Im Schatten des Antichrist
von Magdalena S. Gmehling
Vor 170 Jahren erschien John Henry Newmans Traktat über den Antichrist:
"Bei dem gegenwärtigen Stand des Dinge..., muss ich glauben, dass die patristische Vision vom Antichrist als einer kommenden übernatürlichen Macht ein großer providentieller Gewinn ist, da er ein Gegengewicht ist zu den bösen Tendenzen dieser Zeit."
Zweifellos war er eine der aufrechtesten Gestalten im England des 19. Jahrhunderts. John Henry Newman suchte sein ganzes Leben glühend die Realisierung des Christentums in der Zeit. Im Staat sah er eine Front feindlicher Gegenmächte. Der Feuergeist und spätere Kardinal galt als erklärter Gegner des Liberalismus. Ein Mann von kompromissloser Geradlinigkeit, Gewissenstreue und feinem Humor, so schildern ihn die Zeitgenossen. 1833 gründete er zur Bekämpfung des anti-dogmatischen Prinzips die Oxford Bewegung. Mit dieser verbunden waren die Veröffentlichungen des "Tracts", der Flugschriften, die aus heiterem Himmel wie Blitze einschlugen.
1838 wurden im Rahmen der "Tracts for the Times" vier Adventspredigten John Henry Newmans aus dem Jahre 1835 erstmals als "Die patristische Ansicht vom Antichrist" veröffentlicht. Der begnadete Intellektuelle, damals noch Anglikaner, rief die Bischöfe seiner Kirche auf, sich zum Martyrium bereit zu machen. Rom erscheint ihm - ganz im überlieferten Sinne des Protestantismus - als ein unentwirrbares Gemisch von Gut und Böse. Allerdings erkennt er sehr schnell, dass die Parole vom Papsttum als dem Antichristen nichts als billige konfessionelle Polemik sein kann. Seiner inneren Stimme treu, konvertierte Dr. Newman nach zweijährigem Aufenthalt (1843-1845) in dem weltabgeschiedenen Dorf Littlemore. Am 9. Oktober 1845 wurde der Streiter für die Wahrheit durch den seligen Passionisten Domenico Barberi in die katholische Kirche aufgenommen. Die prote-stantische Idee vom Antichrist untersuchte er nochmals eigens in einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1840 (Tracts Nr. 85).
Um die verblüffenden Vorhersagen, die sich mit Newmans Schrift verbinden, recht zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass das 19. Jahrhundert durchdrungen war von der Idee des Antichrist. Jung-Stilling erwartete das Auftreten des geheimnisvollen Widersachers für das Jahr 1836. Einen Pseudoretter, Friedensbringer und Vertreter der neuen Menschheitsreligion zeichnet der leider viel zu früh verstorbene Engländer Robert Hugh Benson in seinem Werk "Der Herr der Welt" (1907).
1889 fand man bei Nietzsches Zusammenbruch druckfertig seine polemische, gegen die Religion gerichtete Schrift "Der Antichrist" auf dem Schreibtisch. An der Idee des Übermenschen entzündete sich auch der geniale russische Philosoph Wladimir Sergejewitsch Solowjew. Allerdings ist dessen Sicht jener Nietzsches diametral entgegengesetzt. Im Zeichen der heiligen Sophia schwebt ihm eine Art Gott-Mensch von sittlicher Höhe vor Augen. Die Antichristvorstellung als geschichtsmächtige Personifizierung des Bösen spielt in seiner apokalyptischen Ideenwelt eine herausragende Rolle. Im Rahmen der drei Gespräche über Krieg, Fortschritt und das Ende der Weltgeschichte veröffentlichte er die bis heute tief bedeutsame lesenswerte "Kurze Erzählung vom Antichrist" (1889/90).
Bei Solowjew findet sich auch die Vorstellung, dass der Gang der Geschichte sich in progressiver Beschleunigung befinde. Als Entwicklungsbeschleunigung hat der Atomphysiker Bernhard Philbert diesen Gedanken ausgeführt und dargelegt, dass zwei mögliche Endphasen denkbar sind, der gesättigte Erregungszustand oder die Explosion und totale Zerstörung. Reinhard Raffalt (1923-1976) nimmt diese Idee in eine bemerkenswerte Studie über das Jüngste Gericht auf, in welcher auch Kardinal Newman erwähnt wird. Der Bayerische Rundfunk sendete den Text erstmals am 20.3. und am 27.3.1966. Grundzüge sind in "Sinfonia Vaticana" (Prestel Verlag 1966) dargestellt.
Wer Newmans "patristische Ansicht vom Antichrist" liest, hat eine doppelte geistige Aufgabe zu bewältigen. Er muss einerseits die Zeugnisse der Väterzeit verstehend würdigen, andererseits hat er die Übersetzung in seine eigene Wirklichkeit zu leisten.
Das Werk ist in vier Abschnitte gegliedert:
Die Zeiten des Antichrist. Die Religion des Antichrist. Die Stadt des Antichrist. Die Verfolgung des Antichrist.
Von besonderer Bedeutsamkeit ist das Postscriptum, auf welches noch näher einzugehen ist. Zunächst zeigt Newman, dass Zeichen der Ankunft Christi die ganze Weltgeschichte erfüllen. Christus selbst spricht vom "großen Abfall", der Apostasie, dem Erkalten der Liebe, den falschen Propheten. (Mt 24 16,33). Paulus mahnt in seinem Brief an die Tessalonicher (2 Thess. 2,3) vor jenem Feind, dem hassenswerten Antichrist. Selbst die Zeitdauer seines Auftretens wird im Anschluss an Dan 7,11 mit dreieinhalb Jahren angegeben. So wie es Vorläufer (Typen) Christi gegeben hat, so werden dem Widersacher Schatten und Boten vorangehen. In geschichtlichen Personen wie Antiochus, Julian Apostata und Mohammed sieht er Wegbereiter im Geiste des Antichristen. Die Religion des Verführers wird in einer blasphemischen Anmaßung göttlicher Macht bestehen. Newman zitiert den hl. Irenäus, der schreibt: "In dem Tempel, welcher in Jerusalem ist, wird der Gegner sitzen, sich bemühend zu zeigen, dass er Christus ist" (Adversus haereses V.25). Er verweist auf Hippolytus und Cyrill von Jerusalem, die beide sagen, dass der Antichtist den jüdischen Tempel wieder aufbaue. Bei ihnen findet man auch die Kunde von der apokalyptischen Zahl des Tieres (666). Die Stadt des Antichristen wird beschrieben unter dem Bild eines Weibes, dass grausam, ausschweifend und gottlos ist. Die große Hure Babylon, die bereits der hl. Johannes auf einem scharlachfarbenen Tier reitend darstellt (Off. 17,18), ist das römische Imperium. Verbunden mit der Prophetie von den 4 Tieren (Dan. 7, 1-28) den zehn Hörnern, die zehn Könige symbolisieren, ist das Erscheinen des geheimnisvollen kleinen Horns mit den Menschenaugen: das Zeichen des Antichrist (ursprünglich bezogen auf Antiochus).
Man lese mit apokalyptischem Ernst Newmans brillante historische Deutung bezüglich der Entwicklung des Imperium Romanum, welches ebenfalls als Typus, als warnende Metapher der Ereignisse künftiger Zeiten, aufzufassen ist. Bereits Papst Gregor der Große schrieb: "Rom wird nicht durch die Völker zerstört werden, sondern innerlich sich verzehren, ausgelöscht durch Feuerstürme, Wirbelwinde und Erdbeben" (Dialogi 11,15).
Das letzte Auftreten des teuflischen Verführers wird nach Newman eine schauerliche Verfolgung sein: "... sie wird begleitet von einem Aufhören der Spendung der Sakramente, 'des täglichen Opfers', und von einer öffentlichen und blasphemischen Errichtung des Unglaubens ... in den heiligsten Winkeln der Kirche; schließlich wird sie unterstützt durch eine Setzung wirksamer Wunder." (1) Seiner Darstellung der Väterlehre über den Antichrist fügt Newman ein bemerkenswertes Post-scriptum bei. Es handelt sich um eine Stelle in einem Brief des Bischofs Horsley, der Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde. Es heißt dort prophetisch:
"Die Kirche Gottes auf Erden wird der Zahl ihrer Anhänger nach stark reduziert werden in den Zeiten des Antichrist (...) durch die offene Desertion der Mächte der Welt. Diese Desertion wird beginnen mit einer erklärten Gleichgültigkeit gegenüber irgendeiner besonderen Form des Christentums unter dem Vorgeben allgemeiner Toleranz; diese Toleranz wird nicht der Ausfluss eines wahren Geistes der Liebe und der Geduld sein, sondern einer Absicht, das Christentum zu unterminieren durch Vervielfältigung und Ermutigung der Sektierer. Die vorgegebene Toleranz wird weit hinausgehen über eine gerechte Toleranz... die Regierungen werden gegenüber allen Gleichgültigkeit vorgeben und keinen im Vorzug beschützen. (...) Von der Toleranz der verruchtesten Häresien werden sie weiterschreiten zur Toleranz des Mohammedanismus, des Atheismus und schließlich zu einer positiven Verfolgung der Wahrheit des Christentums. In jenen Zeiten wird der Tempel Gottes reduziert werden (...) auf die kleine Zahl wirklicher Christen, welche den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit (...). Die bloßen Namenschristen werden alle das Bekenntnis der Wahrheit im Stiche lassen. Und ich halte dafür, dass dieses tragische Ereignis vorgebildet wird durch den Befehl an den heiligen Johannes, den Tempel und den Altar zu 'messen' und den äußeren Hof (die nationalen Kirchen) den Heiden zu überlassen, dass sie ihn mit ihren Füßen zertrampeln (Off. 11,1-2). Das Eigentum des Klerus wird geplündert werden, der öffentliche Gottesdienst beschimpft und erniedrigt von diesen Deserteuren des Glaubens, (...) die aber doch nicht Apostaten genannt werden können, weil sie niemals ernstliche Bekenner waren. Ihr Bekennen war nichts weiter als ein Mitmachen der Mode und öffentlicher Autorität. Im Prinzip waren sie immer, was sie nun offenbar sind, Heiden. Wenn dieses allgemeine Desertieren vom Glauben stattfindet, dann wird der Dienst der Zeugen beginnen in Sack und Asche (...). Da wird nichts mehr von Glanz sein in der äußeren Erscheinung ihrer Kirchen; sie werden keine Unterstützung finden von den Regierungen, keine Ehren, keine Gehälter, keine Privilegien, keine Autorität, sondern das, was keine irdische Macht wegnehmen kann, was sie von Ihm bekamen, der ihnen den Auftrag gab, Seine Zeugen zu sein." (2)
Diesen Worten ist eigentlich nur noch hinzuzufügen, dass es selbst dem leichtfertigsten Leser wie Schuppen von den Augen fallen müsste.
Anmerkungen: 1) John Henry Newman: Der Antichrist. Kösel Verlag 1951 S. 80 2) ebd. S. 92 ff.
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