Die hl. Hildegard als Mahnerin und Visionärin
Sie lebte von 1098 bis 1179. Sie war eine Klostergründerin und Äbtissin, ihr Leben war durch visio-näre Schauungen gekennzeichnet, welchen Papst Eugen III. auf der Synode zu Trier die kirchliche Anerkennung zusprach. Im Jahre 1141 hatte Gott Hildegard den Auftrag gegeben, alles, was sie "schaute und hörte im wahrhaftigen Licht" mit offenen Augen und mit nüchternem, klarem Geist, niederzuschreiben und der Welt zu verkündigen (Vorwort zum "Scivias" - "Wisse die Wege"). Kurze Zeit darauf - 1147/1148 - weilte Papst Eugen III. auf einer Synode in Trier, auf der auch Bernhard von Clairveaux anwesend war. Ihre bis dahin erschienenen Schriften wurden dieser Versammlung vorgelegt und der Papst forderte sie auf, alles niederzuschreiben, was sie im Heiligen Geiste schaute. Sie wird so zur großen Gesandten Gottes, und wie den Propheten im Alten Bund wird es ihr zur Pflicht, die Wege des Herrn zu weisen - "Scivias" -, zu mahnen und zu belehren.
An Papst Anastasius IV.
(Papst Eugen III. war 1153 Papst Anastasius gefolgt, der als 80jähriger zur Nachgiebigkeit neigte, weswegen Hildegard sich etwa Ende 1153 mahnend an ihn wendet.)
O du leuchtende Wehr, Gipfel der leitenden Gewalt in der herrlichen, zur Christusbrautschaft bestellten Stadt, höre den, dessen Leben ohne Anfang ist und nie in Ermattung dahinschwindet. O Mensch, das Auge deines Erkennens läßt nach, und du bist müde geworden, die stolzen Prahlereien der Menschen zu zügeln, die deinem Herzen anvertraut sind. Warum rufst du die Schiffbrüchigen nicht zurück, die sich aus schwerer Gefahr nur durch deine Hilfe erheben können? Und warum schneidest du die Wurzel des Bösen nicht ab, die die guten, nützlichen, die wohlschmeckenden, süßduftenden Kräuter erstickt? Die Königstochter Gerechtigkeit, die himmlische Braut, die dir anvertraut ward, vernachlässigst du. Denn du duldest, daß diese Königstochter zu Boden geworfen wird. Ihr Diadem und der Schmuck ihres Gewandes werden zerrissen durch die Sittenroheit der Menschen, die wie Hunde bellen und wie Hühner, welche manchmal in der Nacht zu gackern anfangen, alberne Töne von sich geben. Heuchler sind sie, die mit ihren Worten einen trügerischen Frieden zur Schau tragen, innerlich aber im Herzen mit den Zähnen knirschen, wie der Hund, der die ihm bekannten Freunde mit dem Schwanz anwedelt, den erprobten Krieger hingegen, der sich für das Königshaus einsetzt, mit den Zähnen beißt. Warum duldest du die schlechte Lebensführung der Menschen, die in der Finsternis der Torheit sind, alles Schädliche an sich ziehen, so wie die Henne, die nachts schreit, sich selbst Schrecken einjagt ? Die so handeln, wurzeln nicht im Guten. Höre also, o Mensch, den, der die scharfe Unterscheidung überaus liebt. Hat Er doch ein starkes Werkzeug der Geradheit eingesetzt, das wider das Böse kämpfen soll. Das tust du aber nicht, wenn du das Böse, welches das Gute ersticken will, nicht mit der Wurzel ausrottest. Vielmehr duldest du, daß das Böse sich stolz erhebt, und zwar aus Furcht vor den bösen Nachstellern im nächtlichen Hinterhalt, die das Geld des Todes mehr lieben als die schöne Königstochter, die Gerechtigkeit. Alle Werke aber, die Gott gewirkt, strahlen hellstes Licht aus. Höre, o Mensch! Bevor die Welt entstand, sprach der himmlische Vater in Seinem Innern das Wort: "O Mein Sohn!" Und die Weltkugel entstand, da sie den Klang, der vom Vater ausging, aufnahm. Noch lagen die verschiedenen Arten der Geschöpfe im Dunkel verborgen. Doch als - wie geschrieben steht - Gott sprach: "Es werde!", traten die verschiedenen Geschöpfesarten hervor. So wurden durch das Wort des Vaters und um des Wortes willen alle Geschöpfe im Willen des Vaters gebildet. Gott sieht und weiß alles voraus. Das Böse hingegen kann weder beim Aufstehen noch beim Fallen durch sich etwas tun noch erschaffen noch wirken, denn es ist nichts. Nur als trügerisches Wunsch- und aufrührerisches Phantasiegebilde ist es zu werten, so daß der Mensch Böses tut, wenn er trügerisch und aufrührerisch handelt. Gott sandte Seinen Sohn in die Welt, um durch Ihn den Teufel, der das Böse umfangen, gezeugt und dem Menschen eingeflüstert hatte, zu überwinden und dadurch den Menschen, der durch das Böse dem Verderben verfallen war, zu erlösen. Deshalb verabscheut Gott die verkehrten Werke, wie Unzucht, Mord, Raub, Aufruhr, Tyrannei und die Heucheleien der Gottlosen. Denn Er hat all dies durch Seinen Sohn zertreten, der die Beute des höllischen Tyrannen ganz und gar auseinandertrieb. Daher, o Mensch, der du auf dem päpstlichen Throne sitzest, verachtest du Gott, wenn du das Böse nicht von dir schleuderst, vielmehr es küssend umfängst, da du es bei verdorbenen Menschen stillschweigend duldest. Die ganze Erde ist in Verwirrung infolge der immer neuen Irrlehren, da der Mensch das liebt, was Gott zunichte gemacht hat. Und du, o Rom, liegst wie in den letzten Zügen. Du wirst so erschüttert werden, daß die Kraft deiner Füße, auf denen du bis jetzt gestanden, dahinschwindet. Denn du liebst die Königstochter, die Gerechtigkeit, nicht mit glühender Liebe, sondern wie im Schlafestaumel, so daß du sie von dir treibst. Darum will auch sie von dir fliehen, wenn du sie nicht zurückrufst. Trotzdem werden die hohen Berge dir noch die Kraft ihrer Hilfe bieten, dich aufrichten und stützen mit den starken Stämmen ihrer hohen Bäume, so daß du nicht ganz und gar zusammensinkst in deiner Ehre, das heißt in der Würde der Christusvermählung. So bleiben dir wenigstens noch einige Flügel deiner Schönheit, bis der Schnee mannigfacher Spötteleien kommt, die viel Torheit ausblasen. Hüte dich also, dich mit dem Brauch der Heiden einzulassen, damit du nicht fällst. Höre also Ihn, der lebt und nicht aus dem Weg geräumt werden kann: Die Welt ist jetzt voller Ausschweifung, später wird sie in Traurigkeit sein, dann so sehr in Schrecken, daß die Menschen sich nichts daraus machen, getötet zu werden. Bei all dem sind bald Zeiten der Ausgelassenheit, bald der Zerknirschung, bald Zeiten, wo es blitzt und donnert von allerlei Bosheiten. Denn das Auge stiehlt, die Nase wittert, der Mund tötet. Vom Herzen aber geht Heilung aus, wenn das Morgenrot wie der Glanz eines ersten Aufgangs sichtbar wird. Unsagbar ist, was dann in neuem Verlangen und neuem Eifer folgt. Er aber, der ohne Minderung groß ist, hat jetzt ein kleines Zelt berührt, damit es Wunder schaue, un-bekannte Buchstaben bilde und eine unbekannte Sprache erklingen läßt. Und es ward ihm gesagt: "Das, was du in der Sprache, die dir von oben her kundgetan wurde, aussagst - nicht in gewohnter menschlicher Ausdrucksweise, denn diese ward dir nicht gegeben -, soll der, der die Feile hat, eifrig glätten, damit es für die Menschen den entsprechenden Klang erhalte." Du aber, o Mensch, der du zum sichtbaren Hirten bestellt bist, steh auf, eile schneller zur Gerechtigkeit, so daß du vor dem großen Arzt nicht angeklagt wirst, du habest Seine Herde nicht vom Schmutz gereinigt noch sie mit Öl gesalbt. Wenn aber der Wille um die Vergehen nicht weiß und der Mensch das Begehrte nicht an sich reißt, wird er gar nicht dem schweren Gerichte verfallen. Die Schuld dieser Unwissenheit aber wird durch Geißeln gereinigt. Daher, o Mensch, steh auf geradem Wege, und Gott wird dich retten. In die Hürde des Segens und der Auserwählung wird er dich zurückführen, und du wirst ewig leben. aus: "Hildegard von Bingen - Briefwechsel", übers. und erläutert von Adelgundis Führkötter OSB, (Otto Müller Verlag) Salzburg 1965, S. 40. (Eine Antwort auf dieses Schreiben ist uns nicht überliefert.)
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Über die Endzeit
Hildegards Endzeitvisionen entstammen zwei Werken:
1. "De operatione Dei" übersetzt und erläutert von Heinrich Schipperges, Salzburg 1965. 2. "Sci vias" (Wisse die Wege)
Vom Warten auf die Vollzahl:
"Und es wurde ihnen gesagt, sie möchten sich noch kurze Zeit gedulden, bis ihre Mitknechte und ihre Brüder, die getötet werden sollten, vollzählig sind" (Offb. 6, 11). Das ist so zu verstehen: Durch göttliche Einhauchung wurde ihnen gezeigt, daß diejenigen, die sich aus Liebe zu Gott dem zeitlichen Tode unterwerfen, damit ihre Leiber im Staub der Auflösung ruhten ..., Knechte Gottes sein werden, wie auch sie und ihre Brüder ... Die Stimme des Blutes der Märtyrer, die keine Sünden kannten und nicht wußten, warum sie getötet wurden, steigt zu Gott empor. Der Glanz Gottes strahlt derart in ihnen wider, daß man in diesem göttlichen Glanz die unzählbare künftige Menge vorausschaut. Denn die Herrlichkeit des ewigen Lebens wird ihnen geschenkt, in dem sie die Antwort auf das finden, was ihnen gezeigt ward. Ihr Schreien ist nicht durch das schmutzige Treiben der Sünder verdunkelt worden, denn unschuldig blieben sie, und ihr Blut wurde um der Menschwerdung des Gottessohnes willen vergossen als Zeugnis für das Lamm, das später Sein Blut vergießen würde. Genossen derer sind sie, die um des Glaubens und der Gerechtigkeit willen getötet wurden, Brüder derer auch, die am Jüngsten Tag durch den Antichristen dahingerafft werden, wie die Kinder durch Herodes getötet wurden, der den Sohn Gottes verleugnete, wie auch der Antichrist Ihn verleugnen wird. Denn die Stimme des vergossenen Blutes eines Menschen steigt über seine Seele empor, schreit und klagt an, weil sie aus dem Siegel des Leibes, in das Gott sie gesetzt hatte, vertrieben ward. Dann aber empfängt die Seele die Vergeltung für ihre Taten entweder in der Glorie oder in der Strafe. Die erste Stimme des Blutes begann nämlich schon in Abel zu Gott zu klagen, da Kain das Bauwerk Gottes überstürzt und frech zerstört hatte.
Es ist ein Zeitraum voll von Ausgelassenheit, geistiger Prahlsucht, unverschämten Vergnügungen und Eitelkeiten, die immer wieder unter den Menschen aufkommen werden, weil sie eingeschlafen sind in einem faulen Frieden, weil sie am Überfluß der Güter ersticken, da sie durch keine Auseinandersetzung mehr beunruhigt noch durch mangelnde Lebensmittel in Zucht gehalten werden. Indem sie sich solchen Luxus gönnen, wollen sie dabei doch Gott, von dem alle Güter herkommen, nicht die schuldige Ehre erweisen. Daher werden der beschriebenen Zeit der Ruhe und des Wohlstandes solche Gefahren folgen, wie sie bisher noch nicht erlebt wurden. Wenn nämlich die Menschen in einer Ruhe dieser Art, wie sie beschrieben wurde, verharren, ohne Furcht vor Gefahren, dann werden andere Tage kommen, voll von Leiden, in denen sich der Klageruf der Propheten und die Stimme des Sohnes Gottes erfüllen werden. Dann werden die Menschen aus Angst vor den beständigen Drangsalen nach dem Tod verlangen und ausrufen: "Wozu sind wir eigentlich geboren?", und sie werden wünschen, die Berge möchten über ihnen zusammenfallen. Denn die früheren Tage boten doch bei allem Leid und Unheil bisweilen noch die Möglichkeit, sich zu erquicken und zu erneuern; diese Tage aber, erfüllt von Leid und Unrecht, werden vom Bösen nicht ablassen, vielmehr wird sich in ihnen Qual auf Qual und Ungerechtigkeit auf Ungerechtigkeit häufen. Zu jeder Stunde werden Menschenmord und Betrug für nichts erachtet werden. So wie Tiere zum Essen hingeschlachtet werden, so werden in jenen Tagen auch die Menschen durch den Terror ihrer Gegner hingemetzelt werden.
Fremde Völker werden über die Christenheit hereinbrechen und auch die kirchlichen Einrichtungen zerstören, indem sie die Waffenlosigkeit der Christen ausnützen werden. Dies alles ist ein Hinweis auf die Ankunft des Antichristen. Diese Tage werden vor Schmutz starren und dennoch immer größeren Schmutz in sich saugen. So wird es dem Gewande Christi und dem Kleid Seiner Kirche ergehen.
Die Kirche aber betet als die Braut Christi für ihre Glieder, die Glieder des Gottessohnes, der nun selber Seinen Vater an den ewigen Heilsplan erinnert und Fürsprache einlegt für Seinen Leib, die Kirche:
"O Vater, Ich bin immer bei Dir gewesen, und Du warst es, der Mich gesandt hat, das Gewand des Fleisches anzuziehen. So bin Ich auf Erden gewandelt, und alles, was Du Mich geheißen, habe Ich vollbracht. Denn Ich bin Deine Wahrheit. Deshalb hast Du auch alle Meine Feinde Meinen Füßen unterworfen, und Ich stehe über ihnen. Sie liegen auf der linken Seite und können nicht zu Dir hin, weil Dein wahres Werk zu Deiner Rechten steht. Dies wirke Ich mit Dir, so wie Du es vor dem Ursprung der Tage angeordnet hattest. Meine Feinde richte Ich, so wie der Herr den Schemel Seiner Füße tritt. Neige daher Deine Hilfe Mir zu und rette Mich vor Meinen Feinden. Denn Ich, Dein Sohn, schreite über Nattern und Ottern. Blicke auf Meine Sorge für Meine Glieder! Habe Ich doch das ganze Werk, das Du gewollt und Mir aufgetragen hast, zum Gelingen geführt. Und so bin Ich in Dir und Du in Mir: wir sind Eins."
Und noch einmal spricht der Sohn zum Vater: "Nun sei eingedenk, daß die Vollzahl, die im Ursprung geschaffen wurde, nicht verwelken sollte. Hast Du doch im Urbeginn der Welt schon ihr Ende vorausgesehen und sie nicht dem Vergessen übergeben, wie Du derer vergaßest, die ins Verderben stürzten. Die Vollzahl der Menschengeschlechter, die in der ersten Zeit und mit dem ersten Menschen vorgesehen und erschaffen war, sollte nicht welken und vergehen. Lag es doch nicht in Deinem Plan, daß die Menschen vor der vorausgesehenen Zeit in ihren Geschlechtern ganz und gar vergehen sollten. Als Du den Menschen erschufest, war es Dein ewiger Ratschluß, daß Dein Auge, Deine Erkenntniskraft also, alles vorausschaut, richtig ordnet und nie von dem abweicht, was in Dir bestimmt worden ist. Der Mensch sollte nicht seiner Unbeherrschtheit wegen zugrundegehen und die Welt nicht vergehen, bis Du Meinen Leib mit all Seinen Gliedern Meine getreuen Glieder nach Deiner Anordnung - voll von Edelsteinen erblicktest, vollendet in allen denen, die durch Mich auf Dich vertrauen und Dich verehren: so wie Edelsteine auffunkeln in Tugendkraft." (Aus "De operatione Dei")
Im Kampf der Endzeit wird Gott Seine Getreuen nicht verlassen
Wenn dann die ungläubigen und entsetzlichen Völker - wie oben beschrieben - in das Vermögen und die Besitztümer der Kirche ringsum einbrechen und sie zu zerstören trachten, so wie Geier und Habichte das, was sie unter den Flügeln und Krallen haben, erwürgen, und wenn von alledem das christliche Volk auf jede Weise zur Strafe seiner Sünden zermürbt wird und es ohne Rücksicht auf den Tod des Körpers mit Waffen Widerstand zu leisten versucht, dann wird vom Norden her ein gewaltiger Sturm mit mächtigem Nebel und dichtestem Staub heraufkommen. Dieser Sturm wird die Augen der Feinde mit Nebel und Staub füllen und nach göttlichem Gericht sein Wüten gegen sie richten, so daß ihre Augen voll Staub und ihre Kehlen voller Nebel sind. Dann legen sie ihre Wildheit ab und werden in ein höchst betroffenes Staunen versetzt. Dann wird die heilige Gottheit im christlichen Volke Zeichen und Wunder wirken, wie Sie es schon bei Moses mit der Wolkensäule tat und wie damals, als der Erzengel Michael zur Verteidigung der Christen gegen die Heiden gekämpft hat, so daß die gläubigen Kinder Gottes, die unter Seinem Schutze dahinschreiten, über ihre Feinde hereinbrechen und sich aus Gottes Macht als siegreich erweisen: Sie werden einen Teil dem Tode überliefern und den anderen aus ihren Grenzen vertreiben. Daher wird sich zu dieser Zeit eine gewaltige Schar von Heiden den Christen im wahren Glauben anschließen und dabei sprechen: "Der Gott der Christen ist der wahre Gott, Er, der solche Zeichen unter ihnen gewirkt." Auch die Sieger, die Gott zu Seiner Verteidigung haben wird, werden Gott loben und rufen: "Loben wollen wir den Herrn, unseren Gott; Er hat sich wahrhaft unter uns verherrlicht, weil wir in Seinem Namen Sieger sind. Daher ist unsere Kraft Sein Ruhm, weil wir durch Ihn Seine wie unsere Feinde niedergerungen haben, da wir treu an Ihn glaubten." Und abermals werden sie sagen: "Wir wollen achthaben auf die Herrenworte im Evangelium. Es wird das Volk der Heiden sich gegen das Volk der Christen erheben, so wie es sich unter uns ereignet hat. Laßt uns daher die benachbarten Städte und die zerstörten Völker wieder aufbauen, wir wollen sie stärker und fester machen, als sie früher waren, damit wir nicht noch einmal durch Übel dieser Art zerrieben werden, so wie wir jetzt aufgerieben sind. Und mit all ihrer Kraft und mit all ihrem Sein werden sie dies mutig und großzügig ausführen."
In jener Zeit wird ein unreines Weib einen unreinen Sohn empfangen. Die alte Schlange aber, die den Adam ausgesaugt hat, wird ihn mit ihrer ganzen Schar derartig anstecken, daß nichts Gutes in ihn eingehen noch in ihm bleiben kann. Aufgezogen wird er an abgelegenen und wechselnden Orten, damit er von den Menschen nicht erkannt wird. In allen teuflischen Künsten gebildet, wird er bis zu seinem Mannesalter sich verborgen halten. Er wird die in ihm steckenden Laster nicht eher offen zeigen, bis er sich als reif und übervoll in jeder Art von Bosheit erkennt. Vom Augenblick seiner Geburt an werden viele Auseinandersetzungen und viele Feindseligkeiten gegen die rechten Ordnungen sich breitmachen. Die glühende Gerechtigkeit wird in ihrer Lauterkeit verdunkelt werden, und die Liebe wird in den Menschen erlöschen. An ihrer Stelle werden Bitterkeit und Roheit aufkommen, und es werden sich solche Irrlehren bilden, daß auch die Irrlehrer ganz offen und bedenkenlos ihre Ketzereien predigen. Und es wird auch unter den Christen ein solches Zweifeln und eine derartige Unsicherheit über den katholischen Glauben entstehen, daß die Menschen im Unklaren darüber bleiben, wen sie als Gott anrufen sollen. Es werden zahlreiche Zeichen an Sonne, Mond und Sternen, in den Wassern und den übrigen Elementen wie in der ganzen Schöpfung erscheinen, so daß sie gleichsam in einem Gemälde das drohende Unheil durch solche Zeichen vorausverkünden. Daher wird zu dieser Zeit eine solche Traurigkeit die Menschen befallen, daß sie das Sterben für nichts erachten.
Wer aber alsdann im katholischen Glauben fest dasteht, der wird in tiefer Zerknirschung erwarten, was Gott anordnen will. Und diese Bedrängnisse werden auf solche Weise voranschreiten, bis schließlich der Sohn des Verderbens seinen Mund zur Lehre des Widerspruchs auftut. Wenn er aber die Worte der Falschheit und seiner Betrügereien vorbringt, dann werden Himmel und Erde erzittern. Es wird dann die Halskette der Gerechtigkeit, die - wie oben erwähnt - Paulus bis zu den Füßen dieser Tugend herabreichen ließ, gleichsam wie von einem brausenden Windsturm erfaßt werden und zum ersten Mal in Bewegung geraten, denn bis zu diesem Augenblick war sie unerschüttert und unzerrissen geblieben. Paulus hat nämlich seine Lehre durch so viele Wunder erhärtet und sie mit tiefgründigen Worten so ehrenvoll geschmückt, daß sie bis an das Ende der Welt so dauern kann, wie das auch diese Kette zeigt, die bis zu den Füßen der Gerechtigkeit, gleichsam bis zum Ende der Welt, herunterfällt. Paulus hat in der Erhebung seines Geistes über die zweite Ankunft des Sohnes Gottes und über den tödlichen Einfall des Sohnes des Verderbens zu den Gläubigen mit folgenden Worten gesprochen:
Daß der Tag des Herrn nahe bevorsteht
"Laßt euch nicht gleich aus der Fassung bringen und in Furcht jagen, weder durch einen Geist noch durch einen Ausspruch, auch nicht durch einen Brief, der von uns stammen soll, als ob der Tag des Herrn schon da wäre. Laßt euch von niemandem, auf keine Weise, irremachen. Zuerst muß ja der Mensch der Sünde offenbar werden, der Mensch des Verderbens, der Widersacher, der über alles sich erhebt, was Gott heißt oder Heiligtum, so daß er sich selbst in den Tempel Gottes setzt und sich zum Gott erklärt" (2 Thess 2, 2-4).
Der Sinn dieses Satzes ist so zu verstehen: Ihr, die ihr Gottes seid, und Seinen Worten glaubt, hütet euch, damit ihr nicht in euren Herzen von jedem Schrecken erschüttert werdet, ebensowenig vom geistigen Betrug noch von wortreicher Verführung, noch durch die Schriften, die wahrhaftig an euch gerichtet sind, als sei jener Tag schon da, an dem der Schöpfer aller Dinge den Abgrund der Herzen aufdecken wird...
Von aller drohenden Verführung der Endzeit soll der Mensch sich freihalten und im Glauben seine Hilfe und Mitte suchen, jetzt, wo das Mysterium der Bosheit (mysterium iniquitatis) so offenkundig am Werke ist...
Der Mensch aber lebt in der Mitte der Macht Gottes. Denn bevor der Mensch gebildet wurde, war Gott, und wenn der Mensch sein leibliches Dasein beendet haben wird, bleibt Gott immer noch in Seiner Kraft bestehen.
Von der Verführung des Antichristen
Den alten Feind hatte die Macht der Gottheit in den See des Abgrundes geschleudert, so wie ein Bleiklumpen ins stürmische Wasser plumpst, weil er die Bosheit fest verankern wollte, während doch Gott allein gerecht und wahrhaft ist und keiner Ihm gleich sein kann, da Er, der aus sich selber ewig existiert, alles aus dem Nichts erschuf. Nun aber glaubt dieser alte Feind, er könne, weil er den Menschen im Anfang überwunden, durch einen anderen Menschen, den Antichristen nämlich, das vollenden, was er einstmals begonnen, als er wider Gott zu streiten versuchte. Vom Teufel also erhält der Antichrist die Eingebung, seinen Mund zu verkehrter Lehre (doctrina perversa) zu öffnen und alles, was Gott im alten wie im neuen Gesetz festgelegt hat, zu zerstören.
Er wird lehren, daß Blutschande und ähnliche Laster keine Sünden seien. Er wird weiter behaupten, es sei in keiner Weise eine Sünde, wenn Fleisch sich am Fleische erwärme, wie es sich ja auch der Mensch ganz natürlich am Feuer behaglich sein läßt. Er wird dem Menschen klar machen, daß alle Gebote der Keuschheit keine wissenschaftliche Grundlage hätten. Denn der Mensch sei ja nun einmal in seiner natürlichen Veranlagung hier kalt und dort warm, so daß es bei solcher Hitze und Kälte zu einem natürlichen gegenseitigen Ausgleich kommen müsse. Und weiter wird er zu den Gläubigen sagen: "Eure Moral der Enthaltsamkeit ist doch gegen das Naturgesetz verankert worden; denn wie sollte ein Mann nicht warm sein, in dessen Atem doch ein Feuer ist, das den ganzen Leib eines Mannes in Glut versetzt; wie könnte er gegen seine Natur sich kalt verhalten? Und aus was für einem Grund konnte man dem Menschen verbieten, sein Fleisch am anderen zu erwärmen? Jener Mensch nun, den ihr euren Meister nennt, gab euch ein Gesetz, das über das natürliche Maß hinausgeht, da er euch lehrte, die natürlichen Dinge so anzusehen. Ich aber sage euch: Ihr existiert nun einmal in dieser doppelten Veranlagung, als ein kalter und warmer Pol, und so erwärmt euch ruhig gegenseitig und macht euch klar, daß dieser Mensch euch unbillige Gebote aufgegeben hat. Ihr seht es ja: wie sehr er auch gepredigt hat, daß die Menschen sich nicht gegenseitig erwärmen sollen, sie frönen doch immer wieder ihrer Natur in fleischlicher Lust. Gebt also acht darauf, daß ihr euch fürderhin nicht von seiner unerträglichen Lehre verführen laßt. Denn in mir ist das da, was ihr tun könnt und was nicht. Euer Lehrer hat euch nicht die rechten Vorschriften gegeben. Er wollte euch wie einen Geist haben, der nicht mit Fleisch bedeckt ist, der ja auch nicht mitwirkt, als ob des Menschen Leib nicht so auf natürliche Weise geschaffen sei, wo er doch durch Feuer eingegossen und ausgeformt wird; und würden sie so ihre Kinder nicht auf die Welt bringen, so würden sie gar keine Möglichkeit zum Wirken haben. Daraus allein schon könnt ihr ersehen, was ihr sein sollt. Jener, der euch zuerst belehrte, hat euch betrogen und euch in nichts geholfen. Ich aber präge es euch ein, daß ihr zunächst einmal euch selbst erkennt und wißt, was ihr von Natur aus seid. Denn ich habe euch erschaffen, und ich bin ganz und gar selber in den Dingen drin. Jener aber schrieb alle seine Werke einem anderen zu und sprach nichts von sich, weil er aus sich nichts konnte. Ich aber, ich spreche von mir selbst, und aus mir selbst vermag ich alles."
Mit solchen und ähnlichen Worten wird der unselige Sohn des Verderbens die Menschen verführen, indem er sie lehrt, nach dem brennenden Trieb des Fleisches zu leben und jeden fleischlichen Wunsch durchzuführen, während das alte wie das neue Gesetz die Menschen zum keuschen Leben einladen, so freilich, daß die Keuschheit nicht ihr natürliches Maß übersteigt. So wird Luzifer durch jenen Antichristen die Gerechtigkeit Gottes verleugnen und glauben, er könne nun all sein teuflisches Beginnen durch ihn zum Ende bringen. Er wird wähnen, daß der Jordan in seinen Mund fließe, so daß die Taufe künftighin nicht mehr genannt werde, sondern daß er sie verwerfen könne, wie er selbst durch die Taufe verworfen ist. Mit seinem Auftreten wird er meinen, eine so große Zahl des Volkes sich unterwerfen zu können, daß der Sohn Gottes nur noch eine kleine Anzahl von Gläubigen im Verhältnis zu seiner Masse behalte.
Dieser Mensch wird "Mensch der Sünde" genannt, weil er alles Böse ausführt und weil alle Laster über ihn ergossen werden; er heißt auch Sohn des Verderbens, weil Tod und Verderben über ihn herrschen und er auf alle verkehrte und verworfene Art und Weise eine Menge Volkes verführt und für sich gewinnt, indem er sich als Gott verehren läßt, wie auch Johannes unter dem Bilde der Bestie seine Wildheit beschrieben hat, da er der Wahrheit Zeugnis gab und sprach: "Und es beteten ihn an alle Erdenbewohner, deren Namen nicht eingetragen sind im Lebensbuche des Lammes" (Offb 13,8). Dieses Wortes Sinn ist so in bezug auf das Kommende zu verstehen: Mit gebeugtem Körper und Geist werden diejenigen das Untier der Bosheit anbeten, die das Zelt ihres Herzens fest an irdische Dinge geheftet haben, deren Namen also nicht eingefurcht sind mit dem Zeichen der Heiligkeit in der Ewigkeit des Lebens desjenigen, in dessen Mund kein Trug erfunden ward. Deshalb wird jeder im Verderben hausen, der die Schriften dieses verdorbenen Menschen verehrt, indem er ihm huldigt, und wer die Satansschrift in seinem Herzen trägt, wo Satan doch von Gott verstoßen ward, weil er aus sich selbst heraus Gott sein wollte. Daher ist sein Name "Tod", weil er jenes Leben flieht, das nicht sterblich ist, sondern alles mit Leben erfüllt.
Alle aber, die diesem Sohn des Verderbens anhängen und seine Werke verrichten, werden nicht in das Lebensbuch des Lammes eingetragen; ist doch dieses Lamm das WORT Gottes, durch dessen Wort "Es werde" die ganze Schöpfung hervorgegangen ist. Der Teufel aber hatte im Alten wie im Neuen Testament beständig seine Anhänger bei sich: im Alten Bunde durch Baal, im Neuen durch die Sadduzäer, die seine Triebfeder im Schisma sind, weil jene das Gesetz Gottes - die Wurzel der Gerechtigkeit, in der die Patriarchen und Propheten verborgen waren - mit der Niedertracht des Baal zum erstenmal verletzten. Aber auch diejenigen hat der Teufel, die hernach im Neuen Testamente mit den Sadduzäern die Auferstehung unter Herabwürdigung der Gerechtigkeit leugneten. Denn das Astwerk der erwähnten Wurzel ist das Evangelium; und die Frucht der Äste ist das Zeugnis Christi, das den Götzen Baal und die Sadduzäer kraftvoll vernichtete.
Dennoch werden alsdann aus ihnen die Irrlehrer hervorgehen, die der Schöpfung der ursprünglichen Naturtriebe widersprechen, und ihr Irrtum wird schlimmer sein als der frühere, weil sie Gott in Seiner Schöpfungsordnung und in den lebendigen Wesen ganz und gar verleugnen. Alle diese aber werden das unselige Tier, den "verlorenen Menschen", anbeten, den Glauben an den allmächtigen Gott verlassen und behaupten, daß es ihnen nichts schade, wenn sie die Gebote Gottes außer acht ließen.
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