"Die alte römische Liturgie hat
der europäischen Kunst ihr eigentliches Wesen mitgeteilt:
Dass sie ein Akt der Verwandlung und Fleischwerdung war"
Die Liturgie ist das öffentliche Gebet der Christen, die eigentliche
Aufgabe der Kirche: für die ganze Welt das Opfer Christi darzubringen.
Aus den Tagen der Apostel in den ersten Jahrhunderten ist diese
Tradition in der römischen Kirche fast unverändert und unbeeinträchtigt
in unsere Gegenwart gelangt, bis sie, als eine der Auswirkungen der
Welt-Kulturrevolution von 1968, fast ganz zerstört wurde. (...) Von
Anfang an mussten in der Liturgie ja die drei Sprachen auf jenem Schild
des Pilatus vorkommen, auf dem Jesus am Kreuz lateinisch, griechisch
und hebräisch "König der Juden" genannt wurde. In Restformen wie dem
hebräisehen "Halleluja" oder "Amen" bis zu dem griechischen "Kyrie
eleison" hat sich das manchmal noch gehalten. Aber die alte Weltsprache
Latein wurde eliminiert. Es war das Latein des heiligen Hieronymus, das
so eigentümlich naiv und primitiv klingt, weil es der ehrfürchtige
Versuch eines sonst sehr geschliffen schreibenden Mannes war, die
Sprache der Juden im Lateinischen nachzubilden. Dieses Latein des
Hieronymus wurde danach gleichsam zur Mutter aller romanischen
Sprachen. Ein großer kultureller Verlust, aber eben noch nicht der
wichtigste. Denn die alte römische Liturgie hat der europäischen Kunst
ihr eigentliches Wesen mitgeteilt: Daß sie ein Akt der Verwandlung und
Fleischwerdung war. Dadurch hat sie der europäischen Kunst ihren von
jeder anderen Kunst geschiedenen Anspruch geschenkt, aus Unbelebtem
Leben zu schaffen. Dieser Wille der Maler und Bildhauer, die Materie
wirklich zu durchdringen und zu übernatür-lichem Leben zu erwecken,
stammt aus der römischen Liturgie und deren Botschaft: Die
gegenständliche Welt ist kein Schein, sie ist kein "Schleier der Maja",
sondern in dieser Materie findet das Heil statt. Das ist die Grundlage
für die schöpferische Energie Europas geworden. Es war das unbedingte
Ernstnehmen der geschaffenen Welt.
(Martin Mosebach in einem Interview, welches er der Zeitung DIE WELT vom 21.12.2002 gab) |