Irrlehren unserer Zeit
von Papst Pius XII.
Seit dem ersten Dämmern der Vernunftspekulation, da der Mensch begann, über das äußere Weltall und über seine innere Welt nachzudenken, hat sich der Philosoph nie damit zufrieden gegeben, die sichtare Oberfläche der Dinge zu beobachten, die unmittelbar der Erfahrung unterliegen, sondern er hat sich immer bemüht, ihre äußere Hülle zu durchbrechen, in ihre Seele einzudringen, ihr Wesen zu erfassen, ihre Natur und innere Verfassung zu erraten, bis er imstande war, sich einen von den zufälligen Einzelheiten abstrahierten Begriff zu machen und ihnen so eine geistige Existenz in seinem Denken zu geben. Auf diese Weise entdeckt die Philosophie, während sie das Wirkliche vergeistigt und adelt, auch wieviel Vernünftiges sich im Wirklichen, der Wahrnehmung durch die Sinne unzugänglich, verbirgt; zuletzt verharrt sie bei dem eigentlichen Gegenstand des Geistes, bestrebt, ihn in weiter und durchdringender Schau zu umfassen.
Sie entkleidet nicht nur sozusagen alle Dinge ihrer stofflichen Greifbarkeit, sondern überflutet sie auch mit dem Licht ihrer Universalität. Wie sich der menschliche Geist nicht mit dem äußeren Schein begnügt, nicht bei den Phänomenen stehenbleibt, so findet er auch keine Ruhe bei der abgerissenen und bruchstückartigen Betrachtung der Teile des Weltalls, solange er nicht ihre Zusammenhänge sieht, nicht die Ursachen und die Wirkungen findet, nicht die Prinzipien aufspürt, die sie lenken, sie zusammenfügen, sie zu einem vollendeten Bild harmonischer Einheit unter- und beiordnen. Niemand denkt daran, den Wert der Analyse, welcher der moderne Fortschritt so viel verdankt, zu verkennen oder in Zweifel zu ziehen. Aber ist es etwa nicht wahr, daß die Forderung der gegenwärtigen Stunde die Synthese ist? Fühlt man nicht schon die Gefahr, daß die heutige Wissenschaft, insofern sie Erzeugerin und Schützerin der Kultur ist, versinkt und sich in der Zersplitterung, in der Verengung, in der absoluten Vorherrschaft der Spezialisierung verliert?
Die Unruhe, die Angst des Menschen kann für einen Augenblick durch den Anblick und das Studium gelehrter und geistvoller Konstruktionen abgelenkt werden. Ablenkung eines Augenblicks, wie ein Traum in unruhigem Schlaf, wenn die Konstruktion, so geschickt und scheinbar ausgeglichen sie sein mag, nicht auf Fels aufruht. So lange er nicht eine endgültige und befriedigende Antwort auf die Fragen erhält: Was ist der Sinn des Lebens? der Sinn des Schmerzes? der Sinn des Todes? — wird er den nur allzu wirklichen Eindruck haben, daß ihm der Boden unter den Füßen wankt. Kann aber die Philosophie diese Antwort geben, wenn sie sich nicht selbst auf das Absolute gründet, auf einen persönlichen Gott, den Anfang und das Ende aller Dinge?
Eine rein deterministische und materialistische Erklärung des Seins und der Geschichte, die unvereinbar ist mit den elementarsten psychologischen, moralischen und historischen Wahrheiten, könnte den Menschen nicht befriedigen, noch ihm Glück und Frieden geben. (1)
Wahrheiten, die viel verlangen
Die Uneinigkeit der Menschen in Dingen der Religion und Moral wie auch ihr Abirren von der Wahrheit war von jeher für alle Guten, besonders die gläubigen und aufrechten Söhne der Kirche, der Grund und die Ursache allertiefsten Schmerzes. Heute gilt das ganz besonders, da Wir überall Angriffe gegen die Grundlagen der christlichen Kultur wahrnehmen.
Es wundert Uns zwar nicht, daß eine solche Uneinigkeit und solche Irrtümer sich immer außerhalb der Kirche Christi fanden. Denn wenn auch der menschliche Verstand mit seinen natürlichen Erkenntniskräften an sich zur wahren und sicheren Erkenntnis des einen persönlichen Gottes kommen kann, der durch seine Vorsehung die Welt stützt und regiert, sowie des Naturgesetzes, das der Schöpfer in unser Herz legte, so bestehen doch für ihn nicht wenige Hindernisse, von seiner ursprünglichen Fähigkeit einen wirklich fruchtbaren Gebrauch zu machen. Denn alle Dinge, die sich auf Gott beziehen und das zwischen Gott und den Menschen bestehende Verhältnis angehen, ruhen in Wahrheiten, die die Welt der Sinne überragen. Diese verlangen vom Menschen die Eigenhingabe und Selbstverleugnung, wenn sie auf die Lebensführung Einfluß gewinnen und sie bestimmen.
Der menschliche Verstand wird in der Erkenntnis solcher Wahrheiten behindert durch die Gewalt der Sinne und der Einbildungskraft wie auch durch die verkehrten Leidenschaften, die ihren Ursprung in der Erbsünde haben. Darum reden sich Menschen in diesen Dingen gerne ein, es sei das falsch oder zweifelhaft, was sie nicht wahrhaben möchten. Darum muß gesagt werden, daß die göttliche "Offenbarung" moralisch notwendig ist, damit, was in Fragen der Religion und der Sitten dem Verstand an sich nicht verborgen ist, auch bei dem gegenwärtigen Zustande des Menschengeschlechtes von allen leicht, mit fester Gewißheit und ohne jeglichen Irrtum erkannt werden kann.
Monismus, dialektischer Materialismus, Existenzialismus
Ja, zuweilen kann der menschliche Verstand Schwierigkeiten haben mit der Bildung eines sicheren Urteils der "Glaubwürdigkeit" des katholischen Glaubens selbst, obwohl so zahlreiche und wunderbare Zeichen von Gott kamen, auf Grund derer schon in der Kraft des natürlichen Verstandes der göttliche Ursprung der christlichen Religion sicher bewiesen werden kann. Der Mensch kann ja, entweder durch Vorurteile betört oder durch Leidenschaft und schlechten Willen angestachelt, sowohl die Evidenz der äußeren Zeichen leugnen, die feststeht, wie auch den übernatürlichen Eingebungen widerstehen, durch die Gott zu unseren Herzen spricht.
Wer heute die Welt außerhalb der Hürde Christi beobachtet, kann leicht die Hauptwege erkennen, die nicht wenige Gelehrte wählten. Einige lassen unklug und urteilslos die sogenannte Entwicklungslehre, die auf dem eigenen Gebiet der Naturwissenschaften noch nicht sicher bewiesen ist, für den Ursprung aller Dinge zu und verlangen sie; vermessentlich huldigen sie der monistischen und pantheistischen Auffassung, daß das Weltall einer ständigen Entwicklung unterworfen sei. Die Freunde des Kommunismus aber benützen mit Freuden diese Ansicht, um ihren "dialektischen Materialismus" wirkungsvoller zu verteidigen und zu verbreiten, wobei sie jeden Gedanken an Gott aus den Herzen entfernen.
Die Behauptungen dieser Entwicklungslehre, die alles, was absolut fest, unveränderlich ist, leugnet, haben dem Irrtum einer neueren Philosophie, die mit dem "Idealismus", "Immanentismus" und "Pragmatismus" wetteifert und sich "Existenzialismus" nennt, die Wege bereitet; er kümmert sich nicht um das unveränderliche Wesen der Dinge und wendet seine Aufmerksamkeit nur der "Existenz" der Einzelgegenstände zu. Dazu kommt noch ein falscher "Historizismus", der nur auf das Geschehen im menschlichen Leben achtet und die Grundlagen jeder Wahrheit und jedes allgemeingültigen Gesetzes vernichtet, sowohl für die Philosophie wie auch für die christlichen Glaubenssätze.
Bei einer solchen Verwirrung der Meinungen tröstet es Uns ein wenig, zu sehen, daß solche, die in den Grundsätzen des "Rationalismus" erzogen wurden, heute nicht selten zu den Quellen der göttlichen Offenbarung zurückzukehren wünschen und das Wort Gottes, das in der Heiligen Schrift enthalten ist, als Grundlage der Theologie anerkennen und verkünden. Zugleich aber ist es zu beklagen, wie nicht wenige von ihnen, je fester sie dem Worte Gottes anhängen, desto mehr die menschliche Vernunft herabsetzen, und je höher sie in ihrer Begeisterung die Autorität der göttlichen Offenbarung erheben, desto heftiger das Lehramt der Kirche verachten, das Christus der Herr einsetzte, um die von Gott geoffenbarten Wahrheiten zu bewahren und zu erklären. Das steht aber nicht nur in offenem Widerspruch zur Heiligen Schrift, sondern erweist sich auch in der Erfahrung als falsch; häufig nämlich beklagen sich diese, die sich von der wahren Kirche getrennt halten, über ihre eigene Uneinigkeit in dogmatischen Fragen, so daß sie gegen ihren Willen die Notwendigkeit des lebendigen Lehramtes bezeugen.
Auch die Irrlehren kennen
Es ist aber Pflicht der katholischen Theologen und Philosophen, die die große Aufgabe haben, die göttliche und menschliche Wahrheit zu verteidigen und den Herzen der Menschen einzupflanzen, diese mehr oder weniger vom rechten Weg abirrenden Ansichten zu kennen und zu beachten. Ja, diese Lehrmeinungen selbst sollen ihnen gut bekannt sein, weil schon Krankheiten nicht gut geheilt werden können, wenn sie nicht richtig erkannt sind, dann auch, weil in falschen Ansichten häufig ein Körnchen Wahrheit liegt; endlich auch drängen diese dazu, eifriger zu untersuchen und durchzudenken.
Wenn unsere Philosophen und Theologen aus der gründlichen Untersuchung dieser Lehren nur solche Früchte suchen wollten, hätte das kirchliche Lehramt keinen Grund, Einspruch zu erheben. Aber wenn Wir auch wissen, daß die katholischen Lehrer sich im allgemeinen vor diesen Irrtümern hüten, so fehlt es doch heute, wie in den apostolischen Zeiten, nicht an solchen, die allzu sehr das Neue suchen oder aber auch fürchten, in den Dingen des wissenschaftlichen Fortschritts für unwissend gehalten zu werden, und darum sich der Leitung des heiligen Lehramtes zu entziehen trachten; so laufen sie Gefahr, sich unmerklich von den geoffenbarten Wahrheiten zu entfernen und auch andere mit sich in den Irrtum zu ziehen!
Es zeigt sich auch eine andere Gefahr, die um so größer ist, als sie mehr vom Anschein der Tugend verhüllt ist. Viele, die den Zwiespalt und die Verirrung der Geister betrauern, lassen sich von einem unklugen Eifer treiben, von ihrem Innern drängen und brennen in unüberlegtem Verlangen, die Umzäumungen zu entfernen, durch die gute und aufrechte Menschen voneinander getrennt sind; sie geben sich einem solchen "Irenismus" hin, daß sie unter Beiseitesetzung der trennenden Fragen nicht nur auf den Atheismus schauen, den sie mit vereinten Kräften bekämpfen, sondern auch auf die Beseitigung der Gegensätze in den Glaubenslehren. Und wie es eine Zeit gab, da sich manche fragten, ob nicht die herkömmliche Apologetik mehr ein Hindernis sei, die Seelen für Christus zu gewinnen, so fehlt es auch heute nicht an solchen, die so weit zu gehen wagen, daß sie ernstlich die Frage vorlegen, ob nicht die heutige Theologie und ihre Methode, die von der kirchlichen Autorität gebilligt werden, nicht nur vervollkommnet, sondern ganz reformiert werden müßten, damit das Reich Christi auf der ganzen Welt, unter Menschen jeder Kultur und jeder religiösen Anschauung, wirkungsvoller verbreitet werden könne.
Unkluger Übereifer
Wenn diese nur die Absicht hätten, durch Einführung irgendeiner Neuerung die kirchliche Lehre und ihre Methode den modernen Verhältnissen und Anforderungen anzupassen, gäbe es kaum einen Grund zur Besorgnis. Aber in dem unklugen Übereifer ihres "Irenismus" halten anscheinend einige auch die Dinge für Hindernisse der brüderlichen Verständigung, die auf den Gesetzen und Grundsätzen Christi und den von ihm gegründeten Einrichtungen selbst beruhen oder die als Bollwerk und Stütze des unversehrten Glaubens dastehen; wenn diese fallen, dann ist zwar alles geeint, aber nur zum allgemeinen Ruin.
Moderne Ansichten dieser Art, ob sie nun aus der traurigen Sucht nach Neuerungen hervorgehen oder einen lobenswerten Grund haben, werden nicht immer in der gleichen Abstufung, derselben Deutlichkeit oder den gleichen Ausdrücken vorgelegt, auch nicht immer unter einmütiger Zustimmung ihrer Urheber; denn was heute von einigen mit gewissen Einschränkungen und Unterscheidungen in mehr verdeckter Weise gelehrt wird, das bringen morgen andere, die weniger zurückhaltend sind, offen, in übertriebener Weise vor; und zwar zum Ärgernis für viele, besonders für den jüngeren Klerus, und zum Schaden der kirchlichen Autorität. Was bei Veröffentlichungen in Buchform mit mehr Vorsicht behandelt wird, das wird offener dargelegt in privat verbreiteten Schriften, in Manuskripten und Besprechungen. Diese Auffassungen finden ihre Verbreitung nicht nur beim Welt- und Ordensklerus und in den Seminarien, sondern auch in Laienkreisen, besonders bei den Jugenderziehern.
In der Theologie aber gehen einige darauf aus, den Begriff der Dogmen möglichst abzuschwächen; das Dogma selbst möchten sie von der in der Kirche seit langem üblichen Ausdrucksweise und den Begriffen der katholischen Philosophie frei machen, um bei der Erklärung der katholischen Lehre zu den Formulierungen der Heiligen Schrift und der heiligen Väter zurückzukehren. So hoffen sie, daß das Dogma, gereinigt von allen Bestandteilen, die nach ihren Worten äußerliche Bestandteile der göttlichen Offenbarung sind, zu einem fruchtbaren Vergleich kommt mit den Glaubenssätzen der von der Kirche Getrennten, um dann so den Weg zu finden, das katholische Dogma und die von ihm abweichenden Ansichten einander anzugleichen.
Haben sie dann die katholische Lehre auf diesen Stand gebracht, so glauben sie, wäre der Weg bereitet, auf dem, den modernen Bedürfnissen entsprechend, das Dogma auch in den Begriffen der heutigen Philosophie ausgedrückt werden könne, ganz gleich, ob es der "Immanentismus", "Idealismus", "Existenzialismus" oder irgend ein anderes System ist. Es könne und müsse das deshalb auch geschehen, behaupten manche mit einiger Kühnheit, weil die Geheimnisse des Glaubens sich niemals in Begriffe fassen lassen, die vollständig der Wahrheit entsprechen, sondern nur in Ausdrücke, die "annäherungsweise" wahr und ständig Veränderungen unterworfen sind; diese deuten die Wahrheiten zwar einigermaßen, gestalten sie aber auch notwendigerweise um. Darum halten sie es nicht für abwegig, sondern für durchaus notwendig, daß die Theologie, entsprechend den verschiedenen Philosophien, deren sie sich im Laufe der Zeit als Instrument bediente, neue Begriffe an die Stelle der alten setze, so daß sie auf verschiedene Weise, die unter sich sogar in gewissem Sinn in Widerspruch stehen, aber, wie sie sagen, das gleiche bedeuten, die gleichen göttlichen Wahrheiten in menschlicher Art ausdrücken. Sie fügen noch hinzu, die Geschichte der Dogmen bestehe in der Wiedergabe der verschiedenen aufeinanderfolgenden Formen, in die die Wahrheit sich gekleidet habe, entsprechend den verschiedenen Lehren und Ansichten, die im Laufe der Zeiten entstanden.
Die scholastischen Begriffe und das Lehramt der Kirche
Die bisherigen Ausführungen zeigen deutlich, daß diese Versuche nicht nur zum sogenannten dogmatischen "Relativismus" führen, sondern ihn bereits enthalten; er ist auch allzusehr begünstigt durch die Verachtung der gewöhnlich überlieferten Lehre sowie der Worte, mit denen sie sich ausdrückt. Es leugnet wohl niemand, daß die Bezeichnungen für diese Begriffe, wie sie in der Schule und vom kirchlichen Lehramt benützt werden, verbessert und gefeilt werden können; außerdem ist bekannt, daß sich die Kirche im Gebrauch dieser Ausdrücke nicht immer gleichblieb. Klar ist auch, daß sie sich nicht an irgendein kurzlebiges philosophisches System binden kann; die Begriffe und Bezeichnungen, die von den katholischen Gelehrten nach gemeinsamer Übereinkunft im Laufe mehrerer Jahrhunderte geprägt wurden, um eine Glaubenslehre verständlich zu machen, stützen sich wahrhaftig nicht auf ein so hinfälliges Fundament. Sie stützen sich im Gegenteil auf Prinzipien und Begriffe, die aus wahrheitsgemäßer Erkenntnis der geschaffenen Welt abgeleitet wurden; allerdings erleuchtete die geoffenbarte Wahrheit durch die Kirche wie ein heller Stern den Verstand des Menschen. Es wundert Uns darum nicht, wenn einige von diesen Begriffen von den Allgemeinen Konzilien nicht nur angewandt, sondern auch feierlich bestätigt wurden; es ist darum unrecht, sie fallenzulassen.
Es wäre sehr töricht, die Begriffe und Bezeichnungen — an denen Menschen außergewöhnlicher Geisteskraft und Heiligkeit unter der Aufsicht des kirchlichen Lehramtes nicht ohne Erleuchtung und Leitung des Heiligen Geistes jahrhundertelang geformt und gefeilt haben, um geistige Glaubenswahrheiten noch stets genauer in Worte zu fassen — zu vernachlässigen, zu verwerfen oder ihres Wertes zu berauben, um an ihre Stelle mutmaßliche Begriffe zu stellen und Worte einer neuen Philosophie, die weder eine feste Form noch Gestalt hat, Begriffe, die wie die Blumen des Feldes heute bestehen und morgen fallen. Diese Auffassung macht das Dogma zu einem Rohr, das vom Winde hin und her getrieben wird. Die Verachtung der Bezeichnungen und Begriffe, die die scholastische Theologie gebraucht, führt auch von selbst zur Schwächung der spekulativen Theologie, der sie keine Sicherheit zuschreibt, weil sie sich auf theologische Beweisgründe stützt.
Leider gehen diese Neuerer von der Verachtung der scholastischen Theologie sehr leicht dazu über, das Lehramt der Kirche selbst, das diese Theologie mit ihrer Autorität so sehr stützt, nicht zu beachten oder sogar zu verachten. Sie stellen dieses Lehramt als ein Hemmnis für den Fortschritt und als ein Hindernis für die Wissenschaft hin. Einige Nichtkatholiken aber sehen es als ungerechten Zwang an, der Theologen von höherer Bildung davon abhält, ihre Lehrmeinungen zu reformieren. Und wenn auch dieses heilige Lehramt für einen jeden Theologen in Dingen des Glaubens und der Sitten die nächste und allgemeine Norm sein muß (da Christus der Herr ihm den ganzen Glaubensschatz anvertraut hat, d.h. die Heilige Schrift und die göttliche Überlieferung, um ihn zu behüten, zu verteidigen und zu erklären), so gerät doch immer wieder in Vergessenheit, als wenn sie nicht bestände, die Pflicht der Gläubigen, ebenfalls diese Irrtümer zu fliehen, die sich mehr oder weniger der Häresie nähern, und also "auch die Konstitutionen und Erlasse zu beachten, mit denen der Heilige Stuhl falsche Ansichten dieser Art verworfen und verboten hat." Mit Absicht haben sich einige daran gewöhnt, das nicht zu beachten, was die Rundschreiben der Römischen Päpste über die Natur und die Einrichtung der Kirche sagen, nur um eine mehr unbestimmte Auffassung vorherrschen zu lassen, die sie aus den Schriften der alten Väter, besonders der griechischen, geschöpft zu haben behaupten. Die Päpste, so pflegen sie zu sagen, wollen kein Urteil abgeben in den Fragen, über die die Theologen disputieren, und darum sei es nötig, zu den ersten Quellen zurückzugehen und die neueren Konstitutionen und Erlasse des kirchlichen Lehramtes nach den Schriften der Alten zu erklären.
Wann lehrt der Papst "ex cathedra"?
Wenn das auch geistreich gesagt zu sein scheint, es liegt doch ein Irrtum darin. Wahr ist, daß die Päpste im allgemeinen den Theologen die Freiheit lassen in den Fragen, in denen hervorragende Geisteslehrer verschiedener Meinung sind; die Geschichte lehrt aber auch, daß in verschiedenen Fragen, die vorher umstritten waren, nachher keine Verschiedenheit der Meinungen zugelassen wurde.
Man darf ebenfalls nicht annehmen, man brauche den Rundschreiben nicht zuzustimmen, weil die Päpste darin nicht ihr höchstes Lehramt ausüben. Sie sind aber doch Äußerungen des ordentlichen Lehramtes, von dem auch das Wort Christi gilt: "Wer euch hört, der hört mich" (Lk. 10,16). Sehr häufig gehört das, was die Enzykliken lehren und einschärfen, schon zum katholischen Lehrgut. Wenn die Päpste in ihren Akten ein Urteil über eine bislang umstrittene Frage aussprechen, dann ist es für alle klar, daß diese nach der Absicht und dem Willen dieser Päpste nicht mehr der freien Erörterung der Theologen unterliegen kann.
Wahr ist ebenfalls, daß die Theologen ständig auf die Quellen der göttlichen Offenbarung zurückgreifen sollen; es ist ja ihre Aufgabe, aufzuzeigen, inwiefern das, was das lebendige Lehramt vorbringt, sich in der Heiligen Schrift und in der göttlichen "Überlieferung" entweder ausdrücklich oder einschließlich findet. Sicher ist, daß dieser doppelte Quell der Lehre göttlicher Offenbarung so viele und so große Schätze der Wahrheit enthält, daß er nie wirklich ganz ausgeschöpft werden kann. Darum erneuern auch die heiligen Wissenschaften durch das Studium der heiligen Quellen ihre Kraft, während die Spekulation, die eine weitere Untersuchung des Glaubensschatzes vernachlässigt, wie Wir durch Erfahrung feststellen konnten, ohne Frucht bleibt. Aus diesem Grunde kann auch die sogenannte positive Theologie nicht einfach mit der Geschichtswissenschaft gleichgestellt werden, da Gott der Kirche zusammen mit diesen heiligen Quellen das lebendige Lehramt schenkte, um auch die Wahrheiten zu erklären und zu entfalten, die im "Depositum fidei" nur dunkel und gleichsam eingehüllt enthalten sind. Diesen Glaubensschatz hat der Heiland weder den einzelnen Christgläubigen noch auch den Theologen selbst zur authentischen Erklärung hinterlassen, sondern allein dem kirchlichen Lehramt. Wenn aber die Kirche dieses ihr Amt, wie es im Laufe der Zeiten häufig geschehen ist, durch einen ordentlichen oder außerordentlichen Akt ausübt, so steht als sicher fest, daß die Methode falsch ist, nach der man klare Wahrheiten aus unklaren beweisen will; im Gegenteil müssen alle den entgegengesetzten Weg gehen. Darum fügte Unser unvergeßlicher Vorgänger, Pius IX., bei der Erklärung, daß es vornehmste Aufgabe der Theologie sei, zu zeigen, wie die von der Kirche feierlich aufgestellte Lehre in den Quellen enthalten sei, nicht ohne wichtigen Grund die Worte hinzu: "in dem gleichen Sinn, wie die Kirche sie definiere."
Grundsätze der Schrift-Erläuterung
Kehren wir zu den neuen Ansichten zurück, die oben berührt wurden. Mehrere Dinge werden von einigen vorgetragen und den Herzen eingeflößt zum Schaden der göttlichen Autorität der Heiligen Schrift. Sie verdrehen kühn den Sinn der Definition des Vatikanischen Konzils über Gott als den Urheber der Heiligen Schrift und erneuern den bereits öfters verworfenen Satz, nach dem sich die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift nur auf die Gegenstände bezieht, die über Gott und Fragen der Moral und der Religion handeln. In falscher Weise sprechen sie über einen menschlichen Sinn der heiligen Bücher, unter dem nach ihrer Erklärung der göttliche Sinn verborgen liege, der allein nach ihrer Auffassung unfehlbar sei. Bei der Auslegung der Heiligen Schrift wollen sie der Analogie des Glaubens und der "Überlieferung" der Kirche keine Rechnung tragen, so daß eher die Lehre der heiligen Väter und des kirchlichen Lehramtes zu messen sei nach der Heiligen Schrift - die von den Exegeten in rein menschlicher Weise erklärt werden müsse -, als die Heilige Schrift zu erklären sei nach dem Sinn der Kirche, die aber von Christus dem Herrn als Hüterin und Erklärerin dies ganzen von Gott geoffenbarten Glaubensschatzes aufgestellt ist.
Außerdem müßte der wörtliche Sinn der Heiligen Schrift und ihre Auslegung, die von so vielen und so großen Exegeten unter der Aufsicht der Kirche ausgearbeitet wurde, nach ihrer falschen Ansicht einer neuen Schrifterklärung weichen, die sie die symbolische oder geistige nennen; nach dieser Exegese würden endlich einmal die Bücher des Alten Testamentes, die heute wie ein verschlossener Brunnen in der Kirche verborgen lägen, allen geöffnet werden. Auf die gleiche Weise, so behaupten sie, verschwinden alle Schwierigkeiten, die nur für solche ein Hindernis bilden, die am wörtlichen Sinn der Heiligen Schrift festhalten. Jeder sieht, wie sich alle diese Ansichten von den Grundsätzen und Normen der Schrifterklärung entfernen, die mit Recht aufgestellt wurden von Unsern Vorgängern seligen Angedenkens, von Leo XIII. in der Enzyklika "Providentissimus", von Benedikt XV. in der Enzyklika "Spiritus Paraclitus" und von Uns selbst in der Enzyklika "Divino afflante spiritu".
Es braucht uns nicht zu wundern, daß das Gift dieser Neuerungen in alle Teile der Theologie gelangte. So wird in Zweifel gezogen, daß der menschliche Verstand ohne Hilfe der göttlichen Offenbarung und der Gnade mit Beweisen aus der Schöpfung die Existenz eines persönlichen Gottes beweisen könne; geleugnet wird, daß die Welt einen Anfang hat, und gezeigt, daß die Schöpfung notwendig ist, da sie aus der notwendigen Freigebigkeit der göttlichen Liebe hervorgehe; verneint wird ebenfalls das ewige und unfehlbare Vorherwissen Gottes um die freien Handlungen der Menschen. All diese Ansichten stehen im Widerspruch zu den Erklärungen des Vatikanischen Konzils.
Das Wesen des mystischen Leibes Christi
Einige werfen auch die Frage auf, ob die Engel persönliche Geschöpfe sind, ob Stoff und Geist sich wesentlich unterscheiden. Andere verwerfen es, daß die übernatürliche Ordnung ein freies Geschenk Gottes sei, mit der Behauptung, Gott könne keine vernunftbegabten Wesen schaffen, ohne sie auf die Anschauung der Seligen hinzuordnen und sie dazu zu berufen. Damit nicht genug: Der Begriff der Erbsünde wird, unter Außerachtlassung der Entscheidungen des Konzils von Trient, ebenso wie der der Sünde im allgemeinen, als Beleidigung Gottes vernichtet wie auch der Begriff der Genugtuung, die Christus für uns leistete. Es finden sich auch solche, die behaupten, die Lehre von der Wesensverwandlung, die sich auf den veralteten philosophischen Begriff der Substanz stütze, müsse so verändert werden, daß die wirkliche Gegenwart Christi in der heiligen Eucharistie auf einen gewissen Symbolismus zurückgeführt werde. Demnach sollen die heiligen Gestalten nur wirksame Zeichen sein der geistigen Gegenwart Christi und seiner innigen Vereinigung mit den gläubigen Gliedern im geheimnisvollen Leibe Christi. Einige halten sich nicht gebunden an die vor einigen Jahren in einem Rundschreiben erklärte Lehre, die sich auf die Quellen der "Offenbarung" stützt und erklärt, daß der geheimnisvolle Leib Christi und die röm-kath. Kirche ein und dasselbe seien.
Andere schwächen die Notwendigkeit der Zugehörigkeit zur wahren Kirche, um das ewige Heil zu erlangen, zu einer bloßen Formel ab. Schließlich tun wieder andere dem Charakter der "Glaubwürdigkeit" des christlichen Glaubens, der dem Verstand einsichtig ist, Gewalt an. Es steht fest, daß diese und ähnliche Irrtümer sich in die Herzen einiger Unserer Söhne einschlichen, die sich täuschen ließen von einem unklugen Seeleneifer oder einer Wissenschaft, die diesen Namen nicht verdient (...).
Die Vernunft der Lehre der Kirche
Es ist allen bekannt, wie hoch die Kirche den Wert der menschlichen Vernunft stellt, der es zukommt, die Existenz des einen persönlichen Gottes mit Sicherheit zu beweisen wie auch die Grundlagen des christlichen Glaubens unwiderleglich durch göttliche Zeichen aufzuzeigen. Gleicherweise soll sie auch das Gesetz, das der Schöpfer in die Herzen der Menschen schrieb, in das rechte Licht stellen; endlich auch zu einer begrenzten, aber äußerst fruchtbaren Erkenntnis der Geheimnisse kommen. Aber dieser Aufgabe kann die Vernunft nur dann in entsprechender Weise und mit Sicherheit gerecht werden, wenn sie nach Gebühr ausgebildet wird, wenn sie also von jener gesunden Philosophie geführt wird, die wie ein Erbteil früherer christlicher Jahrhunderte überliefert ist, also auch ein höheres Ansehen besitzt, weil das Lehramt der Kirche selbst ihre Grundsätze und wesentlichsten Behauptungen, die von geistvollen Männern allmählich aufgedeckt und bestimmt wurden, zum Maßstab der göttlichen "Offenbarung" gemacht hat. Diese gleiche Philosophie, von der Kirche anerkannt und zugelassen, verteidigt den wirklichen Wert der menschlichen Erkenntnis, die unerschütterlichen Grundgesetze der Metaphysik - vom hinreichenden Grund, von der Ursächlichkeit und Zweckhaftigkeit - und endlich die Erreichung der sicheren und unveränderlichen Wahrheit.
In dieser Philosophie gibt es sicherlich verschiedene Fragen, die sich weder unmittelbar noch mittelbar auf den Glauben und die Sitten beziehen und die von der Kirche der freien Erörterung der Fachgelehrten überlassen werden; aber für verschiedene andere Dinge, besonders die Grundsätze und Hauptlinien, die Wir oben erwähnten, kann nicht die gleiche Freiheit gelten. Jedoch kann auch in diesen wesentlichen Fragen der Philosophie ein mehr entsprechendes und reicheres Gewand angelegt werden; man kann ihre Kraft vergrößern durch die Formung neuer, zweckentsprechender Ausdrücke, sie von weniger passenden, schulmäßigen Dingen frei machen, sie auch - aber mit Vorsicht - bereichern mit bestimmten Anteilen des Fortschritts menschlichen Geistes. Nie aber hat man das Recht, sie zugrunde zu richten oder sie mit falschen Grundsätzen zu verunstalten oder sie als ein gewaltiges, aber doch veraltetes Monument zu achten; denn die Wahrheit und jede ihrer philosophischen Äußerungen kann nicht täglichen Veränderungen unterworfen werden. Das gilt besonders, wenn es sich um - der menschlichen Vernunft an sich bekannte - Grundsätze handelt oder um jene Sätze, die sich auf die Weisheit von Jahrhunderten wie auch auf die Zustimmung und das Fundament der göttlichen Offenbarung stützen. Die Wahrheiten, die der menschliche Verstand in ehrlichem Suchen entdecken wird, vermögen nicht im Gegensatz zu stehen zu einer bereits entdeckten Wahrheit. Gott, die höchste Wahrheit, hat den menschlichen Verstand erschaffen und leitet ihn, aber nicht so, daß er der in ehrlichem Streben erworbenen Wahrheit täglich neue Erkenntnisse entgegenstellt, sondern um, nach Entfernung etwaiger menschlicher Irrtümer, das Wahre durch andere neue Erkenntnisse zu überhöhen, in der gleichen Ordnung und Verbindung, in der wir die Natur selbst, aus der wir die Wahrheit schöpfen, aufgebaut sehen. Darum soll der Christ, Philosoph oder Theologe, nicht eilfertig und leichtsinnig all die neuen Ideen in sich aufnehmen, die täglich ausgedacht werden, sondern er muß sie mit größter Sorgfalt prüfen und nach rechtem Maß abwägen, um nicht die bereits erworbene Wahrheit, mit großer Gefahr und großem Schaden für seinen Glauben zu verlieren oder zu verderben.
Die Lehren des Aquinaten
Nach diesen Überlegungen versteht man leicht, warum die Kirche verlangt, daß ihre zukünftigen Priester in den philosophischen Fächern unterrichtet werden "nach der Methode, der Lehre und den Grundsätzen des Englischen Lehrers". Sie weiß ja nach einer Erfahrung von Jahrhunderten gut, daß die Methode des Aquinaten sich vor andern bewährt sowohl im Unterricht wie auch in der Suche nach verborgenen Wahrheiten, daß seine Lehre fernerhin in Harmonie mit der göttlichen Offenbarung steht und in wirkungsvoller Weise sichere Fundamente des Glaubens legt, wie sie auch mit Nutzen und Sicherheit die Früchte eines gesunden Fortschritts bringt.
Darum ist es, sehr zu beklagen, daß man die Philosophie, die von der Kirche angenommen und anerkannt ist, heute von mancher Seite so sehr geringschätzt, als veraltet in der Form und - wie sie sagen - rationalistisch in der Denkweise. Die Gegner behaupten, daß diese unsere Philosophie irrtümlicherweise die Meinung verteidige, es gebe eine absolut gültige Metaphysik während sie im Gegenteil sagen, die Wahrheiten, besonders die transzendenten, könnten keinen geeigneteren Ausdruck finden als in ganz verschiedenen Lehrsätzen, die sich ergänzen, obwohl sie untereinander in gewisser Weise im Gegensatz stehen. - Darum geben sie auch zu, daß die auf unseren Schulen gelehrte Philosophie mit ihrer klaren Beschreibung der Fragestellung und Lösung mit der genauen Bestimmung der Begriffe und ihren klaren Unterscheidungen wohl nützlich sein könne zum Studium der scholastischen Theologie, die sich der Denkungsart des mittelalterlichen Menschen in hervorragender Weise anpaßte; aber - so fügen sie hinzu - sie kann keine philosophische Methode bieten, die unserer modernen Kultur mit ihren Bedürfnissen entspricht. Sie wenden ferner ein, daß die "philosophia perennis" nur eine Philosophie der unveränderlichen Wesenheiten sei, während das moderne Denken interessiert sein müsse an der "Existenz" der Einzeldinge und dem stets fließenden Leben. Während sie aber diese Philosophie verachten, preisen sie andere Systeme hoch, alte oder neue, solche östlicher oder westlicher Völker, in einer Art, die andeuten zu wollen scheint, jede beliebige Philosophie oder Meinung könne unter Beifügung - wenn das notwendig ist - einiger Verbesserungen oder Ergänzungen mit dem katholischen Dogma vereint werden. Aber kein Katholik kann daran zweifeln, daß dieses ein ganz großer Irrtum ist, besonders da es sich um Systeme handelt wie den "Immanentismus", "Idealismus", den geschichtlichen oder dialektischen "Materialismus" oder auch den "Existenzialismus", entweder in der Form des Atheismus oder wie er sich wenigstens gegen den Wert der metaphysischen Schlußfolgerung wendet.
Welche Kraft haben Wille und Gefühl?
Schließlich werfen sie der Philosophie unserer Schulen noch vor, daß sie im Erkenntnisvorgang nur den Verstand berücksichtige, die Tätigkeit des Willens aber und der Gemütsbewegungen vernach-lässige. Das entspricht nicht der Wahrheit. Denn niemals hat die christliche Philosophie den Nutzen und die Wirksamkeit geleugnet, die die gute Verfassung der Gesamtseele für die volle Erkenntnis und Erfassung der religiösen und sittlichen Wahrheiten hat; im Gegenteil, sie hat immer gelehrt, daß das Fehlen einer solchen Verfassung der Grund dafür sein kann, daß der Verstand unter dem Einfluß der Leidenschaften und des bösen Willens so verdunkelt wird, daß er nicht mehr richtig sieht. Mehr noch, der "Doctor communis" glaubt, daß der Verstand in irgendeiner Weise die höheren Güter der natürlichen oder übernatürlichen Sittenordnung begreifen könne, insofern als er in seinem Innern eine gewisse gemütsmäßige natürliche oder gnadenhafte "Naturgleichheit" (connaturalitas) mit diesen Gütern verspürt. Es versteht sich, wie sehr diese, wenn auch nur im Unterbewußtsein liegende Erkenntnis, den Bemühungen der Vernunft helfen kann. Den Willensaffekten die Kraft zuerkennen, der Vernunft zu helfen, zu einer sichereren und festeren Erkenntnis der sittlichen Wahrheiten zu kommen, bedeutet aber nicht, was diese Neuerer behaupten, daß nämlich der Wille und das Gefühl eine gewisse intuitive Kraft haben und daß der Mensch, wo er durch Verstandestätigkeit nicht mit Sicherheit die Wahrheit erkennen kann, sich an den Willen wendet, mit dem er einen freien Entschluß und eine Wahl zwischen entgegengesetzten Meinungen treffen kann; dabei vermischt er in übler Weise die Erkenntnis und den Willensakt miteinander.
Die Entscheidungen Leo XIII. und Pius X.
Es nimmt nicht wunder, daß diese neuen Ansichten zwei philosophische Disziplinen in Gefahr bringen, die ihrer Natur nach sehr eng mit dem Glaubensunterricht verbunden sind, die natürliche Gotteserkenntnis (Theodizee) und die natürliche Sittenlehre (Ethik). Sie sind der Ansicht, daß es nicht die Aufgabe dieser beiden Gebiete sei, mit Sicherheit irgendeine Wahrheit über Gott oder ein anderes transzendentes Wesen zu beweisen, sondern vielmehr zu zeigen, wie doch die Wahrheiten, die der Glaube über den persönlichen Gott und seine Gebote lehrt, so eng mit den Bedürfnissen des Lebens zusammenhängen und wie diese Wahrheiten darum von allen anzunehmen seien, um der Verzweiflung aus dem Wege zu gehen und das ewige Heil zu erreichen. Alle diese Behauptungen und Ansichten stehen in offenem Widerspruch mit den Entscheidungen Unserer Vorgänger Leo XIII. und Pius X.; sie sind auch unvereinbar mit den Verordnungen des Vatikanischen Konzils.
Es wäre unnötig, diese Irrtümer zu beklagen, wenn alle, auch auf dem Gebiet der Philosophie, mit gebührender Ehrfurcht auf das Lehramt der Kirche schauten. Seine Aufgabe ist es - nach göttlicher Anordnung -, nicht nur den Glaubensschatz der Offenbarung zu bewahren und zu erklären, sondern auch über die philosophischen Disziplinen zu wachen, damit die katholischen Glaubenslehren durch diese Irrtümer keinen Schaden leiden.
Entwicklungslehre und Genesis
Es ist jetzt noch zu den Fragen Stellung zu nehmen, die aus den positiven Wissenschaften entspringen und mehr oder weniger mit den Wahrheiten des christlichen Glaubens zusammenhängen. Nicht wenige bitten ja dringend darum, die katholische Religion möge diesen Wissenschaften möglichst stark Rechnung tragen. Es ist das lobenswert, soweit es sich um bewiesene Tatsachen handelt; es heißt aber, vorsichtig voranzugehen, wenn es sich mehr um Hypothesen handelt (auch wenn sie irgendwie wissenschaftlich begründet sind), mit denen Lehren der Heiligen Schrift oder der Tradition in Berührung stehen. Wenn diese Hypothesen sich direkt oder indirekt gegen die Offenbarung wenden, so können sie in keiner Weise zugelassen werden.
Aus diesem Grund verbietet das Lehramt der Kirche nicht, daß in Übereinstimmung mit dem augenblicklichen Stand der menschlichen Wissenschaften und der Theologie die Entwicklungslehre Gegenstand der Untersuchungen und Besprechungen der Fachleute beider Gebiete sei, insoweit sie Forschungen anstellen über den Ursprung des menschlichen Körpers aus einer bereits bestehenden, lebenden Materie, obwohl der katholische Glaube uns verpflichtet daran festzuhalten, daß die Seelen unmittelbar von Gott geschaffen sind. Es sollen diese Verhandlungen in der Weise geschehen, daß die Gründe für beide Ansichten, also dieser, die der Entwicklungslehre zustimmt, wie jener, die ihr entgegensteht, mit dem nötigen Ernst abgewogen und beurteilt werden, vorausgesetzt, daß alle bereit sind, das Urteil der Kirche anzunehmen, der Christus das Amt anvertraut hat, die Heilige Schrift authentisch zu erklären und die Grundsätze des Glaubens zu schützen. Einige überschreiten nun verwegen diese Freiheit der Meinungsäußerung, da sie so tun, als sei der Ursprung des menschlichen Körpers aus einer bereits bestehenden und lebenden Materie - durch bis jetzt gefundene Hinweise und durch Schlußfolgerungen aus diesen - bereits mit vollständiger Sicherheit bewiesen; ebenso tun sie, als ob aus den Quellen der Offenbarung kein Grund vorliege, der auf diesem Gebiet nicht die allergrößte Mäßigung und Vorsicht geböte.
Wenn es sich aber um eine andere Hypothese handelt, den sogenannten Polygenismus, läßt die Kirche nicht die gleiche Freiheit. Darum können Gläubige sich nicht der Meinung anschließen, nach der es entweder nach Adam hier auf Erden wirkliche Menschen gegeben habe, die nicht von ihm, als dem Stammvater aller, auf natürliche Weise abstammen, oder daß Adam eine Menge von Stammvätern bezeichne, weil auf keine Weise klar wird, wie diese Ansicht in Übereinstimmung gebracht werden kann mit dem, was die Quellen der Offenbarung und die Akten des kirchlichen Lehramtes über die Erbsünde sagen; diese geht hervor aus der von Adam persönlich und individuell begangenen Sünde, die durch die Zeugung auf alle überging und jedem einzelnen zu eigen ist.
Wie in den biologischen und anthropologischen Wissenschaften so mißachten auch in der Geschichte einige kühn die von der Kirche vorsichtig gezogenen Grenzen. In besonderer Weise gibt ein System Anlaß zu Besorgnis, das die geschichtlichen Bücher des Alten Testamentes mit allzu großer Freiheit erklärt. Um ihre Gründe zu verteidigen, berufen sich die Vertreter dieses Systems auf ein Schreiben, das vor nicht langer Zeit von der Päpstlichen Bibelkommission an den Erzbischof von Paris gerichtet wurde. Es weist ausdrücklich darauf hin, daß die ersten elf Kapitel des Buches der Schöpfung doch in einem wahren Sinn, der von den Exegeten noch weiter zu erforschen und zu erklären ist, geschichtlich sind, wenn sie auch eigentlich nicht der Methode der Geschichtsschreibung entsprechen, die von den besten griechischen und lateinischen Autoren, auch von den Fachleuten unserer Zeit, angewandt wurde. Die gleichen Kapitel, so heißt es weiter, berichten in ihrer einfachen und bildhaften, der Denkart eines wenig gebildeten Volkes angepaßten Sprache die Hauptwahrheiten, die für unser Heil von grundlegender Bedeutung sind; zugleich geben sie aber auch einen volkstümlichen Bericht vom Ursprung des Menschengeschlechtes und des auserwählten Volkes.
Die Schrift schöpft auch aus volkstümlichen Überlieferungen
Wenn auch die alten Verfasser der heiligen Bücher einiges aus den volkstümlichen Erzählungen nahmen - was ruhig zugegeben werden kann -, so darf man doch nie vergessen, daß sie es taten unter dem Beistand göttlicher Eingebung, der sie bei der Wahl und der Wertung dieser Zeugnisse vor allem Irrtum bewahrte. Es können auch die der Heiligen Schrift eingefügten volkstümlichen Erzählungen in keiner Weise mit Mythologien oder dergleichen auf die gleiche Stufe gestellt werden, da diese mehr Frucht einer ausschweifenden Einbildungskraft sind als des Strebens nach Wahrheit und Einfachheit, das in den Büchern des Alten Testamentes so sehr hervorleuchtet; darum muß auch von ihren Verfassern gesagt werden, daß sie alle Profanschriftsteller eindeutig übertreffen.
Die Verpflichtung der Bischöfe zur Wachsamkeit
Wir wissen nun gut, daß die meisten katholischen Lehrer, die die Früchte ihrer Studien den Universitäten, Seminarien und religiösen Kollegien zukommen lassen, weit von diesen Irrtümern entfernt sind, die heute offen oder versteckt durch Neuerungssucht oder übertriebenen apostolischen Eifer Verbreitung finden. Wir wissen aber auch, daß diese neuen Auffassungen die Unvorsichtigen anlocken können; darum wollen Wir ihnen lieber gleich beim Beginn entgegentreten, als dann erst die Heilmittel verordnen, wenn das Übel bereits eingewurzelt ist. Um daher Unserer heiligen Pflicht nachzukommen, schreiben Wir nach reiflicher Überlegung im Herrn den Bischöfen und Obern der Ordensgenossenschaften unter schwerer Verpflichtung für ihr Gewissen vor, mit allem Eifer dafür zu sorgen, daß weder in der Schule, bei Zusammenkünften, in Schriften irgendwelcher Art solche Meinungen vorgebracht, noch sie auch Klerikern oder Christgläubigen auf irgendeine Weise vorgetragen werden.
Alle, die in kirchlichen Anstalten lehren, sollen wissen, daß sie das ihnen anvertraute Lehramt nicht ruhigen Gewissens ausüben können, wenn sie die von Uns erlassenen Lehrnormen nicht in religiösem Geist annehmen und beim Unterricht genauestens befolgen. Diese schuldige Ehrfurcht und diesen Gehorsam, die sie fortwährend in ihrem Wirken dem kirchlichen Lehramt entgegenbringen müssen, sollen sie auch dem Verstand und dem Herzen ihrer Schüler einprägen.
Sicher sollen sie mit aller Kraft und Anstrengung ihr Lehrfach fördern, sich aber auch davor hüten, die von Uns zum Schutz der Wahrheit des Glaubens und der katholischen Lehre gezogenen Grenzen zu mißachten. Die neuen Fragen, wie sie die moderne Kultur und der Fortschritt aufwirft, sollen sie sehr genau, aber auch mit der gebotenen Klugheit und Vorsicht untersuchen. Schließlich sollen sie nicht in einer falschen Friedensliebe (oder "Irenismus") glauben, die Getrennten und Irrenden könnten anders glücklich in den Schoß der Kirche zurückgeführt werden als dadurch, daß sie ehrlich die ganze Wahrheit der Kirche, ohne jegliche Entstellung und jeden Abstrich entgegennehmen. (2)
(1) Aus der Ansprache an den Philosophen Kongreß, 29. November 1946 (2) Aus der Enzyklika "Humani generis", 12. August 1950 (aus: "Pius XII. sagt" Zürich 1956, S. 235 ff.) Welche Kraft haben Wille und Gefühl?
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