Erinnerungen an meinen Vater Albert Richard Heinrich Therstappen
von E. Therstappen
Es ist mir eine Ehre, diese Zeilen schreiben zu dürfen. Es war Gnade, ihm in seinen letzten Stunden beistehen zu dürfen.
Mein Vater war kein Mann von großen Worten. Er sprach wenig und tat viel. Er war ein Mann voll Gottvertrauen. Ich habe von meiner Mutter seine Bibel bekommen - überall angestrichen, was wichtig ist, mit vielen, vielen Einkaufszetteln als Lesezeichen drin. Mein Vater hat nie über Gottvertrauen gesprochen - er hat es einfach gelebt.
So hat er auch nicht über den Tod gesprochen. Kurz nach 2 Uhr nachts sagte er: "Elisabeth, bitte bade mir meine Füße!" Ich fragte: "Kalt oder warm?" Er antwortete: "Egal, nur schnell!" Dann: "Danke - das tut guuut!" Ich war total erschrocken, als ich sah, daß die Füße lila waren und sich die Nägel ablösten - aber das habe ich ihm auch nicht gesagt. Und dann gegen 10 vor 3 Uhr setzte sein Atem aus, um 3 Uhr hörte das Herz auf. Er hätte also sagen können, daß er fühlt, wie ihm die Füße absterben - aber das hat er nicht getan. Statt dessen hat er sich für das Fußbad bedankt.
So hat er auch nicht über seinen Glauben gesprochen - er hat immer nur gehandelt - und sehr wenig gesprochen wenn man ihn nicht gefragt hat.
Mein Vater ist als mittleres von drei Kindern groß geworden, geboren am 20.02.1920 und verstorben am 27.02.2008. Nach seinem Abitur 1938 kam er ein Jahr lang zum Arbeitsdienst, danach zum Militär. 1945 wurde er von den Amerikanern gefangen genommen und an die Russen ausgeliefert: in russische Gefangenschaft. Während dieser Zeit hat er den Hunger kennengelernt und gelernt, jede Krume Essen als Gottesgabe zu schätzen. Er kratzte lebenslang jeden Teller extrem aus, bei ihm blieb nie eine Krume übrig.
Mein Vater war es, der nach seiner Pensionierung seinen Enkel Daniel zu sich nahm und groß zog. Er ging mit ihm Schlitten fahren und brach sich dabei das Wadenbein. Er lernte Kuchen zu backen und kochen. Er war grundehrlich und absolut zuverlässig. Er war immer da, wenn man ihn brauchte, auch um seinen Enkel Ludwig von der Tagesmutter abzuholen, wenn es bei mir abends in der Arbeit mal später wurde.
Was war mein Vater - oder wie beschreibe ich ihn richtig? Er war unordentlich, es stand immer alles schief auf dem Tisch. Die Kerze wurde absichtlich schief gestellt, so war es überall. Schon im Krieg saß sein Helm schief auf seinem Kopf.
Und - er war ein Genie, ein unordentliches Genie. Er machte Patente, die dann von anderen veröffentlicht wurden. Er fand die Fehler in den Programmen der anderen Mitarbeiter - aber er war leider immer unordentlich. Er vergaß die Maßeinheiten bei allen übergenialen physikalischen Berechnungen. Solche Dinge waren für ihn marginal - er hatte immer nur den Blick für das Wesentliche.
Mein Vater liebte es, Supermarktpreise zu vergleichen und immer am preisgünstigsten einzukaufen, das verschaffte ihm viel Bewegung. Er fuhr gerne Fahrrad - auch wenn er immer zu den langsam-sten gehörte, fuhr er am weitesten. Er war unermüdlich in allem, was ihm wichtig war.
Auch in der Frömmigkeit war er unermüdlich, er betete jeden Morgen eine Stunde mit Kerze, wenn er aufgewacht war. Er hat viele Jahrzehnte täglich in der Früh die Gebete der hl. Birgitta gebetet und abends mit meiner Mutter den Rosenkranz. Überhaupt hat er immer authentisch, nach seiner Überzeugung gelebt - ohne dabei andere durch Worte bekehren zu wollen. Er wirkte einfach durch sein Vorbild, mehr war nicht nötig. Bis Ende November 2007 ist er auch noch regelmäßig in die Kirche gegangen.
Nur, wenn andere ihn missionieren wollten, wie z.B. die Zeugen Jehovas, dann wurde offenbar, WIE gut mein Vater die Bibel kannte. Er hätte eher die Zeugen Jehovas bekehrt, als diese ihn. Das hat er in einst langen Diskussionen bewiesen. Danach wurde er nicht mehr von den Zeugen Jehovas besucht.
Man konnte viel Spaß mit meinem Vater haben - beim Federballspielen, beim Fahrradfahren am Glockner, oder auch, als er mich als Jugendliche 'mal zu einer Radarfalle gefahren hat, wo ich mich mit einem Tramper-Schild „Vorsicht Radar“ etwa 200 m davor postiert hatte. Mein Vater stand auf der Brücke und lachte, während die Autofahrer, die mein Schild lasen, winkten, hupten oder sich einfach freuten und bedankten.
Mein Vater liebte die Berge über alles, mehr als das Meer liebte er sie. Und so kam es, daß er mit uns Kindern oft Pässe fuhr und uns die Berge zeigte, er war am Mont Blanc, in den Dolomiten, am Großglockner. Er kannte sehr viele Pässe. Seinen letzten Wunsch, den Bernina zu sehen, konnte er sich nicht mehr erfüllen.
Die Diagnose Leukämie traf ihn wie ein Schock, dem weitere Schocks folgten in Form von den Gespenstern Chemotherapie, Knochenmarksentnahme. Aber dann wurde ihm klar, daß er ein eigener Mensch ist, daß er diese Therapieformen auch verweigern konnte. Und er fand einen eigenen Weg, durch diese Krankheit zu gehen. Dieser Weg ermöglichte ihm ein weitgehend schmerzfreies Leben und Sterben.
Er starb auch nicht an Leukämie, sondern an einem Multiorganversagen: Leber, Milz, Niere. Als er dann friedlich einschlief, versagten in den letzten Minuten Lunge und Herz. Eines wurde ihm geschenkt: Er war klar im Kopf bis zur letzten Minute. Er hat sich bis zu allerletzt noch mit mir unter-halten. Mir wurde dann erst schlagartig bewußt, daß er starb, als sein Atem aussetzte. Er bekam von Gott geschenkt, keine Unklarheit des Geistes zu haben und absolut klar bis zur letzten Minute zu sein - bis hin zum friedlichen Einschlafen, wo sich dann seine Gesichtszüge total entspannten, fast wie zu einem Lächeln.
Vorher war er bei Bewußtsein mehrfach mit den Sterbesakramenten versehen worden.
Die Diagnose „Leukämie“ hat bei ihm zu einem wesentlich bewußteren Leben beigetragen. Er war 2007 noch in Griechenland, am Großglockner und fünf Wochen lang in Dänemark. Wäre er auch ohne diese Diagnose nach Griechenland geflogen? Ich weiß es nicht. So konnte er sich noch seinen großen Wunsch erfüllen - wo er doch als Kind Altgriechisch gelernt hatte und mit der Schrift so vertraut war, daß er die Straßenschilder immer schneller lesen konnte als ich.
Griechenland war für ihn ein Aufschwung. Nach einer langen Grippe trainierte er das Laufen, weil er auf der Stadtmauer von Rhodos laufen wollte - die dann allerdings wegen Bauarbeiten gesperrt war. Aber immerhin ist er auf die Akropolis von Lindos gestiegen. Auf welchem Tier er die größte Steigung überwunden hat, darf ich bestimmt nicht schreiben, weil er sonst sein griechisches Sprichwort anwenden würde, was nicht über die Lippen einer Tochter kommen sollte. Niemand durfte ihn auf diesem Tier fotografieren.
Eines konnte mein Vater - und das war Schweigen. Schweigen über das was er heimlich für andere tat, schweigen über alles, was man ihm anvertraute.
Ja, er lebte beispielhaft für alle als Vorbild. Er wußte, daß er sterben mußte. Ich habe es erst kapiert, als die Lunge aussetzte. Aber er hat es mir nicht verraten, weil er keine Abschiedsszenen wollte.
Er lebte auch als Beispiel den Verzicht vor. Er hielt sich streng an seine selbst gewählte Krebsdiät. Alle heimlichen Verstecke für Schokolade von früher wurden geplündert - es gab keine heimliche Schokolade mehr, die er so gerne mochte. Heimliche Sünden bestraften ihn dann auch gleich sofort mit Schlaflosigkeit.
Mein Vater hat ein Jahrhundert der großen Entwicklungen erlebt. Als Kind stand er an der Straße mit seinen Brüdern und hielt nach den seltenen Autos Ausschau - und sie riefen einander zu: „Ein Auto, ein Auto“, wenn mal eines vorbei kam. Im Krieg war er beim Bodenpersonal der Luftwaffe tätig, er durfte im Gepäckraum einer Ju-52 mitfliegen. Erst im Jahr 2005 flog er wieder mit einer Ju-52 - der Flug war ein Geschenk. Diesmal saß er aber im Cockpit anstatt im Gepäckraum. Auf dem Totenbild sieht man sein Strahlen in diesem Flugzeug.
Auch unsere gemeinsamen Fahrten zur Arbeit in meinem ersten VW-Käfer waren ein Erlebnis. Der Kofferraum vorne war kaputt, es fehlte ein Stück Blech, das Radio war ausgebaut, die Lücke mit einem Lumpen verstopft, die Bremsen funktionierten, wenn die Bremsflüssigkeit nicht ausgelaufen war, und ansonsten fuhren wir manchmal bei -14 Grad Celsius früh um halb 7 in diesem zugigen Vehikel zur Arbeit. So rief ich ihn mittags gegen 11 Uhr an und fragte: „Frierst Du noch oder können wir schon zum Mittagessen gehen?“ Tja - dann mußten wir überlegen, ob wir uns wieder der Kälte auf einem Mittagsspaziergang zur Kantine aussetzen wollten oder ob wir mittlerweile schon „aufgetaut“ waren.
Auch bei diesen Fahrten wurde sein absolutes Vertrauen zu seinem Schutzengel sichtbar. Er hatte sicherlich einen sehr guten Schutzengel. Dieser VW-Käfer bremste nur, wenn die Bremsflüssigkeit nicht ausgelaufen war - die reichte ca. 40 km weit -, dann mußte nachgefüllt werden bzw. das Auto heruntergeschaltet und mit der Handbremse gebremst werden. Mein Vater hat viele solche Situationen erlebt und einfach immer seinem Schutzengel vertraut.
Bei seiner schweren Erkrankung war mein Vater in meinen Augen ein außergewöhnlich liebenswürdiger, dankbarer und einfacher Patient. Reiner, unser Freund, war am letzten Abend noch da, um das neueste Patent aufzunehmen. Und Reiner meinte später: „Es war eine solch liebevolle Atmosphäre bei euch, da verliert man die Angst vorm Sterben.“
Ja - mein Vater hat bis zuletzt gearbeitet. Er hat am Samstag vor seinem Tod noch eine mathematische Arbeit über binomische Integrale fertiggestellt, die beim mathematischen Institut Bewunderung hervorgerufen hat. Und danach war er noch nicht fertig. Montags begann er noch, vor meiner Schwester ein neues Patent zu entwickeln, womit er bis Mittwoch abend fertig war. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag verstarb er. Eines ist derzeit klar - dieses Patent gibt es noch nicht, es ist wirklich neu. Da wir es der Auto- oder Flugzeugindustrie anbieten wollen, möchte ich hier weiter nicht darüber schreiben.
Je weiter die Krankheit meines Vaters fortschritt, desto klarer wurde sein Kopf. Immerhin hatte ich diesen Eindruck. Er möchte, daß sein Enkel Daniel mit diesem Patent versorgt ist ... und daß seine Gedanken nicht wieder gestohlen werden, wie ihm das zu Lebzeiten wohl des öfteren passiert ist.
Uns allen fehlt er jetzt, nicht nur als „lebendiges Lexikon“ für Erdkunde, Straßenkarten oder Wegbeschreibungen. Besonders auch seinen Enkelkindern fehlt er, weil er sich wirklich viel Zeit für sie genommen hat. Daniel, den er komplett betreut hat, Ludwig, dem er die Flugzeuge erklärt hat - und auch den drei Kindern meiner Schwester, für die er ein religiöses Vorbild war.
Er hatte eine Bibel, in der er alle wichtigen Stellen angestrichen hat. Mit Gebeten hat er gearbeitet, indem er sie ausgeschnitten und besonders zusammengestellt hat. Was er gemacht hat, hat er gründlich gemacht.
Im Namen meines Vaters möchte ich auch allen danken, die ihn bis zuletzt gepflegt haben, vor allem meiner Mutter, die aufopfernd all die Speisen zubereitet hat, die er gegessen hat, die auf die Einnahme seiner Medikamente geachtet hat und ihn auch schon vor seinen letzten Monaten jeden Tag liebevoll umsorgt hat. Danken möchte ich auch meinem Sohn Daniel, meiner Schwester Martha, die zwei Nächte vor der letzten Nacht für ihn gesorgt hat, meinem Bruder Albert und seiner Frau Annette, die immer alles, was er benötigt hat, schnellstmöglich über ihre Apotheke besorgt hat.
Ich möchte noch auf eine Schrift, die mein Vater verfaßt hat und gerne veröffentlich hätte, aufmerksam machen für alle, die eine ähnliche Diagnose wie mein Vater erhalten. Alle Interessierten können diese Erfahrungen über meine E-Mail-Adresse abrufen: elisabeth.therstappen@gmx.de. |