Die Synode von Pistoia und ihre Verurteilung durch Pius VI.
von Eberhard Heller
Die Ideen, die sich in den Beschlüssen des II. Vatikanums und den auf ihm aufbauenden Reformen durchsetzten, kamen für den überwiegenden Teil der Gläubigen nur deswegen so unvermittelt und überraschend vor, weil man wegen der Wachsamkeit der letzten Päpste - angefangen bei Pius IX. über Leo XIII. und Pius X. bis Pius XII. - auf ein solches Hereinbrechen von umstürzlerischen Konzepten nicht vorbereitet war, zumal davon nicht nur Teile, sondern die Gesamtkirche betroffen war.
Doch so neu, wie diese Ideen schienen, waren sie nicht. Vieles von dem, was sich unter dem Schlagwort des "Aggiornamentos" verbarg und sich gut als Erneuerung der Kirche verkaufen ließ, als notwendige Reformen, mit denen man vorgeblich den Herausforderungen der modernen Welt begegnen wollte, hatte seine Vorläufer, besonders in den Vorhaben Kaiser Josephs II. Dieser wollte zusammen mit seinem Bruder, dem Großherzog Leopold II. von Toskana die Vorstellungen eines Staatskirchentums - bekannt geworden als "Josephinismus" (benannt nach seinem Urheber) - im Reich durchsetzen. Das bedeutete die konsequente Unterordnung gesellschaftlicher Angelegenheiten unter die staatliche österreichische Verwaltung nach den Prinzipien des aufgeklärten Absolutismus, wovon auch die Kirche betroffen war. Religiöse Vereine und Veranstaltungen, auch Orden, wurden staatlichen Nützlichkeitserwägungen unterworfen, da Joseph II. die Kirche als Teil der hoheitlichen Daseinsvorsorge ansah. Für nichtkatholische Religionen wurde "Toleranz" bewilligt. 1)
Bereits 1782 war deshalb Papst Pius VI. als "peregrinus apostolicus" (als "apostolischer Pilger") nach Wien gereist, um den Kaiser, der ja zugleich "Protector Ecclesiae" war, umzustimmen, was ihm nicht gelang, weil Joseph II. ihm bei dem Versuch, ihn zur Rede zu stellen, immer geschickt ausweichen konnte. Wegen der Beschneidung kirchlicher Rechte und Kompetenzen waren auch Überlegungen angestellt worden - unterstützt von Kard. Graf von Migazzi -, den Kaiser zu exkommunizieren.
Großherzog Leopold II. von Toskana fand in dem Bischof von Pistoia, Scipione de Ricci, einen überzeugten Mitstreiter für die Durchsetzung dieser staatskirchlichen Pläne. In der 1786 einberufenen Diözesan-Synode - bekannt geworden als die Synode von Pistoia - wurden schließlich all jene häretischen oder der Häresie verdächtigen Sätze formuliert, die teilweise im II. Vatikanum wieder auftauchten und dessen Reformbeschlüsse beeinflußten.
Die damalige konsequente Umsetzung der Synoden-Beschlüsse von Pistoia stieß nicht nur bei dem gläubigen Volk auf heftigen Widerstand, sondern fand auch in der Bulle "Auctorem fidei" Pius VI. von 1794 ihre lehramtliche Verurteilung, die mit vollster apostolischer Autorität und sehr ausführlich in 85 Sätzen dargestellt wurde. Sie wandte sich u.a. sehr ausführlich gegen die vom Josephinismus inspirierten Beschlüsse der Synode. 2)
Sieht man einmal von der zeitbedingten Wirkung ab, die die Bulle für die Neu- und Umgestaltung des religiösen Lebens in der Toskana bewirkte, so liegt uns in "Auctorem fidei" ein Dokument vor, von dem aus und mit dem wir eine ganze Reihe von bereits verurteilten Konzilsbeschlüssen zurückweisen können. Eine der Hauptquellen, auf die sich unser verstorbener Mitarbeiter H.H. Dr. Otto Katzer bei seiner Kritik am II. Vatikanum berief, war eben jene Bulle Pius VI.
Um zu verstehen, was damals vorgefallen war und wie wir dieses Geschehen auf unsere Situation anwenden können, sollen zunächst die theologischen Vorstellungen von Bischof Ricci und seine Hinwendung zu bereits verurteilter Positionen seiner Zeit - Febronianismus 3), Jansenismus 4) -aufgezeigt werden, aber auch die Bestrebungen Pius VI., diese umstürzlerischen Ideen durch seine päpstliche Lehrautorität zu unterbinden, was nicht nur für die damalige Zeit, sondern auch für die heutigen Reformen gilt.
Wer war dieser Scipione Ricci, der mit Unterstützung des Großherzoges Leopold II. von Toskana, eine Synode einberufen konnte, deren Durchführungsbestimmungen spontan den Zorn des gläubigen Volkes hervorrief? Ricci - * 9.1. 1741 in Rignana bei Florenz, † 27.1. 1810 - entstammte einer alteingesessenen Adelsfamilie. Bereits als Fünfzehnjähriger studierte er am Collegio Romano. Anfangs trug er sich mit dem Gedanken, in den seit 1758 von seinem Onkel Lorenzo Ricci geführten Jesuitenorden einzutreten, gab diese Absicht aber bald wieder auf, als er in den römischen Jansenistenkreisen zu verkehren begann. Nach einem Studienaufenthalt an der Universität Pisa kehrte er nach Florenz zurück und beendete sein Theologiestudium bei Benediktinermönchen, die ihn erneut mit jansenistischem Gedankengut in Berührung brachten. 1766 zum Priester geweiht, avancierte Ricci rasch zum Kanoniker am Florentiner Dom und Auditor des päpstlichen Nuntius in der Toskana. Während der folgenden Jahre befaßte er sich neben seinen Amtspflichten intensiv mit der Hl. Schrift und der Geschichte der Kirche. Aus dieser Beschäftigung erwuchs eine kritische Haltung gegenüber der historischen Gestalt der römischen Kirche, die durch Kontakte zu französischen Jansenisten und Vertretern der schismatischen Kirche von Utrecht noch verstärkt wurde.
Die ersehnte Gelegenheit zur Umsetzung seiner neugewonnenen Überzeugungen eröffnete sich ihm 1775, als er zum Generalvikar des Florentiner Erzbischofs ernannt wurde. Ohne Rücksichtnahme auf Althergebrachtes ließ Ricci den Katechismus Robert Bellarmins durch den jansenistisch beeinflußten und von Rom bereits verurteilten Katechismus von Montpellier ersetzen, begünstigte jansenistische Schriften und versuchte Appellationen an die Kurie möglichst zu unterbinden. Dieser Reformeifer prädestinierte Ricci in den Augen des Großherzogs Leopold II. von Toskana, der bereits 1773 auf ihn aufmerksam geworden war, für höhere kirchliche Würden. Bereits 1778 schlug der Habsburger Riccis Ernennung zum Erzbischof von Pisa vor, allerdings ohne Erfolg. Als im Jahr 1780 der Bischofsstuhl von Pistoia-Prato vakant wurde, unternahm Leopold einen zweiten Anlauf und konnte schließlich die Zustimmung des Hl. Stuhls zur Person Riccis erwirken.
Noch im selben Jahr in sein Bistum eingeführt, setzte Ricci - in enger und steter Abstimmung mit dem Großherzog - umgehend eine tiefgreifende Neugestaltung des kirchlichen Lebens ins Werk. Sein besonderes Augenmerk galt zunächst der von den Jesuiten geförderten Herz-Jesu-Verehrung, die er in einem Hirtenbrief vom 3.6. 1781 als »Fetischismus« bezeichnete und gänzlich zu unterdrücken trachtete. Darüberhinaus ging er gegen die Bettelorden vor, die er ungeachtet des anfäng-lichen, nach der Intervention Leopolds aber bald ausgeräumten Widerstands Papst Pius' VI. seiner bischöflichen Jurisdiktion unterstellte. Wo sich entsprechende Handhaben boten, wurden einzelne Konvente der Mendikanten auch aufgelöst. Außerdem reduzierte Ricci in Pistoia die Zahl der Pfarreien drastisch und hob bei dieser Gelegenheit auch die religiösen Bruderschaften auf. Begleitet wurden diese einschneidenden Maßnahmen, die die Bevölkerung zum Teil mit Protesten quittierte, von umfassenden Anstrengungen zur Verbreitung jansenistischen Schrifttums und zur Erziehung des Priesternachwuchses im neuen Geist.
Um den Reformprozeß zu festigen und zu institutionalisieren, berief Ricci Ende Juli 1786 im Einklang mit dem Großherzog für den 18.9.1786 eine Diözesansynode nach Pistoia ein. 5) An ihr nahmen zahlreiche, überwiegend jansenistische Theologen sowie etwa 260 Pfarrer, Kapläne und Kanoniker teil. Während der ganzen Dauer der Versammlung war auch Leopold, dem Ricci täglich Bericht erstattete, in Pistoia anwesend. In mehreren Sitzungen wurden vor allem Fragen der Pastoral und der Kirchendisziplin, nicht jedoch des Dogmas, erörtert und schließlich in Form von Dekreten beschlossen.
Das erste Dekret (Decretum de fide et ecclesia) erklärte, dass die römisch-katholische Kirche kein Recht habe, neue Dogmen einzuführen, sondern nur für die Erhaltung des Glaubens in seiner ursprünglichen Reinheit zu sorgen, so wie er einmal von Christus zu seinen Aposteln überliefert wurde, und er ist nur insoweit unfehlbar, als er den Aussagen der Heiligen Schrift und der Tradition entspricht. Die Kirche sei im übrigen ein rein geistiger Leib und habe keine Autorität in säkularen Angelegenheiten. Andere Verfügungen verurteilten den Missbrauch des Ablasses, von Festen der Heiligen und der Prozessionen. Ein weiteres Dekret plädierte für die Einführung der Volkssprache in der Liturgie.
Dabei fand das Reformprogramm Riccis, etwa die Verurteilung der Herz-Jesu-Verehrung oder die Erlaubnis zur Feier der Messe in der Volkssprache, die mehrheitliche Zustimmung der Teilnehmer. Derart gestärkt, führte Ricci seine Reformen auch in den nächsten Jahren weiter. Doch zeigte sich im Laufe der Zeit immer heftigerer Widerstand gegen sein Vorgehen. Bereits am 23.4.1787 hatte eine als Vorbereitung für ein toskanisches Nationalkonzil gedachte Generalversammlung des Episkopats in Florenz gegen die Stimmen Riccis und weniger Gleichgesinnter das Vorhaben einer umfassenden Neugestaltung der kirchlichen Verhältnisse in der Toskana abgelehnt und damit gleichzeitig Großherzog Leopold zu einer Mäßigung seiner eigenen Kirchenpolitik gezwungen.
Am Ende wurden die Dekrete von Pistoia nur noch von einer Minderheit von nur drei unterstützt. Außerdem häuften sich die Proteste der Bevölkerung, die sich bis zu regelrechten lokalen Aufständen steigern konnten. Als Leopold 1790 die Toskana verließ, um seinem verstorbenen Bruder Joseph II. auf dem Kaiserthron nachzufolgen, kam es zu Unruhen, die Ricci schließlich zur Flucht aus seinem Bistum zwangen. Eingedenk seiner Machtlosigkeit resignierte er nur ein Jahr später, am 3.6.1791, auf die Bischofswürde und zog sich in das Privatleben zurück. Mit der offiziellen Verurteilung der Dekrete von Pistoia durch die Bulle »Auctorem fidei«, die Papst Pius VI. am 28.8. 1794 publizierte, setzten schließlich Versuche von verschiedenen Seiten ein, Ricci zur Abkehr von seinen Anschauungen zu bewegen. Insbesondere der Erzbischof von Florenz, Antonio Martini, suchte ihn zu einer öffentlichen Anerkennung der römischen Lehre zu bewegen. Eine erste diesbezügliche Erklärung Riccis von 1799 wurde allerdings als ungenügend erachtet. Erst nachdem der neue Papst Pius VII aus Paris im Jahre 1805 nach Rom zurückgehehrt war, unterzeichnete Ricci eine Unterwerfung, die den Wünschen des Vatikans entsprach.
(nach Biographisch-Bibliographisches Lexikon, Verlag Traugott Bautz, Band VIII (1994) Spalten 185-190 Autor: Michael Schaich)
Anmerkungen: 1) Auch in Fragen der Religion galten die Prinzipien der Autorität, des Zentralismus und der Toleranz. "Alles für das Volk, nichts durch das Volk." Sogar für päpstliche Rechtsetzung galt das "Plazet" des Kaisers für konstitutiv. In seinem Toleranzpatent (1781) wurde die Alleinstellung der katholischen Kirche gebrochen – Protestanten und Juden durften ihren Glauben ausüben, allerdings nur unter Duldung; ein gewisser Vorrang der Katholischen Kirche blieb aufrechterhalten. Alle Orden, die im wirtschaftlich Sinne "unproduktiv" waren, also keine Krankenpflege, Schulen oder andere soziale Aktivitäten betrieben, wurden aufgehoben, ihr Besitz verstaatlicht. Dies führte dazu, dass viele kontemplative geschlossen wurden. Aus dem Erlös der Aufhebungen wurde der bis ins 20. Jahrhundert bestehende Religionsfonds gegründet, der die Besoldung der Priester übernahm, die auf diese Weise zu Staatsbeamten wurden. Auch viele Feiertage und Kirchenfeste (sowie Wallfahrten, Prozessionen u. Ä.) wurden abgeschafft – hauptsächlich um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Auch in die Texte der liturgischen Bücher regierte Josph II. hinein. Andererseits wurde auf Initiative des Kaisers die Verwaltungsstruktur der katholischen Kirche in Österreich rationalisiert. Pfarrsprengel wurden verkleinert, neue Diözesen wurden gegründet und bestehende mit den Grenzen der Kronländer in Deckung gebracht. Auswirkungen des Josephinismus sind bis heute darin zu bemerken, dass die Kirche in Österreich, über alle Systemwechsel hinweg, eher "staatsnah" agiert und wenig Aufmerksamkeit für die kontemplative Seite der Religion entwickelt. Aus Österreich stammen in der Neuzeit nur wenige bedeutende Theologen oder gar Heilige. 2) Die wesentlichen Grundaussagen sind bei Denzinger-Hünermann (Nr. 2600-2700) zusammengefaßt. 3) Febronianismus ein kirchenreformatorisches Programm der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; benannt nach dem Pseudonym Justinus Febronius des Trierer Weihbischofs J. N. von Hontheim. Er entwickelte auf der Grundlage eines entschiedenen Episkopalismus nach dem Vorbild des Gallikanismus den Plan einer von Rom unabhängigen, die katholischen und protestantischen Christen vereinigenden Nationalkirche. Sein Hauptwerk „De statu ecclesiae et legitima potestate Romani Pontificis“ 1763-1773 hatte trotz Indizierung größten Einfluss auf das Staatskirchenrecht vieler Länder. 4) Der Jansenismus, benannt nach dem Bischof Cornelius Jansen (1585–1638), der in seiner nach seinem Tode 1640 veröffentlichten Schrift Augustinus auf die Heilslehre des Augustinus zurückgreift, ist eine Bewegung in der katholischen Kirche des 17./18. Jahrhunderts. Von seiten der kirchlichen Lehrmeinung wurden verschiedene Ansätze des Jansenismus als Irrlehre verworfen. Über der Frage, wie die Erlösung des Menschen zustande kommt, war im 16. Jahrhundert die Reformation entbrannt. Die Jansenisten teilten hier mit den meisten Evangelischen eine moderne Interpretation der altkirchlichen Sicht Augustins: der Mensch habe keinen eigenen Einfluss auf seine Erlösung – auch nicht durch Mitwirkung in der göttlichen Gnade, wie die mittelalterliche Scholastik lehrte –, sondern er sei dem göttlichen Gnadenwillen ausgeliefert. Schon Pius V. verurteilte mit der Bulle Ex omnibus afflictionibus vom 1. Oktober 1567 die Lehren des Michel de Bay (Baius), einen Vorläufer des Jansenismus (DH 1901–1980). Verurteilt wurde u.a. der Satz „Durch die Zerknirschung wird die Sünde nicht zurückgenommen“. [DH 1971: Per contritionem … non remittitur crimen.] Durch die beiden päpstlichen Bullen In eminenti (1643) und Cum occasione (1653) verschärfte sich die Situation der Jansenisten in Frankreich, da die jansenistische Überzeugung durch den Papst darin als Häresie verurteilt wird. 5) Vgl. dazu auch u.a. André F. Hagemann: "Die Synode von Pistoia" Düsseldorf 1996, Institut für Kirchengeschichte. |