EINE SONDERBARE HERMENEUTIK von H.H. Prof. Severin Grill SCCist
Im Jahre 1970 ist bei Herder ein Buch erschienen mit dem Titel: Die Bibel und unsere Sprache. Eine konkrete Hermeneutik. Es erweist sich als notwendig, zu dem Buch Stellung zu nehmen. Es handelt sich um ein Sammelwerk, in dem Anton Grabner Heider mit einem Stab von ca. zwanzig Mitarbeitern den Nachweis erbringen will, daß uns die Sprache der Bibel d. h. ihre Ideenwelt fremd geworden sei, weil ihre Ansichten einem Weltbild entstammen, das uns Heutigen nicht mehr liegt. Es werden über achtzig ausgewählte Grundbegriffe der Glaubens- und Sittenlehre herausgehoben und kritisch beurteilt, ob sie der Gesellschaftsstruktur der Gegenwart entsprechen oder nicht. Im ersten Falle wird die Kirche zur Rede gestellt, warum sie sich in sozialer Beziehung nicht an die biblische Weisung halte. Im ersteren Falle wird die Bibel selbst angeklagt, daß sie einer Herren- und Sklavenmoral huldige, die in der Gegenwart nicht mehr haltbar ist. Das Buch ist also eine Gesellschaftslehre, aber keine Hermeneutik im bibelwissenschaftlichen Sinn. Als solche müßte es auf Materien eingehen, die dem Buch ganz fehlen. Wie z.B. die Textkritik, biblische Phraseologie und Bildersprache. Da es unmöglich ist, bei der Fülle der Gedanken des 500 Seiten umfassenden Buches auf Einzelnes einzugehen, müssen wir uns auf einige der wichtigsten Äußerungen beschränken, aus denen aber genugsam der Geist des Werkes ersichtlich ist. Wir wählen aus: Gott - Christus - Glaube - Sünde - Kirche - Offenbarung.
Gott sei die personhaft gedachte Wirklichkeit. (S. 27). In der Bibel werde Gott vorgeführt als Großkönig oder Großgrundbesitzer, der seine Untertanen auf den Gehorsam verpflichtet. Einen solchen Gott bräuchten alle, die herrschen wollten und sich Untertanen suchten (S. 30). Das sei ein Verrat an Gott und aus ihm ein Götze geworden. Die kirchliche Theologie und Praxis vertrete weithin einen solchen Götzen. Wir antworten: Gott erscheint in der Bibel, wie sein Name besagt, als Seiender und der das Sein Gebende (Jahve). Er ist ein liebender Vater für alle, die an ihn glauben und ihm freudig dienen, aber ein harter König nur für die, die ihn nicht anerkennen. Doch seine Hand findet alle seine Feinde und seine Rechte diejenigen, die ihn hassen (Ps 21,9).
Christus. Christus ist der Sohn Gottes, aber nicht im biblischen Sinn als Sohn der Jungfrau und die 2. Person der heiligen Dreifaltigkeit, sondern wegen seiner edlen Gesinnung und Selbsthingabe für die Menschheit. Ihn nachzuahmen sei nicht erforderlich (S. 173). Er war weder Priester noch Gesetzeslehrer und nannte sich niemals den Gesalbten. Wir antworten: In Christus unterscheiden wir eine ewige Geburt aus dem Vater und eine zeitliche aus der Jungfrau Maria. Das Geheimnis der Dreifaltigkeit betrifft das Sein, das Erkennen und die Liebe. Ihr sollt euch nicht Rabbi (Lehrer) nennen lassen. Denn einer ist euer Lehrer: Christus (Mt 23,8). Im Hebräerbrief 9,11 lehrt Paulus: Christus ist gekommen, um Hoherpriester der zukünftigen Güter zu sein. Das ganze Alte Testament kennt keine einzige Stelle, an der von der Auferstehung des Messias die Rede sei? Was ist es dann mit Is 53,12, nach der der vorher gemarterte und getötete Knecht des Herrn "wieder das Licht sehen soll", d. h. lebendig werden soll?
Glaube. Der christliche Glaube lässt sich nicht auf das Jenseits vertrösten, sondern er nimmt teil an der Kraft des Diesseits (S. 399). Der Satz zeigt anschaulich, daß es sich beim Motiv "Glauben" trotz Hebr 11,1 (Glaube ist ein Wissen und ein Hoffen) primär um die soziale Praxis handle. Er sei ein Wissen aus der Erfahrung und stamme nicht von einer Offenbarung. Offenbarung als ein Wissen, das nicht von dieser Welt stammt, ist unserem Bewußtsein und unserer Sprache fremd geworden (S. 53). Es sei kein Spezifikum der biblischen Religion, Offenbarungsreligion zu sein (S. 49). Soweit die Verfasser trotz dieser Grundhaltung doch eingehen auf Theorie und Metaphysik, stehen sie natürlich auf dem Boden der sogenannten "Freien Schule" in der Bibelauslegung, so z. B. in der Lehre von der Hominisation = Entstehung des Menschen aus dem Tierreich und im Polygenismus, d. h. gleichzeitig oftmalige Entstehung aus dem Tierreich an verschiedenen Orten der Erde (S. 418 und 443). Der Dekalog zeige Verwandtschaft mit hethitischen Gesetzen (Moses habe herübergenommen, nicht selbst ein menschenfreundliches Gesetz geschaffen). Von der Auferstehung Jesu habe die Urkirche nur ergriffen bekennend gesprochen (S. 113). Die Erzählung vom leeren Grabe sei nur Interpretament des festen Glaubens der Jünger, daß Jesus nicht tot sei, sondern lebe. Wir antworten: Der Glaube muß nach Hebr 11,1 auch das Wissen um das Woher und Wohin des Menschen umfassen. Zu seiner näheren Aufhellung dienen Bibel und Tradition, d. h. die Schriften der Kirchenväter. Diese werden freilich von den Verfassern niemals zitiert, ein Zeichen, daß sie diese nie gelesen haben. Das ist doch wohl ein grober Fehler gegen die Wissenschaft, nicht alles einzusehen, was zur Klärung einer Frage beiträgt.
Sünde. Unter diesem Begriff nimmt die Verfasserin (L. Mattern) zugleich Unglaube, Böses, Teufel und Welt vor. Ihr Aufsatz ist einer der besten oder überhaupt der beste des ganzen Buches. Sie rechnet ernstlich mit der Existenz des personalhaft Bösen d. i. der Dämonen, deren Macht durch Christus gebrochen ist. "Die Bibel bekennt, daß Menschen in seiner Nachfolge als Freie d. h. als Sündenbefreite leben können" (S. 83). Doch kann sich auch sie in der Untersuchung über die Sünde von der soziologischen Scheuklappe nicht freimachen. Denn "Unterdrückungsmechanismen und Herrschaftsformen im menschlichen Zusammenleben haben vor allem mit Sünde im biblischen Sinn zu tun" (S. 84). Nicht richtig ist, daß durch die kirchliche Moral und Bußpraxis der Begriff Sünde hauptsächlich auf die Normen um das 6. Gebot konzentriert wird. Es gibt wohl noch andere Verstöße gegen das christliche Sittengesetz, die von der Moral gebrandmarkt werden.
Kirche. Das Wort "Kirche" wird philologisch richtig gedeutet als "kyriake" = dem Herrn gehörig (vgl. das Symbol: Braut Christi Joh. 3,29. 2 Kor 11,2). Jesus habe keine Kirche gegründet ist insofern richtig, weil es eine Kirche vom Anfang an gegeben hat, eine sichtbare bei den Juden und eine unsichtbare bei den Heiden, die einen Weinberg Gottes darstellten. Zu sagen: Er hat der Kirche keine hierarchische Verfassung gegeben, ist falsch, weil er die im Alten Testament grundgelegte übernommen hat: Levit = Diakon. Priester = Priester. Hoherpriester = Papst (der Begriff Bischof schwankt). Es brauche keine Hierarchie, denn die Gesamtgemeinde sei Trägerin des Geistes, Amtsvorsteher seien Nebensache (S. 197). Weil die heutige Kirche von einem falschen Gottesbild ausgehe, habe sie ihre sozialen Pflichten nicht erfüllt. Hier erhebt der Herausgeber A. Grabner Heider eine massive Anklage: "Wie ist die heutige Situation? Immer mehr Christen begreifen die Selbstentfremdung der Kirche und ihre Veräußerlichung des Evangeliums nicht und viele kritische Zeitgenossen haben diese Kirche verlassen, weil sie ihnen längst kein Evangelium zu sagen vermag, ja weil sie sich teilweise zu einer unmenschlichen Lehre und Praxis bekennt. Die humane Evolution hat ihre Initiatorin, die Kirche, überflügelt und teilweise abgehängt.... Dadurch ist ihre Sprache vielfach nichtssagend geworden....." (S. 203). Wir antworten: Die Sprache der Kirche ist den Heutigen nicht fremd geworden, sondern vom Anfang an fremd geblieben, man ist in ihr eigentliches und innerstes Sein und Wollen niemals eingedrungen. Dazu hätte es freilich einer umfassenden Kenntnis aller Motive der Bibel, nicht bloß der soziologischen, und der Lektüre der Kirchenväter bedurft, die jeweils die einschlägigen Stellen wie Amos 5,11, Oseas 7,3 und den Jakobusbrief erklärt und die notwendigen Mahnungen daran geschlossen haben. Man müßte u. a. z. B. Salvian (400-480) kennen, der durch das Massenelend seiner Zeit und Umgebung veranlaßt wurde, das Grundübel jener Tage, die Habsucht, auch der Geistlichen, zu tadeln. Man müßte zugeben, daß sich ein Vogelsang, Eichhorn, Scheicher, Ketteler u.s.w. um die Lösung der sozialen Frage bemüht haben. Siehe den Artikel "Soziallehre" im Lex. f. Theol. u. Kirche 9, 918-928.
Offenbarung. Ein Wissen, das nicht von dieser Welt stamme, gebe es nicht, sondern alles Wissen stamme aus der Erfahrung, die Israel gemacht habe. Wir antworten: Der Begriff Erfahrung schließt übernatürliche Herkunft nicht aus. (1) Wenn in der Bibel Gedanken und Lehren vorgelegt werden, die sich über die natürliche Umgebung erheben, so liegt ihr Ursprung eben im Jenseitigen. Das gilt sogar schon der künstlerischen Inspiration, wie J. Haydn bei der Aufführung seiner Schöpfung ausgerufen hat: "Nicht von mir, sondern von oben kommen diese Töne". Zahlreiche biblische Wendungen betonen, daß diese oder jene Eingebung ein "Wort" Jahves sei. Es erging das Wort des Herrn ... 1 Kge 12,22 u.s.w. Vision, die zuteil wurde Is 1,1 und in der Folge viermal, bei Jeremias zehnmal. Ps 89,20: Du sprachst in Gesichten zu deinen Heiligen... Ezechiel sah den Gotteswagen Kap. 1 und den Bau des zukünftigen Tempels Kam. 40-42. Dem Daniel geschah eine Schauung des Hauptes 4,7 und 4,11. Alle Bücher des Alten und des Neuen Testamentes sind durch göttliche Anwehung geschrieben worden, sagt Klemens von Alexandrien im Buche Stromata (PG 9,1069). Kein Mensch, auch kein Apostel wäre jemals auf die Visionen der Geheimen Offenbarung gekommen, wenn sie dem hlg. Johannes nicht von oben mitgeteilt worden wäre.
Das ist allerdings festzuhalten, daß es einen Fortschritt in der Offenbarung gegeben hat. Denn "mehr als Abraham wurde Moses, mehr als Moses wurden die Propheten und mehr als die Propheten wurden die Apostel in der Wissenschaft des allmächtigen Gottes unterwiesen" (Gregor d. Gr. Ezechiel-Homilien 2.4, 12 PL 76,900). Die Bibel berichtet ferner, daß die neuen Offenbarungsstufen jeweils durch Bundesschließungen, die mit Opfern verbunden waren, eingeleitet wurden. (Noe Gen. 8,20. Abraham 15. 7-21. Salomon 1 Kge 8,62. Ezechiel 2 Chron 30,22). Als diese Vorbilder erfüllt waren, kam es zur Endoffenbarung des Neuen Testamentes, bei der sich Christus selbst hinopferte und dieses Opfer für ewige Zeiten zur Erinnerung an die Gottestat einsetzte.
Der Neue Bund kennt keine Veränderung mehr von Gesetz zu Gesetz oder von Bund zu Bund wie die Synagoge zur Kirche (Ephräm. Ed, Lamy II,154). Die Überbetonung der irdischen Wohlfahrt und des Materiellen erinnert an das Alte Testament, dem diese Gesichtspunkte eigen waren, entspricht aber nicht dem Neuen Testament, das über höhere Werte verfügt. Damit ist nicht gesagt, daß dieses über die materiellen Werte hinwegsieht, es rückt sie nur an die zweite Stelle als Folge und Begleiterscheinung der ersten. In dieser Hinsicht fehlt Würdigung gewisser neutestamentlicher Begriffe wie das Lob der Armut Mt 5,2; der Zufriedenheit 1 Tim 6,8. Der Jungfräulichkeit Mt 19,23. 1 Kor 7,7. Offb 14,4. Ein Mangel ist auch die Ignorierung der Kirchenväter und der Scholastiker, die sich doch auch unter Verwertung der heidnischen Philosophie über die Heilige Schrift exegetisch vertieft haben.
Kein Gefühl für Wesen und Wirken der Kirche, sondern nur eisige Ablehnung derselben weht uns aus dem Buch entgegen, das aus einer Voraussetzung geschrieben ist, als ob es keine Anhänger der Kirche gebe. Das Buch ist somit keine Hermeneutik im wissenschaftlichen Sinne, was wir darunter verstehen, die auf den ganzen Inhalt der Bibel Rücksieht nimmt, sondern eine Gesellschaftslehre auf Grund einseitig ausgewählter Bibeltexte, um nicht zu sagen eine Propaganda für den Sozialismus.
Anmerkung: (1) Sogar Mohammed sagt im Koran Sure 6,91: Sie ehren Gott nicht, wenn Sie sagen, Gott habe nie einem Fleischwesen etwas geoffenbart. Sprich: Wer offenbarte denn das Buch, mit dem Moses kam, ein Licht und eine Rechtleitung für die Menschen!
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