"Morgen ist der Tag des Erwachens" Vergessen und verkannt - das tragische Schicksal der Paula Schlier
von Magdalena S. Gmehling
Auf meinem Schreibtisch liegt eine undatierte Farbpostkarte des Jodbades Heilbrunn. In feingliedriger, sorgfältiger und strenger Schrift ist hier ein Gruß fixiert. Willenskraft und Festigkeit, Zielgerichtetheit und Energie, ja eine gewisse Unbeirrbarkeit atmen diese Zeilen. Paula Schlier, Schwester des renommierten Neutestamentlers Heinrich Schlier schrieb die Karte. Nur wenigen ist diese verfolgte Dichterin und Visionärin heute noch bekannt.
Sie selbst nennt ihre Autobiographie (1975) "Gescheitertes Leben - eine Danksagung". 2007 jährte sich der dreißigste Todestag, von dem keine Publikation bisher Notiz nahm. Und doch hätte diese aufrechte, leidgeprüfte Frau eine Würdigung ihres Schrifttums - trotz dessen Widersprüchlichkeit - verdient.
Paula Schlier wurde am 12. März 1899 als Tochter eines Militärarztes in Neuburg an der Donau geboren. Auch ihr Bruder Heinrich erblickt dort ein Jahr später das Licht der Welt. Die Kindheit überschattet eine schwer deutbare bürgerliche Verlogenheit verbunden mit Desinformation und einem zermürbenden Hin- und her der Gefühle. Da gibt es den scheu an der Straßenecke wartenden Großvater, mit dem die Kinder nie ein Wort wechseln dürfen und die geheimnisvolle Geschichte der bildschönen Tante, die an der Liebe zu einem jungen Fürsten des Stammschlosses Neuburg zerbrach.
Nach ein paar Jahren in Landau in der Pfalz eröffnet der Vater eine Facharztpraxis für Hals-Nasen-und Ohrenkrankheiten in Ingolstadt. Als eine der wenigen "Lutherischen" besucht Paula die katholische Klosterschule "Gnadenthal". Immer wieder hört sie auf dem Schulweg, dass "Protestanten nicht in den Himmel kommen". Sie selbst empfindet ihre Ausbildung durchwegs als mangelhaft und träumt vom Abitur und vom Studium. Auch das Verhältnis zu den Freundinnen ist von Unglücksfällen und bitteren Erlebnissen überschattet. Es gibt die Generalstochter, die an einer Fischvergiftung stirbt und Anni, die Schwester der später so berühmten Marie Luise Fleißer, ferner Lore, die Tochter des Bürgermeisters, deren Mutter sich eines Tages im Tegernsee ertränkt.
Der unheimliche Fluss, die Donau, prägt die Jugenderinnerungen. Eines Tages wird Paula mit ihrer Freundin von der Strömung überrascht. Nur ihr nahezu telepatisch gegebener Befehl "lassen wir uns treiben" rettet die Mädchen. Bereits hier ist eine nicht altersgemäße Seltsamkeit, eine Art Traumbewusstsein sichtbar. "Das Wasser trug mich, ohne dass ich mich bewegte ... Nur ich selber zerschmolz, zerrann. Mein Fleisch fiel von mir ab, meine ganze Person verschwand . ... Was von mir übrig geblieben war, war Leere, und doch war es kein Ausgelöschtsein . ...Diese 'Leere' dehnte sich aus - uferlos. Welche Freiheit, die mich zieht, die mich hat, die mich trägt - die ich bin."
Zu Beginn des ersten Weltkrieges, am 1. 8. 1914, herrscht in der Garnison Ingolstadt siegesgewisse Aufbruchstimmung. Doch die bittere Realität lässt sich nicht lange verdrängen. Paula wird nach dem Schulabschluss für das Lazarett eingeteilt, in dem der Vater als Generaloberarzt Dienst leistet. Schließlich kommt sie zu den Schwerverwundeten und erlebt hautnah das Elend, die Sinnlosigkeit des Krieges, die Schreie der Irregewordenen, die weit aufgerissenen Augen der Sterbenden. In "Petras Aufzeichnungen. Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit" verarbeitet sie später (1926) teilweise ihre Erfahrungen wie auch die Not der folgenden Jahre.
Nach dem Krieg bricht die junge Frau aus der Enge des Elternhauses aus. Seit März 1921 arbeitet sie in München als Sekretärin. Abends läuft sie in die Universität, hört Vorlesungen und Vorträge. Sie liest Platon, Goethe, Kierkegard, Karl Barth und natürlich Oskar Spenglers "Untergang des Abendlandes". Die politische Münchner Atmosphäre war in jenen Jahren nach dem Zusammenbruch der Räteregierung höchst unerfreulich. Der "Versailler Schmachfriede" ist in aller Munde und am Horizont erscheint der zweifelhafte "Retter" Adolf Hitler. Jeden Montag spricht er im Löwenbräu oder Bürgerbräukeller. Paula Schliers Spürsinn erwies sich als untrüglich. Sie dürfte eine der wenigen Frauen gewesen sein, die bereits 1923 den Nationalsozialismus ideologisch bekämpften. In einer Nürnberger Zeitung erscheinen ihre Artikel gegen die Bewegung. Sie wendet sich vor allem gegen den Antisemitismus und die propagandistische Verherrlichung eines "sozialen" Nationalismus. Die mutige Frau recherchiert aber auch vor Ort. Als sie wieder einmal arbeitslos ist, bewirbt sie sich ausgerechnet bei der Redaktion des "Völkischen Beobachters" und wird als Stenotypistin angestellt. Sie führt ein Tagebuch über den missglückten Hitlerputsch im Bürgerbräukeller (8./9. November 1923) und kennzeichnet (in "Petras Aufzeichnungen") mit treffsicherer Schärfe die zweifelhaften Charaktere der Redakteure Stolzing-Czerny, Weiß, Rosenberg. Nach dem Verbot des "Völkischen Beobachters" ist sie ein Jahr arbeitslos.
1925 lernt die junge Schriftstellerin in Innsbruck Ludwig von Ficker kennen. Die Zeitschrift "Der Brenner" erscheint in seinem Verlag. Namhafte junge Talente publizieren bei ihm. Georg Trakel wurde von ihm entdeckt. Ludwig von Ficker bescheinigt Paula Schlier "Genialität in der Fähigkeit reinen Mitempfindens und visionäre Wahrnehmungsgabe". "Das Wesen, das mein Leben tiefgehend verändert hat, ist ein junges Fräulein aus Deutschland, Schwester des Marburger Theologen Heinrich Schlier"'. Eine Liebes-und Arbeitsbeziehung zu dem wesentlich älteren und durch eine Ehe gebundenen Mann entsteht, an der viele Anstoß nehmen. Im Brenner-Verlag erscheinen nun "Petras Aufzeichnungen". Der Erfolg bleibt nicht aus. Julius Zerfaß bespricht das Buch im Feuilleton der sozialdemokratischen "Münchner Post" sehr positiv, was Rosenberg zu einem plump pöbelhaften Artikel in dem längst wieder zugelassenen "Völkischen Beobachter" veranlasst.
Es folgen Jahre als Journalistin und als Arzthilfe. Im Kurt Wolff Verlag erscheint 1927 "Chorónoz". Ein Buch der Wirklichkeit in Träumen. "Chorónoz hieß die Stadt. O Gott, wie wunderbar Chorónoz war! Es war keine Stadt, die in einem nördlichen Land wie Schweden oder Norwegen lag. ... Nein, Chorónoz war die Krone der Städte, ... das letzte Stück Land gegen den Himmel zu".
Schließlich arbeitet die erfahrene Krankenpflegerin als Leiterin eines Sanatoriums für Nervenleidende bei dem Neurologen Wilhelm Weindler in Garmisch. Der tiefgläubige Arzt übt einen nachhaltigen Einfluss auf sie aus. 1932 tritt Paula Schlier zum katholischen Glauben über und befindet sich damit in einer Reihe mit weiteren prominenten Konvertiten (Edith Stein Neujahr 1922, Ruth Schaumannn 1924, Gertrud von le Fort 1926, Fritz Michael Gerlich 1931). Schliers Bruder Heinrich, der der Bekennenden Kirche angehörte wird erst 20 Jahre später zu der Überzeugung gelangen, dass die Paradigmen des Neuen Testamentes am deutlichsten in der katholischen Kirche erkannt werden können. Er konvertierte 1952.
Die mystischen Erlebnisse der Paula Schlier mehren sich. In Rapallo hat sie eine Engelerscheinung in der sie apokalyptische Visionen diktiert bekommt. Ludwig von Ficker sieht in ihrer literarischen Produktion einen religiösen Akt, er greift aber auch ganz erheblich in ihre Texte ein.
Seit dem Übertritt zum Katholizismus spielen Beichtväter eine große Rolle im Leben der noch immer Suchenden und an der Passion des Menschenherzen Leidenden. Ausgerechnet dies wird ihr zum Verhängnis. Sie wird denunziert. Schlier schreibt : "es waren die staatsfeindlichen Äußerungen in meinen Briefen an Prof. Dr. G., den 'Beichtvater', die er der Gestapo übergeben hatte . ... so schwarz auf weiß - da griff man zu...".
Ostersonntag 1942. "Ajax, der friedliche Hund, fiel drei Uniformierte an, die aus dem Auto sprangen, das Gartentor aufrissen, dem Hund einen Fußtritt gaben. Die Männer von der Geheimen Staatspolizei erklärten mir kurz, dass ich verhaftet sei. Zehn Minuten hätte ich Zeit, meine Sachen zusammenzupacken . ... Man brachte mich ins Garmischer Gefängnis in eine Einzelzelle... Am meisten grauste mir vor den grünviolett gestrichenen Wänden . ... das Essen war ein Fraß; sonntags gab es Katzenfleisch. Es wurde mir durch eine hölzerne Klappe von einem Wärter in Feldwebeluniform gereicht. Schon nach wenigen Tagen erkrankte ich; sobald ich mich hinlegte, riss mich dieser Kerl vom Lager wieder hoch. Wenn ich mich weiterhin krank stellen würde, drohte er, werde er mich mit einem Schild um den Hals, auf dem mein Verbrechen geschrieben stehe, durch den ganzen Ort führen."
Ludwig von Ficker schreibt ihr, er glaube, dass sie innerlich der Situation gewachsen sein würde. "Aber ich war innerlich der Lage durchaus nicht gewachsen. Nachts fror ich wie ein Hund und hatte Todesangst". Dr. Weindler ist der einzige Mensch, der sie besuchen darf. Er weiß auch, dass sie in das KZ Dachau verbracht werden soll. Mühsam überzeugt er Paula Schlier davon, dass einzig eine Einweisung in die Irrenanstalt für sie eine Überlebenschance bietet. Er, der selbst unter allerhand Schikanen zu leiden hat, ringt mit seinem Selbstverständnis als Psychopathologe. Schließlich bringt er ein Gutachten mit der Diagnose "religiöser Wahn" zustande.
Nach mehreren Wochen Einzelhaft wird Paula Schlier in die Landesheilanstalt Eglfing/Haar überstellt. "Nachts näherten sich mir kranke Frauen und trieben allerlei Unfug; sie zogen mir die Decke weg, schütteten Wasser über meinen Kopf und ähnliches. Mein Rufen nach der Aufseherin nützte nichts; sie hatte genug zu tun, um die tobenden Weiber mit Stricken ans Bett zu fesseln - auch Zwangsjacken waren damals noch im Gebrauch."
So qualvoll die Internierung ist, die Eingesperrte interessiert sich sofort für die Krankheitsbilder, die Zwangsneurosen und die psychotischen Anfälle der Insassen. Bei den Anstaltsgottesdiensten bemerkt sie etwas, was anderen verborgen bleibt: " ...viele ...Kranke standen im engen Raum ... mit weit ausgebreiteten Armen, die Augen wie zum Himmel erhoben, tief gesammelt bewegungslos . ... Nie im Leben habe ich eine ähnlich fromme Gemeinde in einer Kirche gesehen. Ich möchte fast sagen, diese Offenheit des Unbewussten beim schizophrenen Kranken ist eine Gnade ... ".
Es gelingt ihr, die wohl gesonnene Oberärztin davon zu überzeugen, dass sie "politisch" ist. Sie bringt auch in Erfahrung, dass Selektionen stattfinden und "lebensunwertes Leben" in die Gaskammern abtransportiert wird. Nicht nur die Gewaltverbrecher sind hier, die Paragraph 51 haben und mit deren Essensversorgung Paula Schier schließlich betraut wird, sondern außer ihr noch mehrere "Regimegegner". Als ihr Bruder sie besucht, entdeckt er sofort die Abhörvorrichtung in ihrem Zimmer. Schließlich kommt der erste Direktor, ein radikaler Nationalsozialist, gefolgt von der Gestapo. Nur eine "Notlüge" ("das hat mir der Heilige Geist eingegeben") rettet sie vor der Selektion. "Meine Herren, ich bin seit gestern entlassen". Paula Schlier bringt die Größe auf, ihrem Verräter zu verzeihen: "Es war wohl eine Gnade, dass ich keinen Hass gegenüber Prof. Dr. G. empfinden konnte. Ich sagte mir stets, dass er ein kranker Mann sei."
Schließlich kann sie untertauchen und kommt auf die Vermittlung Fickers ins Zufluchtshaus der Barmherzigen Schwestern in Hall. Nach Kriegsende arbeitet sie wieder als Arzthelferin, pflegt ab 1948 ihre Mutter in Tutzing am Starnberger See und heiratet nach deren Tod Dr. Karl Rossmann. Paula Schlier-Rossmann stirbt am 28. Mai 1977.
Neben Lyrik ("Morgen ist der Tag des Erwachens", Styria 1967) schrieb die Dichterin Autobiographisches in traumhaft hymnischer Sprache ("Das Menschenherz", Otto Müller Verlag 1953) und Mariologisches ("Das große Zeichen der Endzeit", Miriam-Verlag 1975). Ihr wohl bedeutendstes Werk sind die Schauungen zur Apokalypse ("Die letzte Weltennacht", Otto Müller Verlag 1958). In klarer mächtiger Sprache entwickelt sie große Bilder vom Schicksal der Schöpfung, Sündenfall, Erlösung und letztes Gericht werden in hinreißend blühenden, ja mystisch überhöhten Bildern verlebendigt:
"Da schlug ich voll mein Auge zu dem Engel auf ... Und ich schaute die Königin des Himmels. Die Wasserströme des ewigen Lebens waren ihr Gewand, - in weißen schäumenden Lichtbächen schoss es an ihr, der Überlebenshohen , hinab. Zu ihren Füßen sah ich die Mondlandschaft; es berührten die Spitzen ihrer goldenen Zehen ein zerklüftetes Gebirge des Glaubens. Weiße, feurige Rosse stürmten hoch über ihr am Zelt des aufgehobenen Zeitentages, am tief samtblauen Himmel, dem Thron des allmächtigen Vaters.", ("Die letzte Weltennacht", S. 303)
Weiterführende Literatur Monika Dimpfl: "Jugend nach dem Diktat der Zeit", Hörbild, Bayern Land und Leute, 2003 Sabina Dhein: "Die kleine tote Stadt - eine Station im Leben der Paula Schlier", Sammelblatt des Historischen Vereins Ingolstadt 2004, S. 327-336. Mag. Ursula Schneider: "Paula Schlier. Gestapo-Internierung", INN-Zeitschrift für Literatur, 10. Jahrgang 1993, Nr. 30 (Innsbruck 1993) "Der Brenner", Hg. Ludwig v. Ficker (verschiedene Folgen) Innsbruck Brenner-Verlag
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