Der Gottsucher Zum 100. Todestag des Schriftstellers Joris-Karl Huysmans
Rechtzeitig zu seinem 1OO. Todestag am 11. Mai ist unter dem neuen deutschen Titel "Gegen Alle" Joris-Karl Huysmans Hauptschrift "A Rebours" erschienen. "Wie ein Meteor auf dem literarischen Jahrmarkt" schlug das Buch bei seinem ersten Erscheinen 1884 ein und "löste Staunen und Wut aus", so Huysmans in seinem Vorwort "Zwanzig Jahre danach". Für Arthur Symons war es "Das Brevier der Dekadenz", Oscar Wilde schien es gar, "als zögen, in herrlichen Gewändern und zu zarten Flötenklängen, die Sünden der Welt an ihm vorüber", und Barbey d’Aurevilly urteilte: "Gegen den gesunden Menschenverstand, gegen die moralischen Ansichten, gegen die Vernunft; wie ein scharfes, vergiftetes Messer rasiert es die abgeschmackten und gottlosen Plattitüden der zeitgenössischen Literatur weg. Und obendrein, leider Gottes, mit Talent! Das dekadenteste, das wir unter die dekadenten Bücher dieses dekadenten Jahrhunderts zählen können".
Am 5. Februar 1848 in Paris als Sohn eines holländischen Gebrauchsmalers und Lithographen und einer französischen Hilfslehrerin geboren, stürzte der Tod des Vaters die Familie in bittere Armut. Die Mutter heiratete schließlich ein zweites Mal und gab den Sohn in ein Pensionat. Huysmans fand nach dem Jurastudium eine Anstellung im Innenministerium, nachdem er darauf hingewiesen hatte, daß bereits sein Onkel, Großvater und Urgroßonkel dort beschäftigt waren. Er schrieb über seine Kriegserfahrungen im Preußisch-Französischen Krieg ("Sac au dos", 1875) und über das Sinken einer Fabrikarbeiterin zur Dirne ("Marthe, histoire d'une fille", 1876). Zunächst als Pornographie beschlagnahmt, erschien das Buch dann gleichzeitig mit Emile Zolas "Nana". Gleichzeitig arbeitete er an verschiedenen belgischen und französischen Literaturzeitschriften und plante gemeinsam mit Zola und Edmond de Goncourt die Herausgabe eines Magazins mit dem Titel "La Comedie humaine". Doch es blieb beim Plan.
Im Mai 1884 erschien "A Rebours". Leon Bloy und Barbey d'Aurevilly lobten den natur- und weltscheuen Ästhetizismus des Romans, während Huysmans Freund Zola ihm seine Abkehr vom Naturalismus übelnahm, dann aber in einem Briefwechsel die "Originalität der starken Empfindungen" und die "Maßlosigkeit der Kunst" hervorhob. Die Geschichte des Herzogs Jean aus dem Geschlecht der Floressas Des Esseintes ist recht eigentlich die Geschichte einer Seele in tiefster Not. Nach einer düsteren Kindheit, der Vater erlag einer undefinierbaren Krankheit, geht Jean bei den Jesuiten in die Schule. Mit Erreichen der Volljährigkeit wird er endlich Herr über sein Vermögen. Doch schon bald langweiligen ihn die niederschmetternden Abendgesellschaften, und er wendet sich jungen Leuten seines Alters zu. Aber auch hier findet er nur "unintelligente und servile Gecken", die ihre Vermögen auf Pferde, Karten und "alle Vergnügungen, die Hohlköpfen teuer sind" verwetten. Ihre wahllosen Ausschweifungen erscheinen ihm niedrig und billig, und was noch viel schlimmer ist, "ohne jeden fiebrigen Glanz und ohne wirkliche Überreizung der Sinne und des Blutes".
In den Pariser Literatenzirkeln hofft Des Esseintes Geistesverwandte zu treffen, umso größer ist seine Enttäuschung über ihre kleinlichen Urteile und "widerlichen Diskussionen, in denen sie den Wert eines Werks nach der Zahl der Auflagen und dem Gewinn aus dem Verkauf bemaßen". Hier lernt er auch die Freidenker kennen, die sich alsbald als "Doktrinäre der Bourgeoisie, die alle Freiheiten forderten, um die Meinungen der anderen zu ersticken", entpuppen. So träumt er von einer erlesenen Einöde, fern der unaufhörlichen Sintflut der menschlichen Dummheit, um in einem kleinen Haus der hassenswerten Epoche unwürdiger Flegeleien zu entfliehen und die Verachtung der Menschheit zu pflegen.
In der stillen Ruhe seines Hauses in Fontenay erholen sich seine erschöpften Sinne langsam. Unterstützt von zwei alten Dienstboten beschäftigt sich Des Essaintes mit der Möblierung und den Farben, Pflanzen und Blumen, Parfüms und Düften. Er studiert die lateinische Literatur seiner Bibliothek, deren Originalität und komplizierte Naivität ihn fasziniert. Den Panzer seiner Schildkröte läßt er mit Gold überziehen, während die Exzesse seines Junggesellenlebens die ursprüngliche Neurose außerordentlich verschlimmern. Er meidet nun Alkohol und Kaffee, trinkt nur noch Milch und stopft sich mit Baldrian und Chinin voll. Allein die Liebe zu seinem Blumengarten hält ihn noch aufrecht: Orchideen indischen Ursprungs, gigantische Artischocken, schlanke Palmen und fliegenfangende Venusblumen lassen ihn jubilieren.
Sehr früh schon ist dem Leser klar, daß Des Esseintes niemand anders als Huysmans alter ego ist. Schließlich peinigten den maladen Dichter, von dem es heißt, daß er alles Häßliche als Beleidigung Gottes haßte, genau die gleichen Leiden. Seine völlig überreizten Nerven und sein schwacher Magen bescherten ihm Nacht für Nacht die schlimmsten Albträume und machten ihn zum tragischen Opfer seiner zahlreichen Neurosen. Im Okkultismus und in der Magie suchte und fand er zunächst Linderung seiner Leiden. Doch machte ihn das ständige Lavieren zwischen Ästhetizismus, Mystizismus und Sadismus letztlich nur noch kränker. So begann er die alten Mystiker zu lesen, Ernest Hello und Barbey d'Aurevilly und schloß Freundschaft mit Léon Bloy. Und während um ihn herum die grenzenlose Pöbelhaftigkeit der bourgeoisen Emporkömmlinge "wie eine unwürdige Sonne vor dem frevelhaften Tabernakel der Banken erstrahlt", und die Wogen menschlicher Mittelmäßigkeit nun auch seinen letzten Zufluchtsort niederreißen, läßt Huysmans den Glaubenszweifler Des Essaintes am Ende von "Gegen alle" demütig und unterwürfig zum Gebet niederknien: "Ach!" - sagt er, - "mir fehlt der Mut, und es ekelt mich! - Herr, habe Erbarmen mit dem Christen, der zweifelt, mit dem Ungläubigen, der glauben möchte, unter einem Firmament, das nicht mehr von den tröstlichen Leuchtfeuern der alten Hoffnung erhellt wird!"
Erfüllt vom Ekel vor einer Menschheit, die noch die grandiosen Ruinen der alten Kirchen zum Treffpunkt und Abfallhaufen ihrer unbeschreiblichen Anzüglichkeiten und skandalösen Schlüpfrigkeiten erniedrigt, träumte Huysmans von dem "schrecklichen Gott der Schöpfungsgeschichte", von dem "bleichen, ans Kreuz Genagelten von Golgotha", der allein die Kraft und die Macht hat, der "frohgemuten und unangefochtenen Herrschaft der Bourgeoisie und der Ansteckungskraft ihrer Dummheit" endlich ein Ende zu machen.
Doch bevor er zur vollen Wahrheit des katholischen Glaubens fand, geriet er durch eine Liaison mit der Okkultistin Henriette Maillard und der Bekanntschaft mit dem Sektenchef Boullan, einem ehemaligen Abbé, in den Bannkreis des Ex-Abbé van Haeke, der für seine satanischen Praktiken berüchtigt war. Nach dieser Erfahrung erschien 1891 sein Satanisten-Roman "Là-Bas" (Tief unten). Das Buch war zwar nur ein Surrogat von "A Rebours", aber es erschreckte viele. Und doch "lenkte es die Aufmerksamkeit wieder auf die Schliche des Bösen", wie der Autor schrieb, und trug dazu bei "den hassenswerten Praktiken der Magie den Boden zu entziehen, indem es sie enthüllte". In der Tat ergriff "Là-Bas" entschieden Partei für die Kirche und gegen Satan. Bloy allerdings hielt das Buch dennoch für satanisch, doch war es in Wahrheit Huysmans literarischer Abgesang auf die Motive der Décadence, des Symbolismus und der Flucht in ein isoliertes Ästhetentum, das zudem durch äußerste Detailbeschreibung in einen verfeinerten, schönheitstrunkenen Katholizismus mündet.
Ein Jahr später, im Juli 1892, begab er sich in das Trappistenkloster Notre-Dame d'Isny. Huysmans endgültige Hinwendung zum Katholizismus machte aus ihm einen "religiösen Schriftsteller" (Remy de Gourmont). Während seiner fast achtjährigen Zurückgezogenheit als Laienbruder in der Benediktiner-Abtei von Ligug‚ erschienen in kurzer Folge seine Romane "En Route" (Unterwegs, 1895), "La Cathèdrale" (Die Kathedrale, 1898), "L'Oblat" (19O3), "Les Foules de Lourdes" (19O6) und die "Esquisse biographique de Don Bosco" (19O2). Der "große Ekelerzeuger und Sammler aller nur denkbaren menschlichen Greuel, Qualen und Abscheulichkeiten" (Paul Valery) war von einem "Catholique imaginaire" zu einem reinen, frommen, mildtätigen und zutiefst vom Glauben geprägten Mystiker geworden, der zwar immer noch in allen Dingen dieser Welt Schweinereien, Hexenwerk und Schändlichkeiten witterte und fast überall Larven und Dämonen sah, und doch förderte er aus dem Leben der Geistlichen und Mönche eine sehr kostbare literarische Substanz zutage.
19O7 erfolgte seine Ernennung zum Offizier der Ehrenlegion. Inzwischen schwer an Magenkrebs erkrankt, erhielt er am 23. April seine Letzte Ölung. Am 11. Mai 19O7 starb Joris-Karl Huysmans im Alter von 59 Jahren in Paris. Vier Tage später fand in Notre-Dame-des Champs die Totenfeier statt für den Dichter, dessen Werk "A Rebours" Jules Amedée Barbey d`Aurevilly mit den Worten kommentierte: "Nach einem solchen Buch bleibt dem Verfasser nur noch die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole oder den Füßen des Kreuzes!" Huysmans, der vom Décadent und Zweifler zum tiefgläubigen Gottsucher wurde, wählte die Füße des Kreuzes.
Werner Olles
In deutscher Übersetzung erhältliche Bücher von Joris-Karl Huysmans: "Gegen alle". Haffmanns Verlag bei Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2OO7. 365 S., geb. m. Goldschnitt, 17,9O Euro "Trugbilder". Edition Manholt im dtv. München 2OO7, 335 S., br., 9,5O Euro "Zuflucht". Edition Manholt im dtv. München 2OO7. 221.S., br., 9,5O Euro
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