jene, die behaupten, das Leben und die Moral des Privatmannes haben sich nach dem Willen der göttlichen Gesetze zu richten, nicht aber das öffentliche Leben im Staat. Es sei erlaubt, in der Staatsverwaltung von den Geboten Gottes abzuweichen, auch brauche man bei der Gesetzgebung auf sie keinerlei Rücksicht zu nehmen. Daraus ergibt sich jene verhängnisvolle Folgerung, Staat du Kirche seien zu trennen.
Es ist jedoch nicht schwer einzusehen, wie töricht diese Behauptung ist. Die Natur selbst belehrt uns, daß der Staat den Bürgern die Mittel und Wege darbieten muß zu einem sittlichen Leben, d.h. zu einem Leben nach Gottes Gesetzen, weil Gott der Ursprung aller Sittlichkeit und Gerechtigkeit ist; es ist demnach der größte Widerspruch, zu behaupten, der Staat habe sich um diese Gesetze nicht zu kümmern, oder er dürfe sogar gegen sie etwas bestimmen.
Außerdem hat die staatliche Regierung die Pflicht, nicht bloß für die äußere Wohlfahrt und äußeren Angelegenheiten, sondern ganz besonders durch weise Gesetzgebung für die geistigen Güter Sorge zu tragen. Wir können uns aber nichts denken, was so sehr geeignet ist, diese Güter zu fördern als jene Gesetze, welche Gott zum Urheber haben; deshalb mißbrauchen jene, die bei der Staatsleitung keine Rücksicht auf die göttlichen Gesetze nehmen, die politische Macht entgegen ihrer Bestimmung und gegen das Gebot der Natur. Aber, wie Wir schon des öfteren erwähnt haben, noch wichtiger ist es, daß die staatliche Gewalt und die geistliche zuweilen einander entgegenkommen müssen, obgleich die staatliche Gewalt nicht dasselbe nächste Ziel im Auge haben noch dieselben Wege einschlagen kann, wie die geistliche. Sie besitzen nämlich beide Gewalt über dieselben Untertanen, und nicht selten müssen sie beide über dieselbe Sache bestimmen, wenngleich nicht in derselben Weise. So oft dieses stattfindet, muß es, da ein berechtigter Widerspruch nicht möglich ist und dem allweisen Willen Gottes offenkundig zuwiderläuft, eine bestimmte Regel geben, durch welche die Ursache des Konfliktes und Zwiespaltes aufgehoben und ein einmütiges Vorgehen in diesen Sachen erzielt wird. Nicht mit Unrecht kann man diese Vereinigung vergleichen mit jener, welche zwischen Leib und Seele besteht und beiden zum Segen gereicht; die Trennung ist namentlich für den Leib gefährlich, denn sie raubt ihm das Leben. Um dies noch besser zu erkennen, müssen wir die verschiedenen Auswüchse der Freiheit, wie sie als Forderungen unserer Zeit genannt werden, im einzelnen genauer betrachten.
Richten wir zuerst unser Augenmerk auf das, was für die Einzelnen verlangt wird und was so sehr der Tugend der Religion widerstreitet, nämlich auf die sogenannte Kultusfreiheit. Sie besteht in ihrem innersten Wesen darin, daß es einem jedem überlassen bleibe, eine beliebige Religion oder auch gar keine zu bekennen. Und dennoch gibt es unter allen Pflichten des Menschen keine, die so erhaben und so heilig ist, wie die Pflicht, die uns Frömmigkeit und Gottesverehrung gebietet. Es folgt dies notwendig daraus, daß wir stets in der Gewalt Gottes sind, durch Gottes Willen und Vorsehung geleitet werden und zu ihm zurückkehren müssen, von dem wir ausgegangen sind.
Dazu kommt, daß es keine wahre Tugend ohne Religion geben kann. Die Religion ist nämlich eine sittliche Tugend, welche jene Pflichten umfaßt, die sich auf das beziehen, was uns zu Gott hinführt, insofern er das höchste und letzte Gut ist; deshalb ist die Religion, ‚welche sich in dem betätigt, was direkt und unmittelbar auf die Ehre Gottes gerichtet ist’ (Thomas Summa Theol. II. II. q. 81. a. 6), die Fürstin und Leiterin aller Tugenden. Wenn aber die Frage aufgeworfen wird, welcher von den vielen und sich widerstreitenden Religionen wir zu folgen haben, so antworten Vernunft und Natur: jene, die Gott vorgeschrieben hat. Die Menschen können sie an gewissen äußern Merkmalen erkennen, mit denen die Vorsehung Gottes sie ausgezeichnet hat, da ein Irrtum im einer so wichtigen Sache von den schlimmsten Folgen sein müßte. Jene Freiheit also, von der Wir hier reden, würde dem Menschen das Recht zugestehen, die heiligste Pflicht ungestraft zu verletzten und zu vergessen. Wir sagten schon, daß dies keine Freiheit ist, sondern das Verderben der Freiheit und die Knechtschaft des Geistes, der unter die Gewalt der Sünde geraten ist. Wird diese Freiheit betrachtet, wie sie sich im Staatsleben darstellt, so behauptet sie, der Staat habe keinerlei Grund, Gott zu verehren und öffentliche Gottesverehrung zu wünschen; kein Kultus dürfe dem andern vorgezogen werden, alle seien gleichberechtigt anzusehen; auch sei auf das Volk keine Rücksicht zu nehmen, selbst da nicht, wo das Volk sich zur katholischen Religion bekennt. Dies könnte nur der Fall sein, wenn es wahr wäre, daß die bürgerliche Gesellschaft keine Pflichten gegen Gott besäße oder dieselben ungestraft verletzen könnte. Beides ist offenbar falsch; denn es kann nicht bezweifelt werden, daß die bürgerliche Gesellschaft durch Gottes Willen entstanden ist, mag man ihre Bestandteile, oder ihre Form, d.h. die Autorität, oder ihre Ursache oder endlich den großen Nutzen betrachten, den sie in reichem Maße den Menschen darbietet. Gott schuf den Menschen als gesellschaftliches Wesen und stellte ihn unter seinesgleichen, damit er das, was seine Natur verlangt, er aber allein nicht erlangen kann, in Gemeinschaft mit anderen sich erwerbe. Deshalb muß die bürgerliche Gesellschaft als Gesellschaft Gott als ihren Vater und Urheber anerkennen und sich seiner Macht und Oberherrlichkeit in Ehrfurcht unterwerfen. Ein gottloser Staat oder, was schließlich auf Gottesleugnung hinausläuft, ein Staat, der, wie man sagt, gegen alle Religionen gleichmäßig wohlwollend gesinnt ist und allen ohne Unterschied die gleichen Rechte zuerkennt, versündigt sich gegen die Gerechtigkeit wie gegen die gesunde Vernunft.
Da im Staate notwendigerweise Einheit im religiösen Bekenntnis bestehen muß, so hat er sich zu der Religion zu bekennen, welche die einzig wahre ist; diese ist, namentlich in katholischen Staaten, nicht schwer zu erkennen, da an ihr die Merkmale der Wahrheit hervorleuchten. Diejenigen, die an der Spitze des Staates stehen, müssen demnach diese Religion erhalten und beschützen, wenn sie denn in kluger und nützlicher Weise das Wohl aller Bürger, wie es ihre Pflicht ist, fördern wollen. Die öffentliche Gewalt ist zum Wohle der Untertanen eingesetzt: und wenn sie auch zunächst die Aufgabe hat, die Bürger der irdischen Wohlfahrt des Lebens entgegenzuführen, so soll sie doch nicht die Erlangung jenes höchsten und letzten Gutes, in dessen Besitz die ewige Seligkeit des Menschen besteht, erschweren, sondern erleichtern; das könnte sie aber nicht, wenn sie die Religion vernachlässigen...“
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