DIEBE UND RÄUBER ALS HIRTEN
von H.H. Prof. Severin Grill SOCist
Im Hirtenkapitel bei Johannes 10 sagt Jesus: "Ich bin die Türe zu den Schafen. Alle, die vor mit gekommen sind, sind Diebe und Räuber". Der Satz enthält anerkanntermaßen eine große Schwierigkeit. "Unmöglich kann Jesus nach so bestimmten Stellen 4,22. 5,39 u.s.w. die Propheten des Alten Bundes gemeint haben." (1)
Die meisten Exegeten sehen daher in den Dieben und Räubern die Pharisäer und Schriftgelehrten. "Die Rede Jesu ist voll von Aktualität. Er wendet sich an das zeitgenössische Geschlecht. Das sind ohne Zweifel die Schriftgelehrten und Pharisäer, die sich die Führung des jüdischen Volkes anmaßten und sich als lebendige Regel des Glaubens hinstellten". (2) Andere haben aber den Ausspruch als allgemeine Sentenz empfunden ohne zeitliche oder räumliche Begrenzung, so daß man auch an Personen dachte, die nach Jesus lebten wie Judas den Galiläer, Theudas und Barkochba, die sich als Messiasse aufspielten und Retter des Volkes sein wollten. Diese letztere Ansicht, daß es sich um eine allgemeine Sentenz handelt, wird gestützt durch Textkritik und die Lehre vom Stil (Semasiologie). Vor allem ist zu sagen, daß die Wörter "vor mir" nur schlecht bezeugt sind. Sie stehen nicht in den alten Versionen griechischen, syrischen, lateinischen Übersetzungen, sondern nur in den koptischen, also ägyptischen Handschriften und Kommentaren der ägyptischen Exegeten. (3) Viele berufen sich darauf und lassen diese Wörter daher in den Übersetzungen ganz aus-. Aber wenn diese Wörter auch nur mangelhaft bezeugt sind, so scheint es doch notwendig, in ihnen eine erklärende Glosse zu sehen, die örtlich und zeitlich zu verstehen sind. Es bedeutet also dieses "vor mir", griechisch pro emou, lateinisch ante me, syrisch Quedomai schlechte Hirten vor Jesus - man denke an die falschen Propheten - dann zur Zeit Jesu, eben die Schriftgelehrten und Pharisäer und endlich an solche nach der Zeit Jesu. Ebenso ist das Perfektum "gekommen sind" nicht zu pressen, sondern nach den semitischen Sprachgesetzen zu erklären. Das Hebräische kennt ein Perfectum confidentiae d.h. es wird etwas im Perfekt gesagt, hat aber Präsensbedeutung. "In Wörtern, die einen Zustand oder eine Eigenschaft bezeichnen, hat das Perfekt dieselbe Bedeutung wie unser Praesens". (4)
Beweisstellen für die zeitliche Bedeutung des "vor" anzuführen ist nicht nötig. Für die örtliche Bedeutung von "Vor, Neben" genüge der Hinweis auf Ps 140,2: Wie "Weihrauch nimm auf mein Gebet vor dir". Hab 3,5: Vor ihm her geht der Tod. Mt 17,2: Jesus wurde vor ihnen verklärt. 27,11: Jesus stand vor Pilatus.
Es ist also die Übersetzung des schwierigen Satzes möglich: Alle, die neben mir auftreten, so als Hirten, Führer, Messiasse, sind Diebe und Räuber. Wir haben eine Parallele dazu in Mt 24,5: "Viele werden unter meinem Namen kommen und sagen: Ich bin der Messias. Und sie werden viele verführen." Jeder, der sich neben Jesus oder gar statt seiner als guter Hirte und Erlöser aufspielt, ohne Jesus als Vorbild zu nehmen, ist ein Dieb und Räuber.
Die richtige Anwendung der Sentenz macht G. Heyder in seinem Buch: Das Evangelium Jesu Christi. Regensburg, Habbel 1968, S. 279, indem er sagt: "Alle, soviel ihrer vor mir gekommen sind und kommen werden, aber nicht durch meine Tür eingehen, nicht von mir gerufen und gesandt sind, sondern aus eigenem Geltungsdrang, aus Habsucht, auch Bequemlichkeit, sich ins geistliche Hirtenamt einschleichen, das sind diebische Volksverführer und räuberische Volksverderber. Durch ihr kaltes Glaubensleben und böses Beispiel entfremden sie die Schafe aus meinem Stall, machen sie scheu und drängen sie schließlich ganz aus der schützenden Würde hinaus".
In schwerer Verkennung der Theologie und Mystik verlangt man jetzt mehr Studium der "Philosophie" in den Seminarien. Wir müssen auf der Hut sein, daß man uns nicht unter dem Vorwand der Reform und im Dienste des Ökumenismus bestiehlt und beraubt, was die Glaubenslehre, die Moral, die Heiligenverehrung und die Liturgie anbelangt. Der harmonische Aufbau der tridentinischen Messe z.B. ist schon zerstört. Der Respektsraum am Altare wird nicht mehr beachtet: Die Epistelseite für den Eingang und Ausklang des Opfers, die Evangelienseite für die unmittelbare Vorbereitung des Opfers, dieses selbst in der Mitte des Altares. Es wirkt verletzend und andachtstörend, wenn die vielen Lesungen aus verschiedenen Büchern (nach langem Herumblättern) von der Evangelienseite oder von der Mitte gehalten werden, wenn man Kelch nach der Kommunion beiseiteschiebt und vom kleinen Ministranten wegtragen läßt und an seinem Platz in der Mitte das Pult stellt, um die sehr kurzen Schlußgebete zu verrichten und eilig vom Altare zu verschwinden. Der Gedanke drängt sich auf, daß man uns bestiehlt und beraubt.
Anmerkungen:
(1) P. Schanz: Commentar über das Evangeliums des hlg. Johannes. Tübingen 1885. S. 382. (2) L. Calmes: Evangile selon saint Jean. Paris 1904. S. 315. (3) J.M. Lagrango: Wir entscheiden uns, das pro emou (vor mir) auszulassen. Evangile selon saint Jean. Paris 1936. S. 277. Folgt der Nachweis im einzelnen. (4) Palacios-Camps: Grammatica syriaca. Rome 1954. S. 179. Dionysius bar salibi bermerkt in seinem Lukaskommentar Paris 1939. S. 179. Die Stelle "Gott hat sein Volk heimgesucht" (Lk 1,68) bedeutet: Gott wird sein Volk heimsuchen durch das Auftreten Jesu, seine Lehre und Wunder. |