Gott 'ließ den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde werden.' (2 Cor. 5,21) - Nachösterliche Betrachtungen -
von Eberhard Heller
Die Osterrufe "Christus ist erstanden" sind verklungen, wir gehen bereits auf das Pfingstfest zu, dem Geburtstag der Kirche. Am zweiten Sonntag nach Ostern, dem "Guten-Hirten-Sonntag" erfahren wir im Evangelium von Christus, warum er für uns gestorben ist, um uns dadurch zu erlösen: "Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben für seine Schafe." (Jo. 10,11) Und er wiederholt diese Aussage und erläutert sie: "Ich bin der gute Hirt, ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich. So wie mich der Vater kennt und wie ich den Vater kenne. Ich gebe mein Leben hin für die Schafe." (Joh. 10,14 f.)
Er hat sein Leben auf Golgatha hingegeben, um uns zu retten, damit wir leben, damit wir wieder geistiges Leben in uns haben. Es war die Rettung vom Tod der Sünde. So wie durch die Sünde der Tod in die Welt kam, so kam das Leben zurück durch die Überwindung der Sünde, dadurch, daß Christus sie für uns sühnte.
Jenes Geschehen in Jerusalem, als der Hohe Priester Kaiphas den Gott-Menschen, der seine Gottessohnschaft bestätigt hatte, der Gotteslästerung bezichtigte und ihn dem Tode überliefert hatte (vgl. Matth. 26,63-66), war der große Moment der Wende im Heilsgeschehen. Es war ein Augenblick des furchtbaren Erschauerns. Sollte die Infamie, die Hybris, über die lebendige Wahrheit siegen, die wenig später am Kreuz ihr Leben aushauchte? Von diesem Geschehen in der liturgischen Überhöhung durch die Kirche schreibt Maxime Gimenez: "Mit der Vesper der Grablegung und der Frühmette des Karsamstags, (...) nähern wir uns dem eigentlichen Mittelpunkt von Christi Passahfest. An diesem unfassbaren Kreuzungspunkt der menschlichen Zeit mit der göttlichen Ewigkeit, an dem sich die Gnade wie ein Jungbrunnen der alternden Sünde bemächtigt, wird sich der Lauf der Geschichte endgültig umkehren. Alles ist vollbracht, alles ist erfüllt. Es scheint, dass der Tod seine Macht der Verwüstung bis zur Neige ausgekostet, der Hass triumphiert und die Verdammung das letzte Wort gehabt haben. Hinter dem Schweigen, welches sich mit der anbrechenden Nacht über die Erde legt, verbirgt sich jedoch der Schrei des endgültigen Sieges des Lebens über den Tod. Es ist ein Schweigen voll des göttlichen Schauers, ein Harren auf den ersten Morgen einer neuen Schöpfung." (P. Maxime Gimenez "Karfreitagsvesper und Karsamstagmatutin" Texterklärung zur CD, Chevetogne 1990, CHR 77155)
Was war geschehen? Durch all die Schmähungen, die Martern, die den Kreuzestod begleiteten, in dem unfaßbaren Leidensweg, den Christus ging, sollte er sich schließlich im Triumph über den Tod erheben und auferstehen.
Christus, der gute Hirt, der sein Leben hingibt für seine Schafe (vgl. Joh. 10,11), hatte sich tatsächlich geopfert, nicht, um unser physisches Leben zu retten, sondern um unsere moralische Existenz für ein Leben in der Ewigkeit zu sichern. Er wollte Wiedergutmachung leisten für unsere Sünden, für die Sünden der Welt. Er wollte uns gleichsam loskaufen aus der Knechtschaft unserer moralischen Vergehen, unsers Versagens.
Wie ist das möglich? Wie kann uns Christus durch seinen Tod am Kreuz von unseren Sünden loskaufen? Was ist das: Wiedergutmachung, Satisfaktion? Um es einmal in philosophischen Termini zu fassen: Das Sittengesetz fordert seine Erfüllung. Das Soll (der Liebe) soll sein, soll erfüllt werden, die Liebe soll unser ganzes Handeln bestimmen, alle Willensakte sollen Akte der Liebe sein. Dieser Forderung steht die Tatsache widersittlicher Handlungen gegenüber, die Tatache nicht gesollter Willensakte, religiös gesprochen: die Welt der Sünde. Gerade aktuell werden wir in den Medien mit einem Abgrund des Grauens konfrontiert, mit dem Leid, das Kindern durch sexuelle Vergewaltigung angetan wurde. Der Forderung der Erfüllung des Sittengesetzes steht deren Negierung gegenüber. Die Sinnhaftigkeit des Sittengesetzes scheint verletzt; denn es ist etwas geschehen, was nicht sein soll.
Eine Lösung wäre nur dann gegeben, wenn die Möglichkeit bestünde, die volle Sinnhaftigkeit des Sittengesetzes wieder herzustellen: die Wiedergutmachung, die Satisfaktion. Sinn meint, daß eine Forderung auch erfüllt werden kann. Konkret: Er fordert, daß der schlechte Wille, d.h. die Verstöße gegen das Sittengesetz, aufgehoben werden. Das Nicht-Soll (die Realität der Sünde) soll nicht sein. Aber Fakt bleibt, auch wenn ich eine Umkehr in meinem Willen vollziehe und mein früheres schlechtes Handeln bereue, die frühere Willensentscheidung ist (war) eine böse. Also das Faktum des Nicht-Solls bleibt. Der Sinn des Solls fordert aber eine vollkommene Realisierung seiner Gültigkeit, die auch das Verfehlen aufheben soll, eben: sie aufheben und tilgen. Scheint deswegen eine Satisfaktion unmöglich?
Ich meine, hier muß eine methodische Zäsur erfolgen. Die philosophische Ethik kann das Postulat erheben: Das Nicht-Soll soll nicht sein! Sie kann aber auch spekulativ weiterschreiten, um nach einer gedanklichen Möglichkeit zu suchen, wie eine Lösung des Satisfaktionsproblemes aussehen könnte, ohne deren Realität zu garantieren. Eine solche Lösung müßte dann aus dem Bereich des sittlichen Seins kommen, in der noch alle Sittlichkeit absolut herrscht. Diesen spekulativen Weg wollen wir einmal beschreiten.
Wenn trotz des Faktums des Nicht-Solls, das als solches in der Kette der Entscheidungen bestehen bleibt, das Postulat gilt, wie könnte dann eine Satisfaktion aussehen? Das Sittengesetz kann nur im interpersonalen Nexus realisiert werden - meine Liebe, mein guter Wille richtet sich immer an ein Du, an viele Du's (andere Iche). Durch das Faktum des Nicht-Gesollten ist darum auch das gesamte Geflecht interpersonalen Handelns betroffen bzw. belastet, welches auch nicht durch bloßes Vergessen eliminiert werden kann. Die Umkehr vom wider-sittlichen Handeln, welches mit tiefer Reue und Demut verbunden sein müßte, ermöglicht zwar, wieder eine Beziehung in Liebe mit einer anderen Person aufzubauen, wodurch eine Kette gemeinsamer sittlich guter Willenshandlungen initiiert werden könnte. Das setzt allerdings voraus, daß das andere (unbelastete) Ich die Gesamt-Geschichte dieser interpersonalen Beziehung mitträgt, auch dessen negative Willensentscheidungen. Nicht, daß dieses (sündenlose) Ich das Böse des anderen Ichs als solches bejaht, nein, aber es müßte die nicht-gesollten Akte mittragen als seinen Willen. Diese Person müßte sich mit dem bösen Willen des anderen identifizieren, ihn auf sich nehmen, ohne selbst zu fehlen. "In dieser Identifikation erfolgt die hierarchische Überhöhung des schlechten Wollens durch das Gute." (Reinhard Lauth: "Ethik", Stuttgart 1969, S. 140)
Wer könnte aber eine solche Überhöhung leisten? Jemand, der selbst mit negativen Willensentscheidungen belastet ist? Sicherlich nicht, denn er müßte selbst erst entsühnt sein. Also diese Überhöhung könnte nur jemand leisten, der selbst nicht der Entsühnung bedürftig wäre und der selbst absolut sündenfrei ist und der bereit wäre, selbst schuldlos, die Schuld des anderen als seine zu tragen, um so eine Tilgung zu erreichen. Dabei müßte diese Tilgung in einem Äquivalent stehen zu dem, was an Verfehlungen geschehen ist. Mögen diese auch noch so groß sein: die Sühne bzw. das Sühneopfer müßte ihnen entsprechen. Soweit die spekulativen Gedanken.
Die Frage ist nun: Gibt es in der Geschichte eine Person, die zu dieser Sühne fähig wäre bzw. gewesen wäre. Die Religion gibt die Antwort: Es ist Christus, der Gott-Mensch, der sich den Menschen gleichförmig machte, wegen ihrer Armseligkeit auch in der Sünde, der in der Niedrigkeit einer Krippe zur Welt kam, um uns nicht nur Seine Liebe, die frei macht(e) vom (jüdischen) Gesetz, sondern auch Seine Übergüte, Seine Über-Liebe zu schenken, um uns im Gehorsam gegenüber Seinem himmlischen Vater durch den Tod am Kreuz von unseren Sünden loszukaufen, sie zu tilgen, sie auszulöschen, wobei Sein Leiden und Sterben als Sühne unserer Sündenlast entsprach. Der hl. Paulus formuliert diesen Gedanken im Brief an die Korinther so: "Denn er [Gott] hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde [Sündopfer] gemacht, damit wir würden Gerechtigkeit vor Gott in ihm." (2 Cor. 5,21) Er mußte sich als Opferlamm schlachten lassen, damit er die Blutschuld unzähliger Verbrechen abwaschen konnte. Wie durch die Sünde der Tod in die Welt gekommen ist, so kommt das Leben wieder durch die Übernahme der Schuld durch den absolut Schuldlosen. Weil er durch Seinen Tod und Seine Auferstehung uns vom Tode der Sünde befreite, so will er uns auch neues Leben schenken, damit wir einst zu ewigem Leben auferstehen sollen. Dieses Heilsgeschehen erklärt der hl. Paulus seiner römischen Gemeinde: "Gott sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und hat Gericht gehalten über die Sünden am Fleisch, damit erfüllt würde die Forderung des Gesetzes in uns, die wir nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist." (Röm. 8,3-4)
So sollten auch wir, die wir uns loskaufen können in Seinem Blut, in aller Demut die Oster-Präfation mitbeten: "Er ist in Wahrheit das Lamm, das hinweg nimmt die Sünden der Welt. Durch Sein Sterben hat Er unseren Tod vernichtet und durch Seine Auferstehung neues Leben erworben", an dem auch wir einst teilnehmen sollen. |