Über die Zehn Gebote
- Ansprache aus dem Jahr 1944 -
von
Papst Pius XII.
Christus ist nicht gekommen, wie er selbst gesagt hat, um das Gesetz
aufzuheben und zu beseitigen, sondern vielmehr um es zu erfüllen und zu
vervollkommnen; und erfüllt worden sind von ihm, durch seinen Geist und
seine Lehre die Zehn Gebote, die Gott auf Sinai dem Volke Israel
verkündet hatte.
Von den Geboten Gottes im allgemeinen
Die Zehn Gebote sind ein von Gott selbst gegebenes Gesetz, in dem sich
auch die Kraft der menschlichen Vernunft und die Einsicht der Weisen
spiegelt; und doch, wer die religiösen und sittlichen Verhältnisse der
gegenwärtigen Stunde prüft, was findet er anderes als einen
schmerzlichen Widerspruch zwischen dem höchsten Grad religiöser
Bildung, die heute dem Volk angeboten wird, auf der einen Seite, und
auf der anderen den geringen Gewinn, den man daraus zieht, und die
wenig wirksame Antriebskraft, die von da in die Praxis des Lebens
herkommt? Es gab Zeiten in der Kirchengeschichte, in denen die
allgemeine religiöse Unterweisung meist viel einfacher, dafür aber der
gesamte Ablauf des menschlichen Lebens von zahlreichen heiligen
Bräuchen beherrscht, von der Furcht Gottes und von der unabweisbaren
Pflicht, seine Gebote zu halten, durchsetzt war.
Seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat sich nicht nur die
katholische Wissenschaft mit bewundernswertem Schwung immer weiter
entwickelt, sondern gerade auch das kirchliche Lehramt selbst hat den
katholischen Glauben in jeder Hinsicht aufs großartigste und
ausführlichste dargelegt und erhellt und sittliche Normen für die
verschiedensten Verhältnisse des Lebens sowohl der einzelnen wie der
Gemeinschaft gegeben und so in der bestmöglichen Weise den Reichtum
geistlichen Lichtes den Seelen vermittelt. Fragt nan sich aber, ob der
Stand der religiösen Bildung und der sittlichen Haltung im katholischen
Volk gleichen Schritt gehalten habe, so kann die Antwort leider nicht
bejahend sein. In beklagenswertem Gegensatz zu jener hohen Entfaltung
der Lehre hat sich die Wirk-samkeit und Kraft des religiösen Impulses
immer mehr verringert und aufgelöst.
Es ist nicht zu leugnen, im Gegenteil, es tritt sogar klar zutage, daß
es auch heute an Katholiken nicht fehlt, die nach wie vor den Geboten
Gottes treu sind; an christlichem Heldentum und an Heiligkeit mangelt
es nicht. Hierin bleibt unser Zeitalter nicht hinter früheren Zeiten
zurück, und Wir fürchten Uns nicht zu behaupten, daß es in manchem
dieselben sogar übertrifft. Werfet jedoch einen Blick auf das
öffentliche Leben und ihr werdet finden, daß es vielfach entchristlicht
ist, während Mißachtung der christlichen Lebensart und Abkehr von ihr
sich weithin ausgebreitet haben. Eine übermächtige antireligiöse
Strömung stellt sich den gläubigen Menschen entgegen, die ihr ganzes
Leben, das persönliche, das Leben in der Familie und in der
Öffentlichkeit nach dem Gesetz Gottes gestalten wollen. Sie stoßen auf
ernste Schwierigkeiten und Hindernisse, ihre Glaubensüberzeugung
anderen mitzuteilen und ihr Achtung zu gewinnen; daher erliegen viele
oder sie werden in der Ausübung der Religion schwach. Um in der
verdorbenen Luft der modernen Großstädte zu atmen und in ihnen
christlich zu leben, ohne das Gift in sich aufzunehmen, bedarf es eines
tiefen Glaubensgeistes und der Widerstandskraft, die Bekennern eigen
ist.
Die Schuld der Sünde
Es ist eine Tatsache, die sich in der Kirchengeschichte immer
wiederholt, daß dann, wenn der christliche Glaube und die christliche
Moral auf feindliche Strömungen von Irrtümern und Leidenschaften
stoßen, Versuche gemacht werden, die Schwierigkeiten durch einen
bequemen Kompromiß zu überwinden, sie zu umgehen oder ihnen
auszuweichen.
Auch in bezug auf die Gebote Gottes hat man einen Ausweg zu finden
geglaubt. In der Moral, so hat man gesagt, komme Feindschaft mit Gott,
Verlust des übernatürlichen Lebens, schwere Schuld im eigentlichen
Sinne, nur dann vor, wenn die Handlung, die man zu verantworten hat,
nicht allein mit dem klaren Bewußtsein begangen worden ist, daß sie
sich gegen das Gebot Gottes richtet, sondern auch in der ausdrücklichen
Absicht, mit ihr den Herrn zu beleidigen, die Verbindung mit ihm zu
zerreißen, ihm die Liebe aufzusagen. Liegt diese Absicht nicht vor, hat
der Mensch nicht von sich aus die Freundschaft mit Gott abbrechen
wollen, so könne ihm die einzelne Handlung nicht schaden. Um ein
Beispiel anzuführen: Die vielfachen Verstöße gegen das sechste Gebot
wären für den Gläubigen, der im übrigen mit Gott vereint bleiben und
sich seine Freundschaft erhalten will, weder eine schwere Verfehlung,
noch würden sie eine tödliche Schuld mit sich bringen. Eine wahrhaft
verblüffende Lösung! Wer sieht da nicht ein, daß in der klaren
Erkenntnis, wonach eine bestimmte menschliche Handlung gegen das Gebot
Gottes sich richtet, auch mitenthalten ist, daß sie nicht auf den Zweck
der Einigung mit Gott ausgerichtet sein kann, da sie ja gerade die
Abkehr oder die Entfernung der Seele von Gott und seinem Willen
(aversio a Deo fine ultimo) einschließt, eine Abkehr, die die Einigung
und die Freundschaft mit ihm zerstört, wie es gerade die schwere Schuld
tut? Oder ist es nicht wahr, daß Glaube und Theologie lehren, jede
Sünde sei eine Beleidigung Gottes und darauf ausgerichtet, ihn zu
beleidigen, weil die der schweren Schuld innewohnende Absicht gegen den
Willen Gottes sich richtet, wie er in dem Gebot niedergelegt ist, das
übertreten wird? Sagt der Mensch "ja" zu der verbotenen Frucht, so sagt
er "nein" zu Gott, der sie verbietet; wenn er sich selbst und seinen
Willen dem Gesetz Gottes voranstellt, entfernt er sich von Gott und dem
göttlichen Willen; darin besteht die Abkehr von Gott und das innerste
Wesen der schweren Schuld.
Die Bosheit einer menschlichen Handlung rührt daher, daß sie sich nicht
an ihrer Richtschnur mißt, die eine zweifache ist: die eine, die
nächstliegende, ist die menschliche Vernunft selbst, die andere ist die
oberste Richtschnur, das ewige Gesetz, das man Vernunft Gottes nennen
könnte, deren Licht in dem menschlichen Gewissen widerstrahlt, wenn es
uns den Unterschied von Gut und Böse sehen läßt. Der wahrhaft gläubige
Mensch weiß sehr wohl, daß die Absicht, die sich auf den Gegenstand der
Todsünde richtet, nicht von der Absicht zu trennen ist, die den
göttlichen Willen und das göttliche Gesetz verletzt und jede
Freundschaft mit Gott abbricht - mit ihm, der die guten und die bösen
Absichten der menschlichen Handlungen zu erkennen und mit seiner
durchdringenden Gerechtigkeit zu belohnen und zu bestrafen weiß.
Es gibt nur einen Weg
Es gibt nur einen Weg, um die Liebe Gottes zu erlangen und sich in der
Vereinigung und der Freund-schaft mit ihm zu erhalten: die Beobachtung
seiner Gebote. Worte zählen wenig; was gilt, sind die Taten. Daher hat
der Erlöser gesagt: "Nicht alle, die zu mir sagen: 'Herr, Herr' werden
in das Him-melreich eingehen; aber wer den Willen meines Vaters tut,
der im Himmel ist, der wird ins Himmelreich eingehen" (Mt 7, 21).
Gott bekennen in der Erfüllung seines heiligen Willens in allen seinen
Geboten und ihnen gemäß zu handeln, ja, unseren Willen mit seinem
Willen gleichzurichten und das Einswerden unseres Willens mit dem
seinen: das, das allein ist der Weg zum Himmel. Der heilige Paulus
spricht dieses Grundgebot des sittlichen Lebens mit energischen Worten
aus: "Hütet euch davor, in Irrtum zu fallen: weder die Hurer, noch die
Götzendiener, noch die Ehebrecher, noch die Weichlinge, noch jene, die
gegen die Natur sündigen, noch die Diebe, noch die Geizhälse, noch
jene, die sich der Trunksucht ergeben, noch die Missetäter, noch die
Räuber werden das Reich Gottes erben" (1. Kor. 6, 9-10).
Der Völkerapostel hatte nicht nur den Abfall von Gott in der
absichtlichen Leugnung des Glaubens und im ausdrücklichen Haß Gottes
vor Augen, sondern auch jede schwere Verletzung der sittlichen
Tugenden; dies gilt nicht nur für die Gewohnheit zu sündigen, sondern
auch für alle einzelnen Handlungen gegen Moral und Gerechtigkeit, die
Todsünden sind und ewige Verdammnis nach sich ziehen. Wenn man
ausgerechnet dem religiösen Menschen eine Art Freibrief von der Schuld
gibt in bezug auf alles, was er gegen die Gebote Gottes tut, so könnte
das gewiß nicht als Erlösung gelten und Erlösung von dem sittlichen
Elend sein, das zu beheben heute als Aufgabe vor der Kirche steht.
Neuheidentum
Heute scheint das Heidentum wiedererstanden zu sein; viele haben es
schon in ihren Werken und in ihren Gedichten gegen das Christentum
gepriesen. Aber die Kirche hat schon seit ihrem Erscheinen in der Welt
mit der Lehre des Evangeliums und mit der Tugend ihrer Apostel und
ihrer Gläubigen gegen jede Scheinweisheit und gegen jede hinterhältige
oder offene Verfolgung durch das Heidentum Stellung genommen. Bei ihrem
Kampf ging sie immer den geraden Weg, indem sie den heidnischen
Verirrungen die erleuchtete Kraft der Gebote und der christlichen
Tugenden entgegenstellte. Nicht nur die Briefe des heiligen Paulus
geben ein klares Zeugnis von der Größe der sittlichen Verpflichtungen,
die die Religion Christi mit sich gebracht hat, und von dem Kampf, den
die Gläubigen bestehen müssen, um sie zu erfüllen, sondern am Ende des
apostolischen Zeitalters sind die Sendschreiben der Geheimen
Offenbarung an die sieben Kirchen ein ebenso leuchtender Ausdruck
desselben: "Vincenti... Qui vicerit..."! "Dem Sieger werde ich vom
Baume des Lebens zu essen geben, ihm werde ich das verborgene Manna
geben; ich werde seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen
Engeln. Wer Sieger sein wird, der wird nicht von dem zweiten Tode
betroffen wer-den" (Apk. 2, 7, 11, 17,26; 3, 5, 12, 21).
Die Kirche hilft allen
Der glühende Eifer der Christen in den ersten Jahrhunderten trieb sie
an, ihren Glauben eher zu freimütig als zu wenig zu bekennen, so daß
mitunter ihre sittliche Strenge die Grenzen des vernünftigen Maßes
überschritt, wie es der Geist des Evangeliums verlangt. Die
Kirchenväter zögerten nicht, Schauspiele, Gladiatorenkämpfe, Theater,
Tänze, Feste und Unterhaltungen, die doch der heidnischen Gesellschaft
natürlich erschienen, wegen der Unordnung, die sie verursachten, mit
großer Strenge zu bekämpfen. Es ist daher kein Wunder, daß der Glaube
die Sitten dessen, der mit ihm in Berührung kam, von Grund auf umformte
und besserte.
Wenn darum heute so oft der Ruf erhoben wird: Zurück zum
Urchristentum!, so fange man doch mit der Besserung und der Erneuerung
der Sitten an. Dieser Ruf sei kein leerer Schall, sondern eine ernste
und wirksame Umkehr, wie sie die Erfordernisse des sittlichen Handelns
und Lebens gerade auch für unsere Zeiten notwendig verlangen.
Den Heroismus hat Christus nicht in allen Menschen vorgefunden; wer
aber auch nur einen Funken von gutem Willen zeigte, dem streckte er die
Hand entgegen und flößte ihm Mut ein; gleichzeitig unterließ er es aber
nicht, die höchsten Anforderungen auszusprechen: "Wer mir nachfolgen
will, verleugne sich selbst, nehme jeden Tag sein Kreuz auf sich und
folge mir nach" (Lk. 9, 23). "Seid vollkommen, wie euer himmlischer
Vater vollkommen ist" (Mt. 5, 48). Um die Menschen einem so hohen Ziel
entgegenzuführen, steht die Kirche allen bei, immer in der Absicht,
alle, die an Christus glauben und seine Lehre und seine Gebote
befolgen, mehr und mehr der Vollkommenheit des himm-lischen Vaters
näherzubringen.
Die Kirche steht, allen sichtbar, auf dem Berge, "Mutter der Heilgen,
Abbild der himmlichen Stadt", wenngleich es auch ersichtlich ist, daß
die Entchristlichung um sie herum Raum gewonnen hat und noch immer zu
gewinnen scheint.
Die Kirche steht auf festem Grund, unbeugsam trotz Abfalls und aller
Verfolgungen, denn sie ist die Kraft Gottes und Kraft Christi. Man hat
gesagt, wenn es Gott nicht gäbe, so müßte man ihn erfin-den; ohne einen
Gott, der den Menschen den Unterschied und die Grenzen von Gut und Böse
zeich-net, würde der menschlichen Vernunft auf dieser Erde kein
Sittengesetz leuchten. Dort, wo der Glaube an einen persönlichen Gott
herrscht, bleibt die sittliche Ordnung fest, bestimmt von den Zehn
Geboten Gottes; wo nicht, bricht sie früher oder später schmählich
zusammen.
Von den Geboten Gottes im besonderen
Betrachten wir nun die Gebote Gottes im einzelnen, so darf man wohl
sagen, daß jedes von ihnen ein Warnruf geworden ist, daß jedes auf
schwere sittliche Gefahren hinweist. Auch die Vergangen-heit hat ernste
Unordnungen gesehen; wer könnte es leugnen? Aber einige Säulen, die die
sittliche Ordnung aufrechterhielten, vor allem der Glaube an Gott, die
Autorität der Eltern und der öffentlichen Mächte, blieben doch immer
fest und unerschüttert stehen. Heute ist der ganze Bau der Moral
untergraben, gefährdet und verkehrt. Ein Kennzeichen dieses Zerfalls
ist, daß mit dem Schwinden des Glaubens an Gott und mit der
gleichzeitigen Übertreibung und dem Mißbrauch, der nicht selten mit der
öffentlichen Gewalt geübt wurde, nicht nur die konkreten Formen,
sondern auch das Prinzip der Autorität zum "Stein des Anstoßes" wird
und auf Ablehnung stößt.
Wir glauben jedoch, daß, um diesen Zustand der Dinge zu heilen und zu
bessern, zwei Mittel besonders anzuraten sind. An erster Stelle setze
man die Autorität der Eltern wieder in alle ihre Rechte ein, auch da,
wo sie eingeschränkt und aufgesogen worden sind, z.B. im Bereich der
Schule und der Erziehung. Sodann mögen alle jene, die öffentliche
Autorität besitzen, alle führenden Klassen bis zu den Arbeitgebern und
den Erziehern der Jugend, mit dem Beispiel eines gottesfürchtigen
Lebens vorangehen und die ihren Ämtern innewohnende Gewalt gemäß den
Gesetzen der Gerechtigkeit und der Liebe ausüben. Vor einem solchen
Beispiel von Rechtschaffenheit würde die Welt in Staunen versetzt
werden, da sie der wunderbaren Werke des öffentlichen Friedens und
Vertrauens innewerden würde.
Im Bereich der gegenseitigen Loyalität und Wahrhaftigkeit herrscht und
macht sich eine verdorbene Atmosphäre breit, die den Menschen guten
Glaubens das Gefühl des Erstickens gibt. Wer hätte erwartet, daß nach
all der ganzen stolzen Zivilisation und der hohen Kultur, die der
Ruhmestitel der vorangegangenen Jahrhunderte waren, die Achtung vor dem
Rechte Gefahren und Prüfungen und Verletzungen begegnen würde, wie sie
nur die dunkelsten Zeiten der Geschichte kannten? Auch hierin ist der
Schlüssel zu jeder Lösung mit dem Glauben an einen persönlichen Gott
gegeben, der die Quelle der Gerechtigkeit ist und sich das Recht über
Leben und Tod vorbehalten hat. Nichts anderes als dieser Glaube wird
imstande sein, die sittliche Kraft zu verleihen, um die gebührenden
Grenzen einzuhalten gegenüber allen Nachstellungen und Versuchungen,
sie zu überschreiten, indem er näm-lich vor Augen führt, daß das
menschliche Leben unantastbar ist, ausgenommen die Fälle recht-mäßiger
Notwehr, eines gerechten Krieges, der mit gerechten Mitteln geführt
wird, und der Todesstrafe, wenn sie von der öffentlichen Gewalt wegen
genau bestimmter und erwiesener schwerster Verbrechen verhängt wird.
Die Gebote verpflichten
Über die Gebote, die man die "Gebote der ersten Tafel" nennt, die sich
auf Gott beziehen, scheinen Uns zwei Bemerkungen besonders angebracht.
Die erste betrifft den Sinn der Verehrung, die Gott zu erweisen ist;
denn dieser Sinn hat sich in den letzten hundert Jahren auch inmitten
der Gläubigen zu verdunkeln begonnen. Wenn es auch zu allen Zeiten
vorkommt, daß die Menschen im Bereich ihres persönlichen religiösen
Lebens das eigene Interesse suchen und sich bemühen, es zu fördern, so
sah man dies in maßloser Weise verwirklicht unter dem Einfluß der
hochmütigen, eitlen materialistischen Kultur, die die heutigen
Generationen beherrscht. Man wollte die Beziehungen zwischen Gott und
Mensch auf die Hilfe Gottes in den materiellen und irdischen
Bedürfnissen beschränken; im übrigen wollte der Mensch sich selbst
helfen, so, als bedürfe er der göttlichen Stütze nicht. Die
Gottesverehrung wurde eine Sache der Nützlichkeit; aus dem Bereich des
Geistes fiel die Religion in den der Materie. Die religiöse Praxis tat
nichts weiter, als Gnaden vom Himmel für irdische Bedürfnisse zu
erbitten, indem sie gleichsam eine Rechnung mit Gott aufmachte. Der
Glaube wurde wankend, wenn die Hilfe nicht dem Verlangen entsprach. Daß
Religion und Glaube vor allem anderen Anbetung und Dienst Gottes
bedeuten; daß es Gebote Gottes gibt, die immer verpflichten, an jedem
Ort und unter allen Umständen; daß für den Christen das künftige Leben
das irdische beherrscht und bestimmt: diese Begriffe und Wahrheiten,
die den Verstand und den Willen des Gläubigen ausrichten und führen,
waren dem Denken und Fühlen des menschlichen Geistes fremd geworden.
Welches Heilmittel soll man nun solchen Verirrungen
entgegensetzen? Die großen Wahrheiten und die großen Begriffe des
Glaubens müssen als Leben und Wirklichkeit in alle Klassen des Volkes
wiederkehren, in die höheren noch mehr als in die enterbten, die von
Bedürftigkeit und Not hienieden heimgesucht sind. Eine dringendere
Aufgabe als diese gibt es zur Zeit in der religiösen Erziehung wohl
kaum; sie wird heute nicht nur gefordert, sondern sogar erleichtert;
denn was die Menschheit jetzt wegen des Verfalls der Moral und der
Gerechtigkeit an Übel und Unheil erfährt, ist eine ganz offenkundige
und schmerzliche Züchtigung der falschen Vorstellung von Gott und der
Religion, die in ihrer Verwirklichung verkehrt worden ist.
Man hat gesagt, das Wunder dieser Jahre seien die Millionen von
Gläubigen, die Gott ehren und ihm dienen, gehorsam seinen Geboten,
obgleich sie sich in einer Lage unsagbarer Einschränkungen befinden.
Gewiß gibt es solche frommen und furchtlosen Christen, die der Ruhm der
Kirche sind.
Die Heiligung der Feiertage und der Sport
Die Gottesverehrung, die im Ablauf des menschlichen Lebens jeden Tag
einleiten und beschließen sollte, legt besondere Pflichten auf
hinsichtlich der Heiligung der Feiertage; und darauf richtet sich
Unsere zweite Bemerkung. Man kann der Kirche gewiß nicht den Vorwurf
machen, daß sie das Sonntagsgebot mit übertriebener Härte anwenden
will, sie, die es bestimmt und mit jener "Milde und
Menschenfreundlichkeit" regelt, deren Beispiel ihr der göttliche
Stifter gegeben hat. Aber der Ent-weihung und der Verweltlichung des
heiligen Tages des Herrn, den man in wachsendem Maße seines religiösen
Charakters beraubt und dadurch die Menschen von Gott entfernt - diesem
Treiben muß sich die Kirche, als Hüterin des göttlichen Gesetzes, mit
heiliger Festigkeit widersetzen.
Front machen muß die Kirche gegen die Aufsaugung und Zerstreuung durch
den übertriebenen "Sport", der keine Zeit mehr für das Gebet, für
Sammlung und Ruhe läßt, der die Familienmitglieder zwangsläufig
voneinander trennt und die Kinder dem Heime entfremdet und der Aufsicht
ihrer Eltern entzieht. Furchtlos muß sich die Kirche zur Wehr setzen
gegen jene Unterhaltungen, die, wie unmoralische Filme, den Sonntag in
einen Tag der Sünde verwandeln. Schließlich muß man sich die
ge-bührende Ruhe und feiertägliche Erholung gönnen, die vor allem der
religiösen Erhebung der geistlichen Erneuerung und der einträchtigen
Entfaltung des Familienlebens zugute kommen.
Gebote und "Filmehe"
Gott, der Name Gottes und die Verehrung Gottes machen die "erste Tafel"
aus; der Nächste, die Pflichten und die Rechte des menschlichen Lebens,
erscheinen auf der "zweiten Tafel", die mit der ersten zusammen den
Dekalog bildet, fast auf die gleiche Weise, wie die Liebe Gottes und
die Liebe des Nächsten sich zu einer einzigen Liebe vereinen, die sich
nächst Gott auf den Mitimenschen ergießt. Zahlreicher sind die Gebote,
die auf dieser "zweiten Tafel" enthalten sind, wozu vieles zu bemerken
wäre. Doch wie könnten Wir es unterlassen, an die Worte zu erinnern:
"Non moechabe-ris" - "Du sollst nicht ehebrechen "? Sagen Wir zuviel,
wenn Wir bedauern, daß gerade die Länder, die sich höherer Kultur
rühmen, hinsichtlich dieses Gebotes ein Schauspiel tiefster sittlicher
Verwüstung bieten, und wenn wir hinzufügen, daß ihre Spuren auch in der
Ewigen Staat sichtbar sind?
Wir wissen wohl, wieviel auch die wirtschaftlichen und die sozialen
Reformen mit beitragen müssen, um die Ehe und die Familie zu retten;
aber diese Rettung bleibt letzten Endes eine religiöse Pflicht und eine
religiöse Aufgabe, deren Heilungsverlauf seine Antriebe an der Wurzel
erhalten muß. Die ganze Auffassung des Lebensbereichs, der unter das
sechste Gebot fällt, ist angesteckt von dem, was man die "Filmehe"
nennen könnte, die aber nichts weiter ist als eine unehrerbietige und
schamlose Schaustellung der Eheverwirrungen und der ehelichen Untreuen.
Der Film stellt die Ehe dar, losgelöst von jeder sittlichen Bindung,
nur noch als Schauplatz und Quelle sinnlichen Begehrens und nicht als
ein Werk Gottes, als eine heilige Einrichtung, als Dienst der Natur und
lauteres Glück, in dem das geistige Element stets überragt und
herrschen soll, als Schule und zu gleicher Zeit als Triumph der Liebe,
die treu ist bis zum Grabe, bis an die Pforte der Ewigkeit. Ist es
nicht eine Pflicht der Seelsorge, diese christliche Schau der Ehe unter
den Gläubigen wiederaufleben zu lassen?
Das Eheleben muß von neuem mit jener Ehrfurcht erfüllt werden, mit der
die gesunde, unverdorbene Natur und die Offenbarung es von Anfang an
geschmückt haben: Ehrfurcht vor den Kräften, die Gott auf wunderbare
Weise in die Natur hineingelegt hat, um neues Leben zu wecken, um die
Familie zur Erhaltung des Menschengeschlechts aufzubauen. Die Erziehung
der Jugend zur Keuschheit der Gedanken und der Gefühle, zur
Enthaltsamkeit vor der Ehe, ist nicht das letzte Ziel, nach dem die
christliche Pädagogik strebt und auf das sie hinzielt, wohl aber der
Erweis ihrer Fähigkeit, den Geist gegen die Gefahren zu festigen, die
das Leben belauern. Der junge Mensch, der den Kampf um die Reinheit
kämpft und siegreich besteht, wird auch die übrigen Gebote Gottes
beobachten und wird imstande sein, eine Familie nach den Absichten des
Schöpfers zu gründen. Wie könnte man aber Keuschheit und eheliche Treue
von einem jungen Menschen erhoffen und erwarten, der es nie-mals
verstand, sich selbst zu besiegen und seine Leidenschaften zu
beherrschen, die schlechten Verlockungen und bösen Beispiele zu
verachten, und der sich vor der Hochzeit jede sittliche Unordnung
erlaubt hat?
Wenn der Seelsorger - wie es vor Gott und der Kirche seine heilige
Pflicht ist - den Sieg über die beiden Krebsübel des Familienlebens
erringen will, den Mißbrauch der Ehe und die Verletzung der ehelichen
Treue, so muß er mit dem Licht des Glaubens ein Geschlecht heranbilden
und erziehen helfen, das von den ersten Jahren an gelernt hat, heilig
zu denken, keusch zu leben und sich zu beherrschen.
Heilig zu denken vor allem von der Frau. Die "Filmehe" hat in dieser
Hinsicht vielleicht besonders verhängnisvoll gewirkt; sie hat dem Mann
die Achtung vor der Frau genommen, und dann der Frau die Achtung vor
sich selbst. Möge es der Erziehung und der Seelsorge gelingen, die
Geister und die Herzen zum alten und reinen Ideal der Frau
zurückzuführen, indem sie auf die Unbefleckte Jungfrau und Gottesmutter
Maria hinweisen, deren zarte und vertrauensvolle Verehrung zu allen
Zeiten Wahrung und Heil der Frauenehre gewesen ist!
Krieg, Nachkrieg - und Unredlichkeit
Ein letztes Wort muß noch über das siebte Gebot hinzugefügt werden
angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnisse, die der
Wirbel des Krieges so unheilvoll erschüttert hat. Hierüber möchten Wir
Uns die Ermahnung des heiligen Paulus zu eigen machen: "Keiner
übervorteile oder betrüge seinen Bruder in Geschäften, weil der Herr
überall dies Gerechtigkeit üben wird." Wenn eine solche Mahnung schon
in einer ruhigen, normalen Verfassung des gesellschaftlichen Lebens am
Platz ist, so ist sie unter den heutigen verwirrten und aufgeregten
Umständen des menschlichen Zusammenlebens aus einem zweifachen Grunde
noch angebrachter und notwendiger.
Vor allem erfordern die Zeiten wirtschaftlicher Erschütterungen und
Verwirrungen - wie es die ge-genwärtigen sind - doppelt die
genaue Beobachtung des siebten und des fünften, die Güter und das
Leben des Nächsten betreffenden Gebotes, weil sonst die Gefahr zu groß
wird, daß Treue und Ehrlichkeit im Verhalten der Menschen zueinander
verschwinden und das bürgerliche Leben gleichsam unmöglich und
unerträglich wird. Wenn ein Damm unter dem Andrang der Flut zu brechen
droht, macht man ihn nicht schwächer, sondern verstärkt ihn.
An zweiter Stelle ist es bei dem ungeheuren Elend, dem Mangel an
Wohnung und an Nahrung, in den die Grausamkeit des Krieges Millionen
von Menschen gestürzt hat, kein Wunder, daß die Unredlichkeit in der
Handhabung der Geschäfte, die verwegene, naturwidrige Ausbeutung der
beste-henden Schwierigkeiten, insbesondere die Forderung überhöhter
Preise und der gesetzwidrige Aufkauf lebensnotwendiger Dinge, leichter
als in ruhigen und friedlichen Zeiten zu einem Verstoß gegen die
Gemeinschaft des Volkes und zu schreienden Verletzungen gegen die
Gerechtigkeit werden. Jeder sieht und begreift, wie nötig es ist,
solchen Versuchungen zuvorzukommen und auf sich selber achtzuhaben,
nicht nur mit gewissenhafter Rechtschaffenheit in bezug auf Mein und
Dein, sondern auch mit offenem Herzen und freigebiger Hand für alles,
was christliche Nächstenliebe und die soziale Gerechtigkeit fordern.
Hängt nicht von den Werken der Barmherzigkeit: die Hungernden speisen,
die Dürstenden tränken, die Nackten kleiden, die Obdachlosen
beherbergen, die Kranken besuchen und die Eingekerkerten befreien -
hängt nicht von diesen Werken der feierlichen Versicherung Christi beim
Jüngsten Gericht Segen oder Fluch, Freude oder Schmerz ab für die ganze
Ewigkeit? Ja, zur Herrlichkeit oder zu ewigem Unglück führt die
Unterlassung oder das Werk der Barmherzigkeit: und dasselbe glauben wir
behaupten zu können bezüglich der vollbrachten oder unterlassenen Werke
der sozialen Gerechtigkeit. (1)
(1) Aus der Ansprache an die Fastenprediger, 23. Februar 1944
(aus: "Pius XII. sagt" Zürich 1956, S. 225 ff.)
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