Priester auf ewig
von Magdalena S. Gmehling
Viele Kulturvölker, die Israel umgaben, kannten die Ausübung priesterlicher Funktionen durch Könige. In Ägypten und Mesopotamien stand den Priesterkönigen ein hierarchisch gegliederter Klerus zur Seite. Über die Patriarchen des auserwählten Volkes berichtet die Genesis (12, 7f.), dass sie Altäre errichteten und Opfer darbrachten.
Die Verheißung Gottes an König David und die Davididen aus dem Psalm 110,4 "Der Herr hat geschworen und es wird ihn nicht reuen: 'Du bist Priester ewiglich nach der Ordnung des Melchi-sedech'" ("Juravit Dominus, et non poenitebit eum: Tu es sacerdos in aeternum secundum ordinem Melchisedech") begründet das Hohepriestertum der israelitischen Könige, weist aber auch auf jenen fernen Messias hin, der das alttestamentarische Priestertum überwindet. Es dürfte von Gewinn sein, sich auf das unantastbare Vorbild dieses Priesterkönigs zu besinnen.
Melchi-Sadek, der König aus S(ch)alem (dem späteren Jerusalem,) so berichtet Genesis (14, 18) erweist dein Chaldäer Abraham die Ehre einer Begegnung: "Aber Melchisedek, der König von Salem, trug Brot und Wein heraus. Und er war ein Priester des El Eijon (des Allerhöchsten) und segnete ihn und sprach: gesegnet sei Abraham vom Allerhöchsten Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat." Es ist viel geschrieben worden über die israelitische Beerbung des kanaanäischen El-Eijon Kultes. Jedenfalls scheint es zu einer Integration jebusitischer Vorstellungen und damit zu einer universalen Erweiterung der israelitischen Religiosität gekommen zu sein. Der Vollzug der sakralen Handlung greift - wie wir sehen werden - viel tiefer, ja sie ist ein "eikän" der heiligen Messe.
Die Angaben der Bibel bezüglich des "Königs der Rechtschaffenheit" Melchisedech, sind dürftig. Er ist Ausländer, es wird kein Stammbaum erwähnt, es umweht ihn der Nimbus der Unsterblichkeit. Jedenfalls fehlt bezüglich seiner Person jede genealogische Angabe. Nach der apokryphen Schrift "Die Schatzhöhle" soll er der Urenkel des Sem und Sohn des Malach gewesen sein. In einem pseudonym verfassten gnostischen Fragment aus Nag Hammadi wird er als eine Art archetypischer Christus beschrieben, der vertrauten Umgang mit Engeln hatte. Rudolf Steiner vermeint gar, in ihm den großen Sonnen-Eingeweihten zu erblicken. Origenes betrachtet ihn als Engel. Eine ähnlich tiefsinnige Deutung, die dem Kundigen in seltsamer Weise den Schauungen der Anna Katharina Emmerich vergleichbar erscheint, bietet der Philosoph und Weltweise Leopold Ziegler. Er verbindet die ehrwürdige Priestergestalt mit dem, die Völker beschützenden Erzengel Michael.
Melek heißt König und Makael Engel, und solches bekräftigt uns einstweilen bloß, was wir ohnehin schon wissen: Michael Erzengel und Erzkönig, Träger der auctoritas spiritualis sowohl wie der potestas temporalis. Nun aber spielen Melek und Makael außerdem auf jene von unzugänglichsten Rätseln gleichsam umdornte Stelle der Genesis an, 14, 18-20, will meinen auf jenen König von Salem=Friedensstadt, der sich im Königstal mit dem Chaldäer Abraham trifft. Trifft und zugleich erstmals in der heiligen Schrift das Mysterium von Brot und Wein mit ihm begeht, um ihm hernach im Namen Gottes des Höchsten (= êl eliôn, der sehr Hohe noch über ei schaddaj, der Allmächtige) zu segnen. Melchisedech übersetzt sich buchstabengetreu mit 'König der Gerech-tigkeit', was dem michaelischen Erzamt des Engels des Gerichtes so nahe wie möglich kommt. Anderseits entspricht der Name seines centrum spirituale oder geistlichen Herrschaftssitzes, Salem, durchaus der friedensstiftenden und-sichernden Tätigkeit Michaels." 1)
Und eben die durch englische Schnelligkeit, Wendigkeit und unvermittelte Präsenz gekennzeichnete Tätigkeit sieht auch die Dülmener Nonne in ihren großartigen Gesichten. "Ich habe Melchisedech oft gesehen; aber nie als einen Menschen, sondern immer als ein Wesen anderer Art, als einen Engel und Gesandten Gottes ... Er war gekleidet wie kein Priester damals auf Erden, sondern wie ich die Engel im himmlischen Jerusalem erblicke ... Wo er auftrat und wo er war, übte er eine unwiderstehliche Gewalt aus durch seine Persönlichkeit. ... Die Bösen schwätzten über ihn und demütigten sich doch vor ihm." 2) Emmerich schildert nun, wie der Geheimnisvolle gegen die unsäglichen Greuel und Götzendienste auftritt, wie er bestimmte Orte des gelobten Landes durch Bezeichnung in Besitz nimmt, wie er Abraham mehrmals besucht und diesen gewissermaßen auf seine Initiation vorbereitet. Dieser Patriarch und Stammvater, den Gott erwählt, geprüft und gesegnet hat, gilt in vielfacher Weise als Typos. Der Koran spricht von ihm als einem "Gottesfreund". Sein Name wird von Abram (erhabener Vater) in Abraham (Vater einer Völkermenge) geändert. Er soll über ungewöhnliche Körpergröße und Stemenweisheit verfügt haben, seine Kindheitsgeschichte weist eine unverkennbare Analogie zu jener des Jesus von Nazareth auf. Schließlich wird ihm die geheimnisvolle Gabe des Heil verheißenden göttlichen Segens zuteil: "Der Engel sprach mit Abraham, und dieser empfing das Geheimnis des Segens, das Heiligtum des Himmels, öffnete sein Gewand und legte es auf seine Brust. (...) Abraham kannte seinen Inhalt noch nicht, er war ihm verhüllt, wie uns der Inhalt des heiligen Sakramentes." 3)
Die Chaldäer, ein Zweig der semitischen Aramäer, kehren mit ihrem Vertreter, dem Wanderfürsten Abraham, zurück in das gelobte Land, und dort kommt es zu der ergreifenden Begegnung mit dem Ausländer Melchisedech, der - wie Emmerich schaut -, nachdem er den Altar sorgsam bereitet und mit den Gebeinen Adams inzensiert, Brot und Wein segnet, das Brot bricht und Abraham aus dem nachmaligen Abendmahlskelch, dem heiligen Gral, zu trinken gibt. Die geweihten Brotbissen sieht Emmerich leuchtend, bemerkt aber nüchtern, dass Engel nicht konsekrieren können. "Als Melchisedech den Abraham bei der Opferung von Brot und Wein segnete, da weihte er ihn zum Priester. Er legte Abrahm die Hände auf und dieser gab ihm nachher den Zehnten." 4) Der Verfasser des Hebräerbriefes schreibt dazu: " Beachtet, wie groß der ist, dem selbst Abraham, der Stammvater, den Zehnten von seiner Beute gab. Wohl haben auch jene von den Söhnen Levis, die das Priestertum übernahmen, den Auftrag, nach dem Gesetz den Zehnten zu nehmen vom Volk, das heißt also von ihren Brüdern, obwohl diese von Abraham abstammen (Hebr. 7,4-6)." Ignaz Rohr deutet die Begebenheit tiefsinnig:
"Das Zehentrecht ist ein Vorzug der Söhne Levis gegenüber den ihren sonst gleichstehenden Volksgenossen ... Konnte nun Melchisedech ohne Rechtstitel der Abstammung den Stammvater Abraham bezehnten, so tat er es mit der Überlegenheit dessen, 'der lebt', d.h. über dessen Anfang und Ende die Schrift schweigt gegenüber den sterblichen Leviten. Ohnehin hat er ja auch diese selber wenigstens indirekt bezehntet in ihrem Vater Abraham, in dessen Lende sie damals noch waren. Und diese Überlegenheit findet ihre Bestätigung dadurch, dass Abraham sich von Melchisedech segnen ließ und ihn damit als den Träger höherer Gewalten und Spender göttlicher Gnaden anerkannte". 5)
Der Hebräerbnef bezieht das Priesterkönigtum auf Christus. Die Unzulänglichkeit des aaronitisch-levitischen Priestertums macht einen Systemwechsel nötig, eben "Priestertum in Ewigkeit nach der Ordnung des Melchisedech". So heißt es denn auch weiter:Mit dem Wechsel des Priestertums erfolgt ja notwendig ein Wechsel des Gesetzes. Denn derjenige, von dem dies ausgesagt wird, gehörte einem anderen Stamme an, aus dem nie einer am Altar gedient hat. Unser Herr ist ja bekanntlich aus Juda entsprossen, einem Stamme, von dem Moses nichts in Bezug auf Priester gesagt hat. Und noch offenkundiger wird es, wenn nach der Ähnlichkeit mit Melchisedech ein anderer als Priester aufsteht, der es nicht nach der Norm fleischlicher Ordnung geworden ist, sondern nach der Kraft eines unzerstörbaren Lebens" (Hebr. 7, 12-17). Jesus Christus, der Nicht-Aaronite, der Erfüller des Gesetzes und ewige Hohepriester, ist nicht Repräsentant einer bestimmten öffentlichen Ordnung. Er hat es nicht nötig, für die eigenen Sünden und die Vergehen des Volkes Sündopfer darzubringen, er verschmäht es, Stiere und Lämmer für sich verbluten zu lassen. Sein Priestertum überwindet den abrahamitischen Bund und gründet auf dem ewig gültigen Neuen Bund. Sein Selbstopfer und die Überwindung des Todes enden zur Rechten Gottes.
Mit dem Priesterkönigtum hat sich der Ideenhistoriker und Essayist Gerd-Klaus Kaltenbrunner tiefsinnig auseinandergesetzt. Er schreibt: "Der ganze Mensch ist androgyn: königlich und priesterlich. Erst in solcher Komplettheit vermag er als Priester zu wirken ... Es ereignet sich an und in ihm eine Sakralkumulation, die ihn Melchisedech angleicht, ja zu seinem Doppelgänger macht. Die Heiligkeit des Königtums wird ergänzt durch das Charisma des Priestertums." 6)
Bleibt diese archaische Urgestalt des ewigen Menschen, der die geistlich-priesterliche mit der weltlich-königlichen Würde verbindet, ein Wunschbild? Erinnert das Wissen um die Möglichkeit solchen Daseins an eine ferne Theokratie, in welcher der präexistente Christus-Makeal-Melchise-dech, eine geistige Großmacht war, wie er auch Leitbild einer künftigen Weltzeit ist?
Unserer heillosen Gegenwart, die den sensus numinis völlig verloren hat, seien nachfolgende Worte ein Antrieb zu Reflexion: "... die Christen selbst müssen begreifen, dass Christus vielleicht nicht ganz das ist, als was Er ihnen erscheint. Erst dann werden sie selber verstehen (...), was jene Worte bedeuten, die jeglichen Durst und jeglichen Hunger stillen: 'Denn mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise, und mein Blut ist wahrhaft ein Trank.'" (Dimitri Sergejewitsch Mereschkowskij)
Anmerkungen: 1) Leopold Ziegler: Menschwerdung, Hegner Olten. Bd. l, S. 356 2) Anna Katharina Emmerich: Geheimnisse des Alten und des Neuen Bundes. Stein am Rhein. 1993. 12. Aufl. S. 79 3) Anna Katharina Emmerich, ebd. S. 92 4) Anna Katharina Emmerich, ebd. S. 97 5) Ignaz Rohr: Der Hebräerbrief, S.22; in: Die Heilige Schrift Bd. VIII. Verlag von Peter Hanstein. Bonn 1924 6) Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Johannes ist sein Name. Priesterkönig Gralshüter Traumgestalt.. 1993, S. 286 f. |