Haerent animo
Mahnwort Papst Pius' X. an den katholischen Klerus vom 4. August 1908 1)
Vorwort der Redaktion
Pius X., der als Papst angetreten war, um "alles in Christus zu erneuern", verfaßte 1908 anläßlich seines 50. Priesterjubiläums das Mahnwort "Haerent animo" (AAS, XLI, 555-577) an den katholischen Klerus, um diese Erneuerung in Christus auch bei denen beginnen zu lassen, denen die Sorge um das Seelenheil der Gläubigen anvertraut ist: den Priestern. "Erneuert euch ... in eurer Sinnesart und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit." (Eph. 4, 23-24) Wie Pius X. es sagt: "Wir müssen also Christus selber vertreten. Die Sendung, die er uns übertragen, gilt es so zu erfüllen, daß wir das Ziel erreichen, das Christus sich gesteckt hat."
100 Jahre nach seinem Erscheinen hat jenes Mahnschreiben nichts an Aktualität verlorenn. Es wäre sogar heute angebrachter denn je. Pius X. betont die Vorbildfunktion des Priesters, die er gegenüber den anvertrauten Gläubigen wahrnehmen soll. Neben dem besonderen religiösem Bereich, in dem es um die Vertiefung des Glaubens geht, ist damit auch die Annahme einer integralen christlichen Lebensführung gmeint. Nichts von dem, was Pius X. vom Klerus forderte, wird von den heutigen Geistlichen beherzigt.
Es ist leicht, mit dem Finger auf die amerikanischen Verhältnisse in der Konzils-Kirche zu zeigen. Dort bluten die Diözesen finanziell aus, weil sie für die moralischen Verfehlungen ihrer Kleriker zur Rechenschaft gezogen und zur materiellen Wiedergutmachung verpflichtet wurden. Denn auch gegen die amerikanischen Bischöfe - angeblich orthodoxer Provenienz - werden Vorwürfe wegen Homosexualität erhoben: sie sind in mehrfacher Hinsicht zum Ärgernis geworden.
Viel schlimmer aber ist noch, daß die vorgeblich konservativen Kleriker, d.h. diejenigen, die vorgeben, die wahre Kirche Christi zu repräsentieren, nicht nur moralisch schwach sind, sondern ihrer vordringlichsten und vornehmsten Aufgabe, die Verteidigung der Wahrheit und die Bewahrung der Kirche, nicht gerecht werden bzw. diese nicht wahrnehmen wollen oder nicht können. Gerade die jungen unter ihnen haben sich nie Gedanken darüber gemacht, von wem sie eigentlich beauftragt sind, missionarisch und pastoral tätig sein zu dürfen, bzw. wo denn heute die Kirche als sichtbare Institution noch existiert, von der allein sie ein Mandat für ihr Wirken erhalten könnten. Keiner von ihnen ist in der Lage, den modernistischen Theologen Paroli zu bieten, weil sie sich weigern, sich das philosophisch-theologische Rüstzeug zu verschaffen, das es ihnen ermöglichen würde, sich mit den neuen Theoremen und theologischen Ansätzen systematisch auseinanderzusetzen.
Doch das Mahnwort Pius' X. ist auch für alle Eltern und Erzieher bzw. für alle, die auf Kinder und Jugendliche erzieherisch einwirken, von erheblicher Bedeutung, denn auch sie vertreten gegenüber ihren Schutzbefohlenen Gottes Stimme, sie rufen sie zur Vernunft auf an Gottes statt. Auch die Eltern haben die Pflicht, ihren Kindern Vorbild zu sein. Denn sie sollen in die Herzen ihrer Kinder jene Liebe einpflanzen, die uns Christus gegeben hat... und das geht nur über lebendiges Vorleben. Was Pius X. für des Priesters Aufgabe beschreibt, gilt hier in gleicher Weise auch für die Eltern: "Wir müssen also Christus selber vertreten." Die Aufgabe der Eltern ist es also, die Kinder nicht nur physisch, sondern auch geistig zu zeugen, ähnlich wie das ein Spiritual bei seinen Priesteramtskandidaten auch tun soll.
Wir veröffentlichen dieses Mahnwort in der Hoffnung, daß es allen Lesern als geistige Stütze für die Gestaltung des je eigenen religiösen Lebens, welches gerade in der heutigen Vereinzelung - weitgehend ohne Priester - auf solche Führung angewiesen ist, dienen möge.
Eberhard Heller
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1182 Tief haften in der Seele die beängstigenden Worte des Völkerapostels an die Hebräer, da er sie allen Ernstes an die Gehorsamspflicht gegenüber den Vorgesetzten erinnert: "Sie wachen über eure Seelen und müssen einst darüber Rechenschaft ablegen" 2). Gewiß richtet sich dieses Mahnwort an alle, die in der Kirche ein Amt bekleiden; in erster Linie aber betrifft es Uns, die Wir trotz Unserer Unwürdigkeit durch Gottes Fügung die höchste kirchliche Gewalt innehaben. Tag und Nacht lastet daher diese Verantwortung auf Uns, und ohne Unterlaß sind Wir auf Mittel und Wege bedacht, um Wohlergehen und Wachstum der Kirche Gottes zu fördern.
Dabei beschäftigt Uns vor allem eine Sorge: die Priester möchten sich in ihrem ganzen Lebenswandel ihrer Berufspflicht wirklich würdig erweisen. Wir sind nämlich überzeugt, daß sich Unsere Hoffnungen für Erfolg und Zukunft der Religion hauptsächlich auf diese Voraussetzung stützen. Deshalb haben Wir sogleich nach Antritt des obersten Hirtenamtes - ohne übrigens die mannigfachen Verdienste des Klerus in seiner Gesamtheit zu übersehen - es als Unsere Pflicht erachtet, Unsere ehr-würdigen Brüder, die Bischöfe des katholischen Erdkreises, nachdrücklich zu ermahnen, daß sie sich mit äußerster Energie beharrlich dafür einsetzen, Christus in denen zu gestalten, die von Amts wegen berufen sind, Christus in ihren Mitmenschen zu gestalten.
Gesinnung und Einsatz der Bischöfe auf diesem Gebiet sind Uns freilich bekannt. Wir wissen, mit welcher Umsicht, mit welcher Hingabe sie sich unablässig um die aszetische Bildung des Klerus bemühen, und es drängt Uns, sie nicht nur dafür zu loben, sondern ihnen auch öffentlich Unsern Dank auszusprechen.
1183 Gewiß gereicht es Uns zur Freude, daß diese Bemühungen der Bischöfe schon in einer ganzen Anzahl von Priestern eine heilige Begeisterung zu wecken vermochten, so daß sie die Gnade ihrer Priesterweihe entweder zu neuem Leben entfacht oder weiter entfaltet haben. Und dennoch gibt es zu Unserem Bedauern in verschiedenen Ländern immer noch Geistliche, deren Lebenswandel keineswegs so ist, daß sie dem christlichen Volk, das zu ihnen aufblickt, ein Vorbild zur Nachahmung sein könnten. Ihnen wollen Wir in diesem Schreiben Unser Herz öffnen wie ein Vater, dessen Herz um den kranken Sohn in angstvoller Liebe bangt. Diese väterliche Sorge ist es, die Uns dazu drängt, den Ermahnungen der Bischöfe Unser eigenes Mahnwort anzufügen. Wenn es auch vornehmlich den Zweck verfolgt, die Irrenden und Lauen zur Besinnung aufzurufen, so wünschen Wir dennoch, daß es auch allen übrigen neuen Ansporn gebe. Wir weisen den Weg, auf dem jeder mit stets wachsendem Eifer vorwärtsschreiten muß, um in Wahrheit - gemäß dem treffenden Ausdruck des Apostels - "ein Mann Gottes" 3) zu sein und den berechtigten Erwartungen der Kirche zu entsprechen.
Wir werden nichts sagen, was für alle außergewöhnlich oder für jemanden neu wäre, sondern lediglich Dinge, die jeder beherzigen muß. Und Gott gewährt Uns die Hoffnung, daß Unser Wort vielfältige Frucht zeitigen wird. Unsere inständige Bitte lautet also: "Erneuert euch ... in eurer Sinnesart und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit." 4) Das wird das schönste und willkommenste Geschenk sein, das ihr Uns anläßlich Unseres fünfzigsten Priesterjubiläums überreichen könnt.
Und da Wir selber "zerknirschten Herzens und in demütiger Gesinnung" 5) vor Gott Rückschau halten auf die verflossenen Jahre Unseres Priesterlebens, wird es Uns ein Trost sein, alle menschlichen Schwächen, die Wir etwa zu bedauern hätten, einigermaßen sühnen zu können, indem Wir euch inständig ermahnen, "daß euer Lebenswandel würdig sei vor dem Herrn und in allem ihm wohlgefällig" 6).
Mit diesem Mahnwort haben Wir jedoch nicht nur eure persönlichen Interessen im Auge, sondern auch die gemeinsamen Interessen der katholischen Völker, sind doch die einen mit den andern eng verbunden. Denn die Stellung des Priesters ist derart, daß er keineswegs für sich allein gut oder schlecht sein kann; sein Verhalten und seine Lebensführung hat im Gegenteil die folgenschwersten Rückwirkungen auf seine Mitmenschen. Welch großes und unschätzbares Geschenk ist für seine Umgebung ein wirklich guter Priester!
1184 Wir beginnen also Unsere Ermahnung, geliebte Söhne, mit der Aufforderung zu einem heiligen Lebenswandel, wie ihn eure hohe Würde erheischt. Wer in den Priesterstand eintritt, tut es ja nicht nur für sich selber, sondern für die andern: "Denn jeder Hohepriester, aus den Menschen genommen, wird für die Menschen bestellt in ihren Anliegen bei Gott" 7). Darauf hat auch Christus hingewiesen, als er die Priester mit dem Salz und mit dem Lichte verglich, um das letzte Ziel ihres Wirkens zu veranschaulichen. Licht der Welt und Salz der Erde ist also der Priester. Diese Sendung verwirklicht er, wie jedermann weiß, hauptsächlich als Verkünder der christlichen Wahrheit. Es ist aber ebenso klar, daß diese Tätigkeit nahezu nutzlos bleibt, wenn der Priester nicht das Wort seiner Verkündigung mit dem Beispiel seines Lebens bekräftigt. Wer einen solchen Prediger anhört, wird ihm böswillig zwar, aber nicht zu Unrecht entgegenhalten: "Sie geben vor, Gott zu kennen, verleugnen ihn jedoch durch ihre Werke" 8); er wird seine Belehrung abweisen, und sein Licht wird ihn nicht erleuchten. Deshalb hat Christus, das Vorbild des Priesters, zuerst durch das Beispiel und sodann mit Worten gelehrt: "Jesus begann zu wirken, dann zu lehren" 9). Ebensowenig kann der Priester, wenn er die Selbstheiligung vernachlässigt, Salz der Erde sein. Was nämlich verdorben und schal geworden ist, besitzt nicht mehr die Kraft, unversehrt zu erhalten; wo aber die Heiligkeit fehlt, da nistet sich unausweichlich die Verderbnis ein. Darum hat Christus, diesen Vergleich fortführend, solche Priester als fades Salz bezeichnet, das "zu nichts mehr taugt, als weggeworfen und sogar von den Menschen zertreten zu werden" 10).
1185 Diese Wahrheiten sind umso einleuchtender, als wir ja das Priesteramt nicht in unserem Namen, sondern im Namen Jesu Christi ausüben. "Somit", sagt der Apostel, "betrachte man uns als Diener Christi und als Ausspender der Geheimnisse Gottes" 11). "Wir sind also Gesandte an Christi Statt" 12). Eben aus diesem Grunde hat uns Christus selber nicht unter seine Knechte, sondern zu seinen Freunden gezählt: "Nicht mehr Knechte nenne ich euch ..., Freunde habe ich euch genannt, denn ich habe euch alles geoffenbart, was ich von meinem Vater vernommen habe... Ich habe euch erwählt und euch bestellt, damit ihr hingeht und Frucht bringt" 13).
Wir müssen also Christus selber vertreten. Die Sendung, die er uns übertragen, gilt es so zu erfüllen, daß wir das Ziel erreichen, das Christus sich gesteckt hat. Und da ja «dasselbe wollen, dasselbe nicht wollen erst feste Freundschaft ist» 14), so sind wir als Freunde verpflichtet, unsere Gedanken und Gefühle denjenigen Jesu Christi anzugleichen, der "heilig, schuldlos und rein ist" 15). Als seine Gesandten müssen wir die Menschen gewinnen für den Glauben an seine Lehre und an seine Gebote, indem wir selber mit dem guten Beispiel vorangehen. Als Teilhaber an seiner Gewalt der Sündenvergebung haben wir die Pflicht, uns nach Kräften von der Verstrickung in Sündenschuld freizuhalten.
1186 Vor allem aber als seine Beauftragten zur Darbringung des hochheiligen Opfers, das sich mit immerwährender Segenskraft zum Heil der Welt erneuert, sind wir zu jener Gesinnung verpflichtet, mit der er sich selber auf dem Altar des Kreuzes als makelloses Opferlamm Gott dargebracht hat. Wenn schon im Alten Testament, das nur Bild und Gleichnis war, von den Priestern ein hohes Maß von Heiligkeit verlangt wurde, um wieviel mehr von uns, da jetzt Christus das Opferlamm ist! «Wie sollte der nicht umso reiner sein, der teilhat an einem solchen Opfer? Lauterer noch als der Sonnenstrahl die Hand, die dieses Fleisch berührt; der Mund, in dem ein geistiger Feuerbrand lodert; die Zunge, die vom ehrfurchtgebietenden Blut gerötet ist?» 16) Sehr treffend ist die eindringliche Mahnung des heiligen Karl Borromäus in seinen Reden an den Klerus: «Wenn wir bedächten, liebe Mitbrüder, welch große und heilige Dinge Gott der Herr in unsere Hände gelegt hat, wie mächtig würde uns diese Überlegung zu einem Leben antreiben, das eines Geistlichen würdig ist! Was hat mir denn der Herr nicht in die Hand gegeben, da er mir seinen eigenen eingeborenen Sohn, gleich ewig und gleichen Wesens wie er, anvertraut hat? Seine Schätze hat er mir restlos in die Hand gelegt, die Sakramente und die Gnaden; er hat mir die Seelen übergeben, die ihm das Allerteuerste sind, die er in seiner Liebe sich selbst vorgezogen und mit seinem Blut erkauft hat. Er hat mir den Himmel übergeben, mit der Vollmacht, ihn den andern zu öffnen oder zu verschließen ... Wie könnte ich denn einer solchen Herablassung und Liebe gegenüber so undankbar sein, noch gegen ihn zu sündigen, ihm die Ehrfurcht zu verweigern, diesen Leib zu entheiligen, der ihm gehört, diese Würde, dieses Leben, das seinem Dienste geweiht ist, zu beflecken?» 17)
1187 Dieser Heiligung des Priesterlebens, wovon Wir noch ausführlicher sprechen möchten, schenkt die Kirche beständig ihre sorgfältigste Aufmerksamkeit. Diesem Zweck dienen die Seminarien. Ist es zweifellos deren Aufgabe, den zukünftigen Klerikern geistige und wissenschaftliche Bildung zu vermitteln, so obliegt ihnen doch zugleich, und sogar in erster Linie, die Pflicht, sie von frühester Jugend an zu einem vollkommenen religiösen Leben zu erziehen. Und bei jeder einzelnen Weihestufe, die durch lange Probezeiten voneinander getrennt sind, versäumt es die Kirche nie, gleich einer fürsorglichen Mutter die Weihekandidaten zur standesgemäßen Heiligkeit aufzurufen. Es ist Uns eine angenehme Pflicht, diese Mahnworte kurz zu erwägen. Beim Eintritt in den geistlichen Stand ließ sie uns das feierliche Bekenntnis ablegen: "Der Herr ist Anteil meines Erbes und meines Kelches; Du bist es, der mir mein Erbteil sicherstellt" 18). Nach Hieronymus enthalten diese Worte folgende Mahnung an den Kleriker: «Wer selber ein Anteil des Herrn ist oder den Herrn zu seinem Anteil gemacht hat, muß sich so verhalten, daß er selbst den Herrn besitzt und vom Herrn in Besitz genommen wird» 19).
1188 Wie ernst klingt doch die Sprache der Kirche vor der Subdiakonatsweihe: «Immer und immer wieder müßt ihr aufmerksam erwägen, welche Last ihr heute freiwillig auf euch nehmt... Habt ihr einmal diese Weihe empfangen, so dürft ihr euren Entschluß nicht mehr rückgängig machen, sondern es wird eure Pflicht sein, Gott ... immerdar zu dienen und mit seinem Beistand die Keuschheit zu bewahren» 20). Und am Schluß heißt es: «Wart ihr bisher saumselig im Gottesdienst, so müßt ihr von nun an Eifer zeigen; wart ihr bisher schläfrig, so von nun an wachsam; ... wart ihr bisher unehrbar, so von nun an keusch ... Bedenkt wohl, welches Amt euch übertragen wird!» 21)
Bei der Diakonatsweihe richtet der Bischof im Namen der Kirche folgendes Gebet an Gott: «Es ziere sie die vorbildliche Fülle jeglicher Tugend: bescheidene Würde, beständige Schamhaftigkeit, reine Unschuld und Treue in der geistlichen Zucht. Ihr Lebenswandel sei ein strahlender Spiegel deiner Gebote, damit das Beispiel ihrer Keuschheit das Volk zu heiliger Nachahmung aneifere» 22).
Aber noch ergreifender drängt die Ermahnung vor der Priesterweihe: «Mit wahrhaft großer Ehrfurcht muß man zu einer so erhabenen Stufe emporsteigen, und es gilt, wohl darauf zu achten, daß übernatürliche Weisheit, unbescholtene Sitten und beharrlicher Wandel in der Rechtschaffenheit die dazu Auserwählten empfehle... Euer Leben sei wie ein Wohlgeruch, eine gewinnende Zier der Kirche Christi, so daß ihr mit Wort und Beispiel das Haus erbauet, nämlich die Familie Gottes». Am allereindringlichsten lautet der ge wichtige Zusatz: «Ahmet nach, was ihr vollzieht!» 23) All das steht in vollem Einklang mit der Vorschrift des heiligen Paulus, "jeden Menschen vollendet in Christus Jesus darzustellen" 24).
1189 Angesichts dieser hohen Auffassung der Kirche vom Priesterleben darf niemand sich wundern, daß die heiligen Väter und Lehrer diesbezüglich eine Meinung vertreten, die manchen fast übertrieben scheint. Und dennoch werden wir bei einer abwägenden Beurteilung ihrer Aussagen nichts darin vorfinden, was nicht vollkommen wahr und richtig wäre. Ihre Ansicht läßt sich wie folgt zusammenfassen: Zwischen einem Priester und einem gewöhnlichen rechtschaffenen Menschen soll ein Unterschied sein wie zwischen Himmel und Erde. Deswegen muß der Priester seine Tugend behüten vor jeder Gefährdung nicht nur durch schwere Sünden, sondern sogar durch ganz geringe Vergehen. Dieses Urteil hochachtsamer Männer hat sich das Konzil von Trient zu eigen gemacht, als es die Kleriker ermahnte, sich in acht zu nehmen «selbst vor läßlichen Sünden, die von ihnen begangen, sehr schwer wären» 25). Sehr schwer, gewiß nicht der Sache nach, sondern mit Rücksicht auf die Person, von der mit viel mehr Recht als von den Gotteshäusern die Forderung des Psalmisten gilt: "Deinem Hause ziemet Heiligkeit" 26).
1190 Sehen wir nun, worin die Heiligkeit besteht, die ein Priester ohne schweren Schaden nicht entbehren darf. Denn wer das nicht weiß oder falsch versteht, läuft sicher große Gefahr. Manche meinen nämlich und lehren sogar, des Priesters Verdienst bestehe schlechthin darin, sich restlos in den Dienst des Nächsten zu stellen. Infolgedessen sehen sie fast ganz ab von der Pflege jener Tugenden, die dem Menschen zur persönlichen Vollkommenheit verhelfen (sie nennen sie daher passive Tugenden). Alle Kraft und Bemühung, behaupten sie, müsse auf Aneignung und Betätigung der sogenannten aktiven Tugenden verwendet werden. Diese Lehre ist fürwahr erstaunlich irreführend und gefährlich. Darüber hat Unser hochverehrter Vorgänger mit genauer Sachkenntnis folgendes Urteil abgegeben 27): «Daß gewisse christliche Tugenden gewissen Zeiten besser angepaßt seien als andere, das kann nur jemand behaupten, der das Pauluswort vergessen hat: "Die er vorauserkannte, die hat er auch vorausbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu werden 28). Lehrmeister und Vorbild jeglicher Heiligkeit ist Christus; nach diesem Muster hat sich jeder zu richten, der einmal selig werden will. Nun aber ändert sich Christus nicht im Wandel der Jahrhunderte, "er ist vielmehr derselbe gestern und heute und in Ewigkeit" 29). An die Menschen aller Zeiten wendet sich folglich das Herrenwort: "Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen" 30). Und jederzeit ist Christus für uns Menschen ein Vorbild des Gehorsams bis zum Tode 31). Ebenso gilt die Losung des Apostels für jedwedes Zeitalter: "Die aber Christus angehören, haben ihr Fleisch samt seinen Leidenschaften und Lüsten ans Kreuz geschlagen" 32).
1191 Wenngleich diese Lehrworte jeden einzelnen Gläubigen betreffen, so richten sie sich doch eigens an die Priester. Sie mögen sich vor allen andern gesagt sein lassen, was Unser Vorgänger in seinem apostolischen Eifer weiterhin bemerkt: «Gebe Gott, daß heutzutage eine größere Zahl von Menschen diese Tugenden übten, wie die größten Heiligen früherer Zeiten, die kraft ihrer Demut, ihres Gehorsams und ihrer Enthaltsamkeit machtvoll wirkten in Wort und Tat, zum größten Nutzen der Religion und der Bürgergemeinschaft» 33).
Hier dürfte die Bemerkung wohl angebracht sein, daß dieser weise Papst gut beraten war, als er die Enthaltsamkeit eigens anführte, die wir nach dem Sprachgebrauch des Evangeliums Selbstverleugnung nennen, fliesen doch gerade aus dieser Quelle, geliebte Söhne, dem priesterlichen Wirken Kraft, Segen und Erfolg zu. Wird sie vernachlässigt, so wuchert alles, was im Lebenswandel des Priesters für Aug und Herz der Gläubigen zum Ärgernis werden kann. Denn handelt man aus schnöder Gewinnsucht, verstrickt man sich in weltliche Geschäfte, geizt man nach ehrenvollen Stellungen, verschmäht hingegen andere, frönt man den Lüsten des Fleisches und Blutes, buhlt man um die Gunst der Menschen, vertraut man menschlichen Überredungskünsten: all diese Laster erklären sich daraus, daß man Christi Gebot außer acht läßt und die von ihm gestellte Bedingung zurückweist: "Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst" 34).
1192 Wie sehr Wir auch das eben Gesagte betonen, so wiederholen Wir dennoch die Mahnung, daß der Priester letzten Endes nicht für sich selber heiligmäßig leben soll. Er ist ja der Arbeiter, den Christus "für seinen Weinberg zu dingen ausging" ). Ihm obliegt es also, das Unkraut zu jäten, nützliche Kräuter zu pflanzen, zu begießen und auch aufzupassen, daß der Feind nicht schlechten Samen unter den guten streue. Deshalb hüte sich der Priester, im Übereifer seines persönlichen Vollkommenheitsstrebens irgendeine seiner Amtspflichten zum Wohl der Mitmenschen etwa hintanzusetzen, wie z.B. die Predigt des Gotteswortes, das regelmäßige Beichthören, Krankenbesuche und nament-lich die Betreuung der Sterbenden, Religionsunterricht, Tröstung der Geprüften, Rückführung der Irrenden, kurz: die vollkommene Nachahmung Christi, der "umherzog, um Wohltaten zu spenden und alle zu heilen, die vom Teufel besessen waren" 35).
1193 Dabei darf er allerdings das bemerkenswerte Mahnwort des heiligen Paulus nie vergessen: "Weder auf den, der pflanzt, kommt es an, noch auf den, der begießt, sondern auf Gott, der das Gedeihen gibt" 37). Gewiß, wir können uns müde gehen und unter Tränen säen 36), wir können die Saat mit Mühe und Arbeit pflegen; daß sie aber keime und die erhofften Früchte bringe, das bewirkt freilich Gott allein und seine allmächtige Gnade. Ferner ist wohl zu bedenken, daß die Menschen nichts als Werkzeuge sind, deren sich Gott zum Heil der Seelen bedient. Folglich müssen sie so beschaffen sein, daß Gott sie handhaben kann. Wie ist das zu verstehen? Dürfen wir etwa annehmen, Gott lasse sich durch irgendeine unserer angeborenen oder erworbenen Fähigkeiten bestimmen, uns zur Mitarbeit an der Vermehrung seines Ruhmes herbeizuziehen? Keineswegs, denn es steht geschrieben: "Was der Welt töricht erscheint, hat Gott auserwählt, um die Weisen zu beschämen; und das Schwache in den Augen der Welt bat Gott auserwählt, um das Starke zu beschämen. Was der Welt gering und verächtlich erscheint, sogar was ihr nichts gilt, hat Gott auserwählt, um das, was Geltung hat, zunichte zu machen 39).
1194 Es gibt in Wirklichkeit nur eines, was den Menschen mit Gott verbindet, nur eines, was ihn gottgefällig und zum Gehilfen seiner Barmherzigkeit macht, so daß er vor ihm einigermaßen zu be-stehen vermag: ein heiliger Lebenswandel. Wenn diese Heiligkeit, die letzten Endes die alles überragende Wissenschaft Jesu Christi ist, dem Priester mangelt, so fehlt ihm alles. Denn ohne sie ist sogar ein reiches und außergewöhnliches Wissen (das Wir übrigens selber beim Klerus zu fördern bestrebt sind) und selbst praktische Gewandtheit und Lebenstüchtigkeit, mögen sie auch der Kirche oder den einzelnen zum Vorteil gereichen, dennoch gar oft eine Quelle bedenklicher Schädigungen.
Ein wahrhaft heiligmäßiger Priester hingegen, selbst der allergeringste, ist imstande, zahllose und erstaunliche Werke zu unternehmen und zu vollbringen für das Heil des Gottesvolkes. Das wird bezeugt durch eine ganze Reihe von Beispielen aus allen Jahrhunderten. Ein glänzender Beweis aus neuester Zeit ist Johann Baptist Vianney, dieser vorbildliche Seelenhirte, den Wir mit Freuden zur Ehre der Altäre erhoben haben. Nur durch Heiligkeit werden wir unserer göttlichen Berufung würdig; sie macht uns zu Menschen, die der Welt gekreuzigt sind und denen die Welt selber gekreuzigt ist; zu Menschen, die ihr Leben neugestaltet haben, die - wie Paulus sagt - "in Mühsalen, in Nachtwachen und Fasten, durch Reinheit und Erkenntnis, durch Langmut und Güte, im Heiligen Geist, mit ungeheuchelter Liebe und wahrheitsgetreuem Wort" 40) sich als Diener Gottes erweisen; Menschen also, die einzig und allein das übernatürliche Ziel im Auge haben und sich mit aller Kraft dafür einsetzen, auch die andern dahin zu führen.
1195 Bekanntlich ist jedoch die Heiligkeit insofern durch unsern Willen bedingt, als dieser durch Gottes Gnadenbeistand gestärkt wird. Daher hat Gott selber im reichsten Maße vorgesorgt, daß uns seine Gnade, wenn wir es nur wollen, keinen Augenblick fehle. Dazu verhilft uns vor allem der Gebetseifer. Tatsächlich besteht zwischen Gebet und Heiligkeit eine so enge Wechselbeziehung, daß das eine ohne das andere unmöglich ist. Diesbezüglich entspricht die Behauptung des heiligen Johannes Chrysostomus vollkommen der Wahrheit: «Ich meine, es sollte jedermann klar sein, daß ein tugendhaftes Leben ohne die Hilfe der Gnade einfach unmöglich ist» 41). Seinerseits sagt Augustinus klar und bündig: «Fürwahr, recht zu leben versteht, wer recht zu beten weiß» 42). Die gleiche Lehre hat uns Christus selber durch wiederholte Ermahnungen und insbesondere durch sein Beispiel nachdrücklich eingeschärft, indem er sich entweder in die Wüste zurückzog oder allein auf Bergeshöhen stieg, um zu beten. Ganze Nächte verbrachte er in inbrünstigem Gebet; oft ging er in den Tempel und hat sogar mitten im Volksgedränge den Blick gen Himmel erhoben und öffentlich gebetet. Schließlich hat er, ans Kreuz geheftet, inmitten der Todesschmerzen mit lauter Stimme und unter Tränen den Vater angerufen.
Halten wir also am unerschütterlichen Grundsatz fest: um seiner hohen Würde und seiner Berufspflicht gerecht zu werden, muß der Priester das Gebetsleben mit außergewöhnlicher Hingabe pflegen. Allzuoft ist ihm leider das Gebet eher eine Gewohnheit als ein Herzensbedürfnis. Zu bestimmten Stunden erledigt man ohne innere Anteilnahme das Brevier oder verrichtet nur spärliche Gebete und denkt tagsüber kaum mehr daran, sich an Gott zu wenden und sein Herz zu ihm zu erheben. Und doch sollte der Priester viel eifriger als irgend jemand Christi Gebot befolgen: "Man muß allzeit beten" 43), ein Gebot, das Paulus mit Nachdruck betont: "Seid beharrlich im Gebete, seid wachsam im Geiste der Danksagung" 44); "betet ohne Unterlaß!" 45)
1196 Wer vom Verlangen nach persönlicher Heiligung sowie von der Sorge um das ewige Heil des Nächsten beseelt ist, dem bieten sich ja im Lauf eines Tages unzählige Gelegenheiten, sich zu Gott zu erheben. Geheime Herzensnöte, heftige und hartnäckige Versuchungen, Mangel an Tugendkraft, Schlaffheit und Erfolglosigkeit im Wirken, häufige Vergehen und Nachlässigkeiten und schließlich die Furcht vor Gottes Gericht: all das drängt uns gebieterisch, Gott unser Leid zu klagen, seine Hilfe zu erflehen und bereitwillig unsere Verdienste bei ihm zu vermehren.
Und zwar müssen wir ihm nicht nur unser eigenes Leid klagen. Inmitten der allgemeinen und stets weiter um sich greifenden Sündenflut obliegt es vor allem uns, im Gebet Gottes Barmherzigkeit anzurufen und Christus im allerheiligsten Altarssakrament, den überaus gütigen Spender aller Gnaden, mit der Bitte zu bestürmen: "Verschone, o Herr, verschone dein Volk!" 46)
1197 Eines ist in diesem Zusammenhang ganz besonders wichtig: daß täglich eine bestimmte Zeit der Betrachtung der ewigen Wahrheiten gewidmet werde. Kein Priester kann sich dieser Pflicht entziehen, ohne den Vorwurf einer schweren Vernachlässigung auf sich zu laden und an seiner Seele Schaden zu leiden. In einem Brief an Eugen III. erteilt der heilige Abt Bernhard seinem einstigen Schüler auf dem päpstlichen Thron die freimütige und eindringliche Mahnung, die tägliche Betrachtung nie zu unterlassen, nicht einmal unter dem Vorwand der vielen und großen Sorgen des obersten Hirtenamtes. Er begründet diese Forderung, indem er die Vorteile dieser geistlichen Übung mit viel Geschick darlegt: «Die Betrachtung läutert die Quelle, aus der sie fließt, unsern Geist. Ferner regelt sie die Willensneigungen, gibt unserm Handeln die Richtung, macht die Fehler wieder gut, bildet den Charakter und gestaltet das Leben in Ehrbarkeit und Ordnung; endlich vermittelt sie die Kenntnis der übernatürlichen wie der menschlichen Wahrheiten. Sie klärt das Verworrene, versöhnt die Widersprüche, ergründet das Verborgene, enthüllt das Wahre, prüft das Wahrscheinliche, Trug und Schein entlarvt sie. Sie plant, was zu tun ist; überdenkt, was getan, damit nichts unverbessert oder besserungsbedürftig im Geiste zurückbleibe. Sie ist es, die im Glück das Unglück vorausahnt, im Unglück sozusagen unangefochten bleibt, wovon das eine Starkmut, das andere Klugheit ist» 47). Fürwahr, diese gewichtige Reihe von Vorteilen, die uns aus der Betrachtung erwachsen, belehrt und ermahnt uns zugleich, daß sie nicht nur in jeder Beziehung heilsam, sondern geradezu notwendig ist.
1198 So erhaben und ehrfurchtgebietend nämlich die verschiedenen Amtspflichten des Priesters auch sind, die Gewöhnung bringt es doch mit sich, daß man sie oft nicht mit der gebührenden Ehrerbietung verrichtet. So kommt es, daß der Eifer abflaut, die Gleichgültigkeit unmerklich zunimmt und sogar zum Überdruß an den heiligsten Dingen ausartet. Zudem lebt der Priester notgedrungen Tag für Tag sozusagen mitten unter einer verkommenen Gesellschaft, so daß er oft selbst bei der Ausübung seiner seelsorglichen Liebespflicht sich in acht nehmen muß vor den hinterlistigen Tücken der Hölle. Was Wunder, wenn auf dieser abschüssigen Bahn sogar geweihte Seelen mit Erdenstaub besudelt werden? Es erweist sich folglich als eine große und ernste Notwendigkeit, täglich zur Betrachtung der ewigen Wahrheiten zurückzukehren, damit Geist und Wille mit erneuter Kraft den Lockungen standhalten können.
1199 Außerdem kommt es dem Priester sehr zustatten, wenn er im steilen Aufstieg zu den überirdischen Regionen sich eine gewisse Fertigkeit aneignet, da ja seine ganze Pflicht darin besteht, von der Übernatur zu leben, zu reden und dahin zu führen; da er ja verpflichtet ist, sein ganzes Leben so hoch über alle menschlichen Interessen zu erheben, daß er bei einer jeden seiner Amtshandlungen Gott im Auge hat, angetrieben und geführt vom Glauben. Diese Geisteshaltung, diese gewissermaßen natürliche Verbindung mit Gott wird aber vornehmlich erzeugt und sichergestellt durch die heilsame Gepflogenheit der täglichen Betrachtung. Das ist für jeden Einsichtigen so selbstverständlich, daß sich hier ein längeres Verweilen erübrigt.
1200 Bedarf es für das Gesagte noch einer Bestätigung, so wird sie uns leider durch das Leben jener Priester geliefert, die entweder die Betrachtung geringschätzen oder für sie nur Widerwillen empfinden. Es ist offensichtlich, wie "der Geist Christi" 48), dieses überaus kostbare Gut, ihnen nahezu abgeht. Sie sind ganz den irdischen Dingen zugewandt, jagen nach eitlem Tand, gefallen sich in oberflächlichem Geschwätz, erfüllen ihre heiligsten Pflichten nachlässig, teilnahmslos und viel-leicht gar unwürdig. Einst, noch ganz unter dem Eindruck der heiligen Priesterweihe, bereiteten sie ihr Herz sorgfältig auf das Breviergebet vor, um nicht denen zu gleichen, die Gott versuchen. Sie wählten dazu günstige Stunden und suchten sich ein ruhiges Plätzchen aus; sie bemühten sich, den Sinn der heiligen Texte zu verstehen; Lobpreis, Klage und Jubel und ihre ganze Seele gossen sie in die Psalmen hinein. Und nun, wie sehr haben sie sich verändert! ...
Ebenso bleibt ihnen kaum ein winziger Rest von jener heiligen Ergriffenheit, mit der sie das Meßopfer feierten. Wie liebten sie damals das Gotteshaus! Ihr Herz sehnte sich danach, am Tische des Herrn zu stehen und auch die Gläubigen in wachsenden Scharen herbeizurufen. Vor der Messe, wie glühend war das Verlangen nach Reinheit, wie innig strömten die Gebete! Während der Feier sodann, wie groß war ihre Ehrfurcht, mit welcher Würde vollzogen sie bis in alle Einzelheiten die hehren Zeremonien! Wie gossen sie ihr ganzes Herz in der Danksagung aus, und Christi Segensstrom überflutete das Volk! ... "Erinnert euch doch", Wir beschwören euch, geliebte Söhne, "erinnert euch doch der vergangenen Tage!" 49) Damals brannte noch euer Herz, stets erwärmt am Feuerherd der Betrachtung.
1201 Unter den Geistlichen, welche die "Herzenserwägung" 50) als Last empfinden oder vernachlässigen, gibt es allerdings etliche, die ihre dadurch bedingte innere Leere nicht verhehlen, sich aber mit dem Vorwand entschuldigen, sie hätten sich zum allseitigen Nutzen der Mitmenschen mit Leib und Seele in den Strudel der Seelsorge gestürzt.
Unselige Selbsttäuschung! Da sie nämlich gar nicht gewohnt sind, mit Gott zu reden, fehlt ihnen durchaus der lebendigmachende Geist Gottes, wenn sie von ihm zu den Menschen sprechen oder Ratschläge erteilen für das christliche Leben. Es ist, als ob das Wort Gottes fast tot von ihren Lippen fiele. Mag ihre Rede sich noch so sehr durch Klugheit und Beredsamkeit auszeichnen, sie ist jedoch kein Echo der Stimme des guten Hirten, der die Schäflein zu ihrem Heil Gehör schenken. Sie lärmt und verhallt im Winde, bisweilen erregt sie sogar Ärgernis, bringt somit die Religion in Verruf und wird zum Stein des Anstoßes für die Gutgesinnten. Nicht anders verhält es sich auf den übrigen Gebieten ihrer Tätigkeit. Diese zeitigt entweder keine Erfolge von greifbarem Nutzen oder nur Augenblicksgewinne. Es fehlt der Segenstau des Himmels, den "das Gebet des Demütigen" 51) in reicher Fülle herabzuflehen vermag.
1202 Hier können Wir nicht umhin, dem schmerzlichen Leid Ausdruck zu geben, das Wir um jene empfinden, die unter dem unheilvollen Einfluß moderner Anschauungen sich nicht scheuen, eine gegenteilige Meinung zu vertreten und die auf Betrachtung und Gebet verwandte Zeit als verloren bezeichnen. Sie sind fürwahr mit Blindheit geschlagen! Möchten sie doch in ehrlicher Selbstbesinnung endlich erkennen, wohin diese bedenkliche Vernachlässigung und Mißachtung des Gebetes führt! Das war von jeher der Nährboden eines hartnäckigen Hochmutes, der überaus bittere Früchte zeitigte. Unser Vaterherz sträubt sich, sie nur zu erwähnen, und wünscht, sie gänzlich ausgerottet zu wissen. Gebe Gott, daß sich Unser Wunsch erfülle! Möge er auf die Verirrten huldvoll herabblicken und "den Geist der Gnade und des Gebetes" 52) in solcher Fülle über sie ausgießen, daß sie ihren Irrtum bedauern, zur allgemeinen Freude bereitwillig auf den leider verlassenen Weg zurückkehren und vorsichtiger weiterschreiten. Wie einst dem Apostel 53), so sei Gott Unser Zeuge, daß Wir Uns nach ihnen allen sehnen in der Liebe Jesu Christi.
1203 Ihnen und euch allen, geliebte Söhne, möge Unser Mahnwort tief zu Herzen gehen; es ist ja die Mahnung unseres Herrn Jesus Christus selber: "Seid auf der Hut, wachet und betet!" 54) Vor allem auf die Übung des betrachtenden Gebetes sollte ein jeder seine ganze Sorgfalt verwenden. Zugleich bemüht euch um Stärkung des Vertrauens durch die immer wiederholte Bitte: "Herr, lehre uns beten 55) Ferner gibt es noch einen besonderen Grund von nicht zu unterschätzender Bedeutung, der uns zur Betrachtung aneifern sollte. Wir meinen die Überzeugungskraft des beratenden Wortes und des tugendhaften Lebens, die uns aus der Betrachtung zufließt und die in der Seelenführung, unserer allerschwierigsten Aufgabe, so überaus nützlich ist.
Bei dieser Gelegenheit möchten Wir auf das bemerkenswerte Hirtenwort des heiligen Karl Borromäus hinweisen: «Erkennet Brüder, daß für alle Geistlichen nichts so notwendig ist wie das betrachtende Gebet, das jede unserer Handlungen vorbereiten, begleiten und abschließen sollte. "Ich will lobsingen", sagt der Prophet, "und werde begreifen" 56). Spendest du die Sakramente, Bruder, bedenke, was du tust; feierst du die heilige Messe, bedenke, was du opferst; betest du das Brevier, bedenke, zu wem und was du sprichst; gibst du den Seelen Anleitung, bedenke, durch wessen Blut sie erkauft wurden!» 57) Mit Recht läßt uns also die Kirche das Psalmwort Davids häufig wiederholen: "Selig der Mann..., der seine Freude hat am Gesetz des Herrn, bei Tag und bei Nacht über seinem Gesetze sinnt... Alles, was er beginnt, gerät ihm wohl" 58).
Schließlich sei noch der alleredeLste Beweggrund genannt, der uns zur Betrachtung anspornen soll. Wenn nämlich der Priester ein «zweiter Christus» genannt wird und es auf Grund der Teilnahme an dessen Gewalt auch ist, muß er dann nicht in jeder Beziehung das werden und als solcher gelten, indem er Christi Leben nachahmt?... «So sei es denn unser höchstes Bestreben, das Leben Christi zu betrachten» 59).
1204 Neben der täglichen Betrachtung der göttlichen Wahrheiten ist die regelmäßige geistliche Lesung, besonders aus der Heiligen Schrift, für den Priester von großer Bedeutung. Das hat schon der heilige Paulus dem Timotheus empfohlen: "Pflege die Lesung!" 60) Das hat auch Hieronymus in seiner für Nepotian bestimmten Anleitung zum priesterlichen Leben nachdrücklich betont: «Leg niemals die Heilige Schrift aus der Hand!» Was er wie folgt begründet: «Lerne kennen, was du lehrst: halte fest an der zuverlässigen Lehre, die der Tradition entspricht, damit du imstande seist, in der gesunden Lehre zu unterrichten und ihre Gegner zu widerlegen» 61). Tatsächlich gereicht diese Lesung jenen Priestern zu großem Nutzen, die sie treu und beharrlich pflegen. Wie gehaltvoll sind ihre Worte, wenn sie Christus predigen! Wie gut verstehen sie es, statt ihren Zuhörern mit weichlicher Kost zu schmeicheln, deren Geist und Herz zum Fortschritt anzufeuern, deren Sinnen und Trachten auf höhere Ideale hinzulenken!
1205 Aber noch aus einem andern Grunde, der für euer persönliches Heiligkeitsstreben ausschlaggebend ist, hat die Weisung desselben Hieronymus ihre Bedeutung: «Habe stets die Heilige Schrift zur Hand!» 62) Jedermann weiß ja, welch großen Einfluß auf das Herz des Menschen ein treuer Freund auszuüben vermag, der ihn freimütig ermahnt, mit seinem Ratschlag stützt, ihn zurechtweist, aufmuntert und vor Fehltritten warnt. "Glücklich, wer einen wahren Freund gefunden" 63). "Wer ihn gefunden, hat einen Schatz entdeckt" 64).
Zu unsern wahrhaft treuen Freunden müssen wir die religiösen Bücher zählen. Denn sie erinnern uns ernsthaft an unsere Pflichten und an die Gebote Gottes, sie wecken die halb erstickte Stimme des Gewissens, sie rügen die Lässigkeit in der Vorsatztreue, sie schrecken uns auf aus trügerischer Ruhe, tadeln ungebührliche oder heimliche Herzensneigungen und decken Gefahren auf, die oft den Unvorsichtigen umlauern. Und zwar leisten uns die erbaulichen Bücher all diese Dienste mit so verschwiegenem Wohlwollen, daß sie sich nicht nur als Freunde, sondern als unsere allerbesten Freunde erweisen. Sie stehen uns nach Belieben zur Verfügung, sind gleichsam stets an unserer Seite und zu jeder Stunde hilfsbereit in unsern persönlichsten Anliegen. Ihre Stimme klingt nie verletzend, ihr Rat niemals eigennützig, ihr Zuspruch nie befangen oder verlogen.
1206 Die heilsame Wirkung der guten Lektüre geht aus zahlreichen und herrlichen Beispielen hervor, worunter das Erlebnis des heiligen Augustinus gewiß besondere Erwähnung verdient, gab es doch den Anstoß zu seinem äußerst verdienstvollen Wirken in der Kirche. "Nimm, lies! Nimm, lies! ... Ich griff hastig danach, ich schlug sie auf (nämlich die Paulusbriefe) und las still für mich... Als ob sich ein Strahl von Sicherheit in mein Herz ergossen, war alle Finsternis des Zweifels zerstoben". 65)
Demgegenüber geschieht es heutzutage leider allzuoft, daß sich Geistliche von der Finsternis des Zweifels allmählich übermannen lassen und auf die abwegigen Pfade der Welt geraten, namentlich weil sie der Heiligen Schrift und der religiösen Literatur andere Bücher der verschiedensten Art und sogar den Blätterwald der Tagespresse bei weitem vorziehen, die doch wimmelt von verfänglichen Irrtümern und Anzüglichkeiten. Seid auf eurer Hut, geliebte Söhne! Traut nicht zuviel auf euer reifes und fortgeschrittenes Alter und laßt euch nicht durch die trügerische Hoffnung narren, ihr könntet daraus für euer Wirken etwas gewinnen! Es gibt bestimmte Grenzen, die teils durch die kirchliche Gesetzgebung festgelegt, teils durch die Klugheit und die Sorge um das eigene Seelenheil abgesteckt sind. Denn wer ein einziges Mal dieses heimtückische Gift in seine Seele eindringen läßt, wird höchst selten den schädlichen Folgen der unheilträchtigen Ansteckung entgehen.
1207 Ferner wird der Priester aus der geistlichen Lesung und aus der Betrachtung zweifellos noch größeren Nutzen ziehen, wenn er sich überdies zu einer Art Selbstkontrolle verpflichtet, die ihm festzustellen erlaubt, ob er den Ertrag seiner Lektüre und seiner Betrachtung auch in die Tat umzusetzen bemüht ist. Sehr zutreffend ist diesbezüglich der ausgezeichnete Rat des heiligen Johannes Chrysostomus, der sich vornehmlich an den Priester wendet. Allabendlich vor dem Einschlafen «erforsche dein Gewissen, fordere Rechenschaft von ihm. Und hast du tagsüber schlechte Entschlüsse gefaßt..., begrabe und vernichte sie und leg dir eine Strafe dafür auf» 66) Wie wichtig und förderlich dieses Mittel für den Tugendfortschritt ist, das beweisen zur Genüge die vortrefflichen Ratschläge und Mahnworte der erfahrensten Lehrmeister des geistlichen Lebens. Wenigstens die berühmte Stelle aus der Regel des heiligen Bernhard sei hier angeführt: «Als wißbegieriger Erfor-scher deiner Herzensreinheit unterziehe deinen Lebenswandel einer täglichen Prüfung. Merk dir genau deine Fortschritte und deine Untreuen... Trachte nach Selbsterkenntnis! ... Fasse deine sämtlichen Vergehen ins Auge. Stell dich vor dich selber hin wie vor einen andern und dann jammere über dich selbst!» 67)
1208 Auch in dieser Beziehung wäre es wahrhaftig eine Schande, wenn Christi Wort zuträfe: "Die Kinder dieser Welt sind klüger als die Kinder des Lichtes." 68) Seht nur, mit welcher Emsigkeit diese Menschen ihre Geschäfte betreiben: wie oft vergleichen sie Ausgaben und Einnahmen, mit welch peinlicher Genauigkeit machen sie ihre Abrechnungen, wie schmerzlich empfinden sie erlittene Verluste und treiben sich selbst energisch an, sie wiedergutzumachen. Wie steht es hingegen mit uns? Vielleicht verzehrt uns ein glühendes Verlangen nach Ehren, nach Vermehrung unseres Ver-mögens, nach Berühmtheit und Glanz einzig auf Grund unseres Wissens. Das wichtigste und allerschwierigste Geschäft hingegen, nämlich das Streben nach Heiligkeit, betreiben wir mit Saumseligkeit und Überdruß. Denn nur spärliche Augenblicke widmen wir der inneren Sammlung und der Erforschung unserer Seele. Daher verwildert sie beinahe wie der Weinberg des trägen Mannes der Heiligen Schrift: "Am Acker des faulen Mannes kam ich vorüber und am Weinberg des Toren. Siehe da, er war ganz aufgegangen in Nesseln und über und über mit Unkraut bedeckt, und seine Mauer war eingestürzt". 69) Die Lage verschlimmert sich noch, weil die schlechten Beispiele, die sogar für die Tugend des Priesters keine geringe Gefahr bedeuten, rings um ihn herum immer häufiger werden. Somit tut es not, Wachsamkeit und Widerstandskraft Tag für Tag zu steigern. Die Erfahrung lehrt ja, daß wer seine Gedanken, Worte und Werke häufig einer strengen Prüfung unterzieht, mehr Willenskraft besitzt, um sowohl das Böse zu verabscheuen und zu meiden, wie auch das Gute zu lieben und anzustreben.
1209 Ebenso ist es eine Erfahrungstatsache, daß derjenige fast unvermeidlich schwere Einbußen und Schädigungen erleidet, der diesem Gericht ausweicht, wo die Gerechtigkeit Richterin und das Gewissen zugleich Beklagter und Kläger ist. Umsonst sucht man bei ihm jene dem Christen so gut anstehende Bedachtsamkeit, die ihn sogar geringere Fehler meiden läßt; jene zartfühlige Gewissenhaftigkeit, die das besondere Merkmal des Priester sein sollte und die schon vor der leisesten Beleidigung Gottes zurückschreckt. Noch mehr! Diese Unbesonnenheit und Vernachlässigung seiner selbst führt manchmal so weit, daß man sogar den Empfang des Bußsakramentes gleichgültig verabsäumt. Und doch hat uns Christus in seiner grenzenlosen Barmherzigkeit kein besseres Hilfsmittel gegeben für unsere menschliche Schwachheit.
Schweren Herzens muß man die gar nicht so seltene Tatsache leider zugeben, daß jener, der seine Mitmenschen mit flammenden Kanzelworten von der Sünde abzuschrecken versucht, selber davor nicht zurückschreckt und sich in seiner Schuld verhärtet. Er mahnt und drängt die andern, die pflichtgemäße Läuterung ihrer Seele ja nicht hinauszuzögern, tut es jedoch selber mit solcher Saumseligkeit, daß er mehrere Monate darüber verstreichen läßt. Für die Wunden anderer hat er linderndes Öl und Wein bereit, bleibt aber selber verwundet am Wegrand liegen, ohne die heilende Hand eines Mitbruders, der doch ganz in der Nähe wäre, für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Ach, wie bedauerlich waren mancherorts und sind noch heute die Folgen derartiger Mißstände: Unwürdigkeit vor Gott und der Kirche, Unsegen für die breite Masse der Gläubigen, Schmach und Schande für den Priesterstand!
1210 Geliebte Söhne! Ob diesen Erwägungen, die für Uns Gewissenspflicht sind, blutet unser Herz und bricht in den Klageruf aus: Wehe dem Priester, der seine hohe Stellung nicht zu wahren weiß und den Namen des hochheiligen Gottes, dem er in Heiligkeit geweiht sein sollte, durch seine Untreue schändet! Je erhabener die Würde, desto trauriger der Fall. «Groß ist die Würde der Priester, aber groß die Katastrophe, wenn sie sündigen. Freuen wir uns über ihren Aufstieg, aber bangen wir um ihren Absturz! Bei weitem nicht so groß ist die Freude über die Bezwingung eines Gipfels, wie die Trauer um einen Abgestürzten» 70).
Wehe darum dem Priester, der sein eigenes Heil vergißt und den Gebetsgeist verliert; der die Seelennahrung der geistlichen Lesung zurückweist, der nie in sich geht und die anklagende Stimme des Gewissens überhört! Weder die eiternden Wunden seiner Seele, noch die mütterlichen Tränen der Kirche werden den Elenden zur Besinnung bringen, bis ihn schließlich die schreckliche Drohung trifft: "Verstocke das Herz dieses Volkes, mach taub seine Ohren, mach blind seine Augen, damit es nicht sehe mit seinen Augen, nicht höre mit seinen Ohren, sein Herz nicht erkenne, sich nicht bekehre noch Heilung finde!" 71)
Möge Gott in seinem reichen Erbarmen diese traurige Drohung an keinem von euch, geliebte Söhne, in Erfüllung gehen lassen! Er kennt Unser Herz und weiß es frei von jedweder Bitternis irgendeinem gegenüber, ja vielmehr erfüllt von lautester Hirten- und Vaterliebe für alle. "Denn wer ist unsere Hoffnung, unsere Freude, unser Ruhmeskranz vor unserem Herrn Jesus Christus, wenn nicht gerade ihr?" 72)
1211 Nun aber seht ihr doch selbst, allenthalben in der Welt, welch gefahrvolle Zeitläufe die Kirche nach Gottes geheimem Ratschluß gegenwärtig durchlebt. Seht ebenfalls und erwägt, welch heilige Verpflichtung euch dazu anhält, jener in der Not nach Kräften beizustehen, die euch mit einer so erhabenen Würde ausgestattet hat. Daher muß der Klerus heute mehr denn je sich durch ungewöhnliche Tugend auszeichnen, die schlechthin vorbildlich, tatkräftig und regsam ist, und schließlich restlos bereit, für Christus Heldenhaftes zu leisten und zu erdulden 73). Nichts erbitten und wünschen Wir euch allen und einem jeden von euch mit heißerer Inbrunst.
Haltet also die Keuschheit, diese auserlesene Zierde unseres Standes, hoch in Ehren und bewahrt sie zeitlebens unversehrt! Ihr Glanz macht den Priester den Engeln ähnlich, sichert ihm die Hochachtung der Gläubigen und verleiht seinem Wirken übernatürliche Segenskraft. Wachsen und ständig erstarken mögen in euch Ehrfurcht und Gehorsam, die ihr einst jenen feierlich versprochen habt, die der Heilige Geist zu Vorstehern der Kirche bestellt. Vor allem mit dem Apostolischen Stuhl, dem nach Recht und Billigkeit ehrfürchtige Unterwürfigkeit gebührt, sollen euch stets engere Bande der Gesinnungs- und Herzenstreue verbinden.
1213 Zeichnet euch alle aus durch ein hohes Maß jener Liebe, die sich nie von Eigennutz leiten läßt. Meistert die allzu menschlichen Triebe des Neides, der Habgier und der Ehrsucht, und richtet euer ganzes Sinnen und Trachten in brüderlichem Wetteifer auf die größere Ehre Gottes! Auf die Wohltaten eurer Nächstenliebe wartet in ihrem unsäglichen Elend "eine große Menge Kranker, Blinder, Lahmer und Siecher 74); es warten vor allem auch die unabsehbaren Scharen der Jugend, diese teuerste Hoffnung des Staates und der Kirche, die von Trug und Laster rings umworben wird.
Widmet euch mit ungeteilter Hingabe dem Katechismusunterricht, den Wir euch neuerdings instän-dig ans Herz legen, und macht euch mit allen Mitteln, die euch Erfahrung und praktischer Sinn eingeben, um alle Kreise im höchsten Maße verdient. Ob ihr helft oder vorbeugt, ob ihr heilt oder Frieden stiftet, stets sei es euer letztes Ziel, ja euer glühendes Verlangen, Seelen für Christus zu gewinnen oder näher zu ihm zu führen. Seht nur, wie aktiv, unermüdlich und angriffslustig die Feinde Christi ständig am Werk sind, um den Ruin der Seelen zu betreiben!
Der katholischen Kirche gereicht es zur Freude und ruhmvollen Ehre, daß ihre Priester im Geiste der Liebe den Frieden Christi verkünden, die Heilsbotschaft und die Kulturgüter hinaustragen bis zu den unzivilisierten Völkern. Dank ihren gewaltigen Strapazen und nicht selten um den Preis ihres Lebensopfers ist Christi Reich fortwährend im Wachsen, und der heilige Glaube gewinnt durch immer neue Siege an Glanz und an Hochachtung.
Und solltet ihr, wie es gar oft geschieht, für eure Liebesdienste Mißgunst, Vorwürfe und Verleumdung ernten, se seid darob nicht traurig, "werdet nicht milde, Gutes zu tun!" 75) Schaut auf zu jenen Heldenscharen, ebenso glorreich durch ihre Zahl wie durch ihre Verdienste, die gemäß dem Vorbild der Apostel trotz der grausamsten Schmähungen um Christi Namen willen "voll Freude ihres Weges gingen" und die Verwünschungen mit Segensworten erwiderten 76). Sind wir doch Söhne und Brüder der Heiligen, deren Namen strahlend im Buch des Lebens stehen, deren Ruhmestaten die Kirche verkündet. "Wir wollen durch keine Schandtat unsere Ehre besudeln!" 77)
1214 Ist einmal die Erneuerung und das Wachstum der priesterlichen Weihegnaden in den Reihen des Klerus sichergestellt, dann wird Unsern Reformplänen auf allen übrigen Gebieten mit Gottes Beistand größerer Erfolg beschieden sein. Deswegen erschien es Uns angezeigt, den obigen Darlegungen noch einige praktische Ratschläge beizufügen, die euch zur Bewahrung und Vermehrung eurer Berufsgnade dienlich sein können. An erster Stelle nennen Wir ein Mittel, das zwar allbekannt und anerkannt ist, aber nicht gleichermaßen von allen tatsächlich zunutze gezogen wird. Wir meinen die Exerzitien oder geistlichen Ubungen, wenn möglich alljährlich, entweder privat oder noch besser gemeinsam, was ihren Erfolg gewöhnlich erhöht. Man halte sich an die Vorschriften der Bischöfe. Die Nützlichkeit dieser Übungen haben Wir selbst in Unseren diesbezüglichen Weisungen für den römischen Klerus hinlänglich betont 78). Ebenso segensreich ist sodann die monatliche Geisteserneuerung, wozu man sich einzeln oder gemeinsam auf einige Stunden in die Stille zurückzieht. Mit Freuden stellen Wir fest, daß dieser Brauch sich schon mancherorts eingebürgert hat und die Befürwortung der Bischöfe findet, die bisweilen das Priesterkapitel persönlich leiten.
1215 Ein anderes Herzensanliegen, das Wir euch sehr empfehlen, ist der engere Zusammenschluß der Priester, wie es sich für Brüder geziemt, und zwar mit der Billigung und unter der Oberleitung des Bischofs. Solche Priestervereinigungen sind gewiß zu empfehlen, sei es zur gegenseitigen Unterstützung in Widerwärtigkeiten, sei es zur Verteidigung der Ehre und Vorrechte des Priesterstandes gegenüber böswilligen Anfeindungen, wie auch aus andern ähnlichen Gründen.
Aber noch wichtiger ist es, daß sich derartige Vereinigungen bilden zur Vertiefung des theologischen Wissens und insbesondere zur nachhaltigen Festigung im Streben nach standesgemäßer Heiligkeit, sowie zur gemeinsamen Beratung über Probleme und Methoden der Seelsorge. Die Kirchengeschichte bezeugt, daß überall, wo die Priester ein gemeinsames Leben führten, diese Gemeinschaften jeweils vielfältigen Segen stifteten. Warum sollte etwas Ähnliches, freilich unter Anpassung an die verschiedenen örtlichen Verhältnisse und Aufgaben, nicht auch in unserer Zeit durchführbar sein? Wäre daraus zum Vorteil der Kirche nicht derselbe Gewinn zu erhoffen wie ehedem?
Übrigens fehlt es nicht an bischöflich gutgeheißenen Vereinigungen ähnlicher Art, deren Nutzen umso größer ist, je früher sich der Neupriester ihnen anschließt. Wir selbst haben einst als Diözesanbischof einen Priesterverein begünstigt, dessen wohltätigen Einfluß Wir feststellen konnten. Heute noch schenken Wir ihm neben mehreren andern Unser besonderes Wohlwollen. Diese Stützen der priesterlichen Berufsgnade sowie alle Hilfsmittel, die euch durch die Wachsamkeit und Umsicht der Bischöfe je nach den Umständen empfohlen werden, sollt ihr, geliebte Söhne, so schätzen und anwenden, daß euer Lebenswandel des Berufes, der euch zuteil geworden, täglich würdiger sei 79), indem ihr eurem Amte Ehre macht und Gottes Willen an euch in Erfüllung gehen laßt, nämlich "eure Heiligung". 80)
1216 Das ist fürwahr der Hauptgegenstand Unserer Gedanken und Sorgen. Deshalb erheben Wir Unsere Augen zum Himmel empor und wiederholen öfters für den gesamten Klerus das inständige Gebet Jesu Christi: "Heiliger Vater... heilige sie!" 81) Wir freuen Uns im Gedanken, daß zahlreiche Gläubige jeglichen Standes, in der Sorge um euer und der Kirche gemeinsames Wohl, in diesem Gebete mit Uns vereinigt sind. Ja, über die Maßen tröstlich ist das Bewußtsein, daß es nicht nur in den Klöstern, sondern auch mitten in der Welt viele großmütige Seelen gibt, die eben zu diesem Zweck in unverbrüchlicher Opfergesinnung Gott ihr ganzes Leben weihen. Möge der Allerhöchste ihre reinen und erhabenen Gebete huldvoll entgegennehmen und auch Unsere demütigen Bitten nicht verschmähen. Möge er, so flehen Wir zu ihm, in seiner gütigen Vorsehung uns seine Gunst erweisen und aus dem allerheiligsten Herzen seines vielgeliebten Sohnes einen Strom der Gnade, der Liebe und jeglicher Tugend über den ganzen Klerus ausgießen.
Schließlich sprechen Wir euch, geliebte Söhne, Unsern innigsten Dank aus für die Glückwünsche, die ihr Uns anläßlich Unseres bevorstehenden fünfzigsten Priesterjubiläums durch mannigfache Liebesbezeugungen dargebracht habt. Die Wünsche, die Wir unserseits für euch hegen, vertrauen Wir der allerseligsten Jungfrau und Gottesmutter an, der Königin der Apostel, damit sie sich umso schöner erfüllen. Sie hat ja die glücklichen Erstlinge des Priestertums durch ihr Beispiel belehrt, einmütig im Gebet zu verharren, bis die Kraft aus der Höhe über sie kam. Eben diese Kraft hat Maria den Aposteln durch ihre Fürbitte gewiß in noch viel reicherem Ausmaß vermittelt, wie auch mit ihrem Rat vermehrt und gefestigt, zum gesegneten Erfolg ihres Wirkens.
Inzwischen ist es Unser Wunsch, geliebte Söhne, der Friede Christi möge in euren Herzen walten samt der Freude des Heiligen Geistes 82). Zum Unterpfand dessen erteilen Wir euch allen in herzlicher Liebe den Apostolischen Segen.
Gegeben zu Rom bei St. Peter, am 4. August 1908, zu Beginn des sechsten Jahres Unseres Pontifikates
PAPST PIUS X.
Inhaltsangbe:
Einleitung: Anlaß und Zweck des Rundschreibens 1. Sorge des Papstes um die Heiligkeit des Priesterlebens, 1182. 2. Aufforderung an den Klerus zum Streben nach Heiligkeit, 1183.
I. Die heilige Sendung erfordert heilige Diener 1. Forderung: Übereinstimmung zwischen Lehre und Leben, 1184. 2. Forderung: Gleichförmigkeit mit Christus, 1185-1186.
II. Mittel zur Selbstheiligung des Priesters 1. Sorgfältige Bildung der Priesteramtskandidaten, 1187. 2. Stufen und Mahnworte des Weiheritus, 1188. 3. Die grundlegenden Priestertugenden, 1189: a) "Passive" Tugenden: Demut, Gehorsam, Selbstverleugnung, 1190-1191. b) Selbstlose Hingabe an den Nächsten, 1192. c) Bewußtsein der Dienerschaft vor Gott und Menschen, 1193. 4. Das Gebetsleben des Priesters a) Unbedingte Notwendigkeit des Gebetes: - Heiligkeit ist erstes Erfordernis, 1194. - Heiligkeit ist unmöglich ohne Gebet, 1195. - Gebet für sich und die andern, 1196. b) Die hauptsächlichsten geistlichen Übungen: - Die tägliche Betrachtung, 1197-1203. - Die geistliche Lesung, 1204-1206. - Die tägliche Gewissenserforschung, 1207-1209.
III. Feststellungen und Anweisungen 1. Dringende Erfordernisse heute, 1210-1211. a) Keuschheit und Gehorsam, 1212. b) Liebe und Selbstzucht, 1213. 2. Einige praktische Winke: a) Exerzitien und Geisteserneuerung, 1214. b) Priestervereine und Gemeinschaftsleben, 1215.
Schluß: Gebet und Dank des Papstes 1216.
Anmerkungen: 1) Pius X., Mahnwort an den katholischen Klerus anläßlich seines 50. Priesterjubiläums. ASS XLI (1908) 555-577. - zitiert nach: DOKUMENTE VON PIUS IX. BIS PIUS XII. - HEILSLEHRE DER KIRCHE - Deutsche Ausgabe des franz. Originals von P. Cattin O.P. und H. Th. Conus O.P.besorgt von Anton Rohrbasser; Freiburg/Schweiz 1953 2) Hebr. XIII, 17. 3) 1 Tim. VI, 11. 4) Eph. IV, 23-24. 5) Dan. III, 39. 6) Kol. I, 10. 7) Hebr. V, 1. 8) Tit. I, 16. 9) Apg. I, 1. 10) Matth. V, 13. 11) I Kor. IV, 1. 12) II Kor. v 20. 13) Joh. XV, 15-16. 14) C. SALLUSTIUS, Catil. XX, 4. 15) Hebr. VII, 26. 16) Johannes Chrysostomus, Homil, LXXXII, in Matth. n. 5. PG 58,743. 17) Karl Borromäus, Homil. (Mailand 1748) Bd. v 77: Orat. II in syn. dioec. XI (1584). 18) Ps. XV, 5. 19) Hieronymus, Epist. III, ad Nepotianum n. 5. CV 54,421; PL 22, 531. 20) Römisches Pontificale, Subdiakonatsweihe, Ermahnung des Bischofs. 21) Ebd., Mahnwort an die Weihekandidaten. 22) Ebd., Diakonatsweihe, Präfation mit Handauflegung. 23) Römisches Pontificale, Priesterweihe, Mahnwort an die Weihekandidaten. 24) Kol. I, 28. 25) Konzil von Trient, Sess. XXII, De Reform. c.1. Mansi 33, 133. 26) Ps. XCII, 5. 27) Leo XIII., Schreiben "Testem benevolentiae" an Kard. Gibbons, Erzbischof von Baltimore, vom 22. Januar 1899. ASS XXXI (1899) 476-477. 28) Röm. VIII, 29. 29) Hebr. XIII, 8. 30) Matth. XI, 29. 31) Vgl. Phil. II 8. 32) Gal. V, 24. 33) Leo XIII. Schreiben "Testem benevolentiae" vom 22. Januar 1899. ASS XXXI (1899) 477. 34) Matth. XVI, 24. 35) Matth. XX, 1. 36) Apg. X, 38. 37) I Kor. III, 7. 38) Vgl. Ps. CXXV, 6. 39) I Kor. I, 27-28. 40) II Kor. VI, 5-7. 41) Johannes Chrysostomus, De precatione, orat. 1. PG 50, 777. 42) Augustinus, Sermo in append. 55 n. 1. PL 39,1849. 43) Luk. XVIII, 1. 44) Kol. IV, 2. 45) I Thess. V, 17. 46) Joel II, 17. 47) Bernhard, De Considerat. I 7. PL 182, 737. 48) I Kor. II, 16. 49) Hebr. X, 32. 50) Jer. XII, 11. 51) Eccli. XXXV, 21. 52) Zach. XII, 10. 53) Vgl. Phil. I, 8. 54) Mark. XIII, 33. 55) Luk. XI, 1. 56) Ps. c 1-2. 57) Karl Borromaeus, Ex orat. ad clerum. 58) Ps. I, 1-3. 59) Nachfolge Christi I, 1. 60) I Tim. IV, 13. 61) Hieronymus, Epist. LII, ad Nepotianum n. 7. PL 22, 533. 62) Hieronymus, Epist. LVIII, ad Paulinum n. 6. CV 54, 535; PL 22, 583. 63) Eccli. XXV, 12. 64) Eccli. VI, 14. 65) Augustinus, Confessiones I. VIII c. XII. CV 33, 194-195; PL 32, 762. 66) Johannes Chrysostomus, Expossit. in Ps. IV n. 8. PG 55, 51. 67) Bernhard, Meditationes piissimae v: De quotid. sui ipsius examine. PL 184, 494. 68) Luk. XVI, 8. 69) Sprüche XXIV, 30-31. 70) Hieronymus, In Ezech. XIII, 44, v. 30. PL 25, 443-444. 71) Isaias VI, 10. 72) I Thess. II, 19. 73) Vgl. Titus Livius, Ab urbe condita II, 12. 74) Joh. V, 3. 75) II Thess. III, 13. 76) Apg. V, 41; XIII, 52; vgl. Luk. VI, 28; I Kor. IV, 12. 77) I Makk. IX, 10. 78) Vgl. Pius X., Schreiben Experiendo an den Kardinal-Vikar von Rom, am 27.12.1904. ASS XXXVII (1904) 421. 79) Vgl. Eph. IV, 1. 80) Thess. IV, 3. 81) Joh. XVII, 11, 17. 82) Vgl. Kol. III, 15; I Thess. I, 6.
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