Hoffnung tanken
von Eberhard Heller
Ich erinnere mich an einen Film, den ich vor Jahren einmal gesehen habe - den Titel habe ich vergessen - , der von einem jungen Mann handelte, der straffällig geworden war. Durch einen älteren Bekannten, der der Familie des jungen Mannes nahestand, wurde dieser nicht nur auf das Unrechtmäßige seines Tuns aufmerksam gemacht, sondern auch zu dem Entschluß geführt, das begangene Unrecht wieder gutzumachen und sich den Behörden zu stellen. Doch von diesem Schritt riet der Mentor zunächst ab. Erst solle der junge Mann einmal ein offenes, vertrauensvolles Verhältnis zu seiner Freundin aufbauen, die ihn in seinem Vorhaben der Wiedergutmachung unterstützte, ebenso zu seinen Eltern, welches ihm die Kraft geben sollte, die Demütigungen und die Pein, die ihn im Gefängnis erwarten würden, durchzustehen.
Wir sind nicht straffällig geworden, uns erwartet auch nicht die Beschämung, in Unfreiheit leben zu müssen. Aber wir durchleben in der Vereinzelung, in der Diaspora eine Zeit der menschlichen und geistigen Dürre, in der wir einen solchen Rat, nämlich Hoffnung zu tanken, mit allen Kräften umsetzen sollten.
Viele Christen, besonders jene, die fast ausschließlich und einseitig ihr Augenmerk auf das alltägliche Böse, auf die Greueltaten in aller Welt, auf das Elend der Menschen richten und sich in dieses Jammertal mit verschließen, laufen häufig Gefahr, das Christentum auf die Probleme von Schuld und Sühne, auf das Drama unseres Herren am Kreuz einzuengen, zu verkürzen. Die Furcht vor den Höllenstrafen wird zum dominierenden Fokus ihres Lebens. Auf ihn fixieren sich alle Anstrengungen.
Aber es geht im Christentum in erster Linie nicht darum, die Hölle zu vermeiden, sondern darum, das Leben zu gewinnen. Auf den Karfreitag folgt Ostern, folgt die herrliche Auferstehung von den Toten und zugleich die Überwindung des Bösen durch Christi Sühnopfer. "Er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Kirche. Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten. So sollte Er in allem den Vorrang haben; denn es gefiel Gott, in Ihm die ganze Fülle wohnen zu lassen und durch Ihn alles wieder mit Sich zu versöhnen, alles auf Erden und alles im Himmel, indem Er durch das an Seinem Kreuz vergossene Blut Frieden stiftete". (Col. 1, 18-20) Durch die Überwindung des Todes sind wir zu neuem Leben aufgerufen. Und dieser Aufruf gilt durch alle nach-christlichen Jahrhunderte, in allen Situationen des Lebens. Dieses Sühnopfer ist die Basis, von der aus wir uns immer wieder in Demut zu Gott, dem Vater, erheben können.
Aber zuvor feiert die Christenheit die Geburt des Herrn. Gott wird Mensch. Um das Verständnis dieses großen Wunders haben die Christen in den ersten Jahrhunderten hart gerungen. Mit Christi Geburt ist die Zeit der "Fülle" angebrochen. Wir sind also gehalten, das ganze Christentum anzunehmen und durch dieses Geschenk der göttlichen Güte unser Leben zu gestalten. D.h. auf der einen Seite die Erfahrung der göttlichen Liebe, so wie sie uns Christus geschenkt und vorgelebt hat, wie sie in den Evangelien aufleuchtet, selbst anzunehmen und sie in der Beziehung zu Gott und zu unseren Mitmenschen umzusetzen. Zum anderen sollen wir im Wissen um seine Überliebe, seine Sühneliebe, wenn wir gegen Gott und unsere Nächsten gefehlt haben, uns in Demut beugen und die Früchte dieses Opfers annehmen.
Wir tanken Hoffnung, wenn wir uns auf die Güte Gottes beziehen und auf seine Barmherzigkeit vertrauen. Eine solche Erfahrung können wir u.a. gewinnen, wenn wir uns ins Gebet und/oder in die Hl. Schrift vertiefen, sie meditieren, um vielleicht so die Gewißheit zu erlangen, daß wir gehalten werden, auch wenn wir vermeinen, in den Realitäten des Alltags unterzugehen. Und gerade dann, wenn wir meinen, die Bitterkeiten könnten uns niederwerfen, dann sollten wir Gott in die Arme fallen, uns direkt an Ihn wenden.
Des weiteren sollten wir aber mittelbar Kraft schöpfen aus der Beschäftigung mit den Zeugen des Christentums, mit seiner Wissenschaft, seinen Schriften, seinen Dichtungen, seiner darstellenden Kunst, seiner Musik, der Architektur, besonders der kirchlichen Baukunst.
Welche Ruhe verströmen z.B. die gregorianischen Gesänge, welche Vorstellung von Kraft und Souverainität vermitteln romanische Kirchen. Welche Geborgenheit gewähren nicht Landschaften, die durch und durch von der christlichen Kultur geprägt sind. Ich denke da an meine oberbayerische Heimat, an Südtirol, wo jeder Gipfel schließlich von einem Kreuz gekrönt ist: christliche Siegeszeichen. Wir müssen uns unserer Vergangenheit voller geistlicher Höhepunkte bewußt werden, um daraus Kraft für die nicht so christliche Gegenwart zu schöpfen. Aus der Gesichertheit der christlichen Tradition, einer Vergangenheit, die ihr geistiges Ringen in vielen Zeugnissen manifestiert hat, können wir Hoffnung und Zuversicht schöpfen für eine Zukunft, die uns vielfach mit blinden Augen entgegentritt.
Wir leben in der Diaspora, d.h. in der Vereinzelung, meist ohne Priester, häufig auch ohne die Beziehung zu einem Mit-Gläubigen. Das ist wahr, bitter wahr. Aber es ist auch wahr, daß wir in Beziehung leben können zur siegreichen Kirche, zu den Heiligen im Himmel, deren Unterstützung und Hilfe wir erbitten sollen. Wir können Hoffnung sammeln und "tanken." Wir müssen eben lernen, geistig "selbständig zu laufen", ohne klerikalen Rockzipfel; laufen lernen wie ein Kind: Zuerst mit Hilfe einer Person, der man sich mit seinen Nöten anvertrauen kann... und irgendwann merkt man, daß wir von Gott selbst gelenkt und getragen werden. Aber wir müssen unseren Geist öffnen, um all die Botschaften der Zuversicht und des Trostes zu empfangen; denn "Himmel und Erde sind erfüllt von [Gottes] Herrlichkeit" (Sanctus), da "das Wort ist Fleisch geworden [ist] und (...) unter uns gewohnt [hat]. Und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater, voll der Gnade und Wahrheit." (Joh. 1,14)
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, verehrte Leser eine gnadenhafte Adventszeit und ein frohes Fest in der Freude der Geburt Unseres Herrn. |