JESUS NACH JÜDISCHER FORMGESCHICHTE von H.H. Prof. Severin Grill SCCist.
Unter Formgeschichte versteht man die Annahme, daß vor der Niederschrift der Evangelien deren Lehrgut mündlich tradiert wurde und dabei verschiedene Phasen der Gestaltung durchgemacht habe. Man habe zwischen der wirklichen Taten und Worten des Jesus von Nazareth und den Taten und Worten, die ihm seine Verkünder nach und nach in den Mund gelegt haben, um ihn als den Messias zu erweisen, zu unterscheiden. Mißbraucht, nähert sich die Formgeschichte jenem Jesusbild, das die freisinnige Exegese seit jeher entworfen hat und das ungefähr so verläuft (ich zitiere hier Heinrich Grätz, 1817-1891, Professor an der Universität Breslau), der in seiner "Volkstümlichen Geschichte der Juden", Band 1 und 2, in den Kapiteln "Die Entstehung des Christentums", "Johannes der Täufer" und "Jesus von Nazareth", 1. Band, S. 484-505, und "Entzweiung von Judentum und Christentum", 2. Band, S. 25-41, schreibt:
Jesus war der erstgeborene Sohn eines sonst unbekannten Zimmermanns Josef von seiner Frau Mirjam, dem sie noch andere Söhne - Jakob, Jose, Simon und Juda - und auch noch einige Töchter geboren hatte (I. 488).
Das Maß seiner Kenntnisse war sehr beschränkt. Die Galiläer standen, weil weit Jerusalem und der Tempel entfernt waren, an Bildung zurück. Erst später wurden die Hochschulen Sephris und Tiberias gegründet. Die Galiläer waren rechthaberisch, jähzornig und abergläubisch (sie glauben z.B., daß es Besessene gebe, weil sie in ihrer Unbildung,die Krankheitsformen dem Einfluß der Dämonen zuschrieben) (I. 499). Die Sprache der Galiläer war kein reines Hebräisch, sondern mit aramäischen Elementen gemischt. Jesus stand nicht auf der Höhe der Gesetzeskunde, wie sie die Schulen Hillels und Schammais lehrten. (I. 39). Was ihm an Kenntnis abging, ersetzte er durch das Gemüt. "Tiefsittlichen Ernst und Lebensheiligkeit muß er besessen haben." Seine Sanftmut und Demut lernte er von Hillel, ebenso die Friedfertigkeit und Versöhnlichkeit. Auch neigte er zum Essäertum hin und ließ sich von Johannes taufen, dessen Schüler er war. Als Johannes hingerichtet worden war, gedachte Jesus, das Werk seines Meisters fortzusetzen. Er wandte sich dabei vorwiegend an die Niedrigen und Ungebildeten, die von der Überfrömmigkeit abgestoßen wurden. Am bestehenden Judentum rüttelte er aber keineswegs. Er nannte sich selbst nie den Messias, sondern nur den Menschensohn in Anspielung an Dan. 7,13. Was den Ausdruck "Sohn Gottes" (1) betrifft, so ist es zweifelhaft, ob Jesus denselben bildlich oder wirklich verstanden habe. Er hat sich darüber nicht näher erklärt.
Die Anhänger Jesus spalteten sich: Eine Gruppe faßte seine Sendung politisch-messianisch auf. Jesus mußte sich entscheiden und gab dieser Gruppe nach. Doch ist der Bericht vom feierlichen Einzug in Jerusalem nicht historisch, sondern eine Dichtung. Das Volk soll ihm zugejubelt und nach einigen Tagen seinen Tod verlangt haben - das eine wie das andere ist erdichtet ( I. 497). Auch die Tempelaustreibung ist Dichtung. Der Tod Jesu, (von dem übrigens Flavius Josephus nichts berichtete) führte seine Anhänger zur Schwärmerei. Sie deuteten Is 53 auf Jesus (aber diese Verse werden sinnwidrig auf den Messias gedeutet). Die Erwartung seines Wiederkommens war ungemein stark verbreitet. "Um den Glauben an die Parousie zu erhalten, durfte Jesus nicht dem Tode verfallen, er mußte auferstanden sein. Es bildete sich die Sage, Jesus habe drei Tage im Grabe gelegen, sei dann aber wieder auferstanden und einigen sogar erschienen." Als diese Lehre nicht mehr ziehen wollte, trat Paulus auf und rettete das Christentum. Auch er war Provinzler, im Gesetz nur wenig gebildet (in Tarsus), wollte ein Erlebnis Jesu gehabt haben (I. S. 351). Das alles ist Dichtung und Wunschtraum der späteren Predigten über Jesus. Im 2. Band seiner Geschichte der Juden schreibt Grätz in dem Kapitel "Entzweiung von Judentum und Christentum" (S. 25-41): Als Hauptbegründer des Christentums trat Saulus von Tarsus auf. "Ohne ihn hätte sich die Jesuslehre als eine unfertige, halbessäische, von unwissenden Jüngern und zweideutigen Jüngerinnen getragene Sekte schwerlich lange behaupten können" (II. 25). Es kam bald zur Spaltung zwischen Judenchristen und Heidenchristen. Die ersteren, Ebjoniten und Nazaräer, "legten ihrem Meister, als ob er gefragt worden wäre, ob man dem Kaiser die zwei Drachmen leisten dürfe, die Äußerung in den Mund: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist" (II.26).
Jede Urgemeinde, die judenchristliche und die heidenchristliche, sandte ihre Boten aus, um Mitglieder zu werben: ...."Kundige unter ihnen verfaßten Jesu Lebensgeschichte nach Überlieferungen und Sagen, wie sie sich in diesem Kreise gebildet hatten, mehr als ein halbes Jahrhunden nach seinem Tode, vielfach mit Wundern ausgeschmückt. Diese Lebensbeschreibung nannten sie Evangelium"..... (II. 27). Bei der Abfassung der Evangelien bemühten sich die Judenchristen, Jesu Hochachtung und Beobachtung. des Gesetzes anzuerkennen, während die heidenchristlichen Verfasser oder die Nazaräer Jesu Schmähungen der Gesetzeslehrer in den Mund legten (II. 32). Für die Judenchristen war Jesus nur der von seinen natürlichen Eltern Josef und Maria abstammende Davidssohn und Messias, für die Heidenchristen, die für diese innerjüdischen Namen kein Verständnis hatten, wurde er allmählich zum Gottessohn, ein Begriff, der den Juden fremd war (2). "Die natürliche Geburt von Eltern war den Heiden zumeist anstößig, und wie von selbst schlich sich der verklärende Zug ein, dieser Gottessohn sei von einer Jungfrau durch den Heiligen Get geboren..." "Die Judenchristen verehrten Jesus als den Messias und den Sohn Davids, die Heidenchristen beteten ihn als Gottessohn an" (II. 28). Die Judenchristen nannten die Lehre des Paulus eine Satansschule (II. 29), ihn selbst einen Simon Magnus-Bileam-Nikolaos (Nikolaiten Offb. 2, 6-15). "Wie kann Jesus dem Heidenapostel erschienen sein, da er doch (etwas) seiner Lehre Entgegengesetztes verkündete" (II. 29). Beide Parteien schufen sich Streitschriften: "Selbst der Erzählung von Jesu Geburt, Wirken, Leiden, Tod und Auferstehung, unter dem Namen Evangelien niedergeschrieben, gaben die Parteien die Färbung und den Ton ihres Bekenntnisses und legten dem Stifter des Christentums Sentenzen und Lehren in den Mund, nicht wie er sie gehalten; sondern wie sie ihrer Ansicht entsprachen: günstig für das Gesetz des Judentums von seiten der Ebjoniten, feindlich und gehässig (gegen das Gesetz) von seiten der Heidenchristen" (II. 30). Die Judenchristen vertieften sich in das Alte Testament, um sich aus diesem Aufschluß über das Befremdende von Jesu Erscheinung zu holen: "Im Verlaufe der Zeit erscheinen dem begeisterungstrunkenen Herzen selbst die Flecken an der Person als wesentliche Vorzüge... Jetzt mußte im Leben Jesu alles so geschehen sein, damit dieser und jener Ausspruch der Propheten vom Messia erfüllt werde. Die Judenchristen blieben bei der einfachcn Anerkennung Jesu als Messias nicht stehen, sondern neigten sich allmählich, ohne es zu wissen, dem Bekenntnis der Heidenchristen zu, sich den Stifter mit göttlichen Eigenschaften begabt und mit Wunderkräften versehen zu denken" (II. 32).
Besonders der Verfasser des Hebräerbriefes zeigte in diesem Verfahren große Gewandtheit: "Schriftverse so lange zu zerren und zu deuteln, bis sie eine Beziehung auf Jesus ergaben; er setzt auseinander, daß der gekreuzigte Messias zugleich sühnendes Opfer und versöhnender Opferpriester gewesen sei" (II. 39).
Soweit das Jesusbild, wie es die jüdische Exegese und Geschichtsschreibung heute auffaßt. Es ist leicht zu erkennen, daß sich diese Methode im wesentlichen mit der formgeschichtlichen deckt. Ausgehend von der Spaltung in Heiden- und Judenchristentum, wird ein Keil hineingetrieben in die Aussagen des Neuen Testamentes und eine parteigemäß Umdeutung der Aussprüche Jesu behauptet, werden Personen identifiziert, die in Wirklichkeit verschieden waren (Simon Magus ist nicht Paulus, die Nikolaiten sind nicht die Heidenchristen und Anhänger Pauli, sondern eine libertinistische Sekte, die sich zu Unrecht auf einen Diakon Nikolaus beriefen. Siehe die edessenische Weltchronik. Ausgabe des syrischen Textes von J. B. Chabot, Louvai 1953, S. 121 (Grill: Deutsche Übersetzung, S. 80-81).
Eine radikale Anwendung fand die formgeschichtliche Methode bereits in dem Roman "König Jesus". Von Robert Graves. Ohne Ort und Zeit. C. 1960.
Die Tendenz des Buches ist ein massiver Angriff gegen das Christentum. Die Evangelien werden umgedeutet nach apokryphen Sagen und midraschischen Auffassungen über Jesus. Die schwersten Anstöße des Buches sind:
Maria als Tempeljungfrau von Antipater, dem Sohne des Herodes, verführt, aber nach der Hinrichtung des Antipater dem Josef vermählt, mit dem sie eine Reihe anderer Söhne hat. - Die Erscheinung, die Zacharias im Tempel hatte, war ein Dämon mit einem Eselskopf, der mit einem Strahl faulen Wassers die Glut am Rauchopferaltar auslöschte. Zacharias wurde daher zum Tode durch Steinigung verurteilt und diese zwischen Tempel und Brandopferaltar vollzogen. Jesus wird geboren, ist von unansehnlicher Gestalt, hat rote Haare, humpelt und erfährt von seiner unehelichen Geburt nach seinem ersten Auftreten im Tempel als zwölfjähriger Knabe. Ein Tempelbeamter beweist ihm aus den Matriken, daß er unehelich sei und daher kein Gesetzeslehrer werden könne. Er ist daraufhin ganz niedergeschlagen und wird Zimmermann. Maria klärt ihn aber auf: Du bist trotzdem ein Königssohn. Er tritt in das Kloster Kumran ein, macht mit Johannes dem Täufer das Noviziat, in dem er öfter furchtbare Versuchungen und Prüfungen zu bestehen hat, läßt sich dann von Johannes taufen und in einer Sänfte nach Nazareth zurücktragen. Er beginnt seine Predigt- und Wundertätigkeit, d. h., die Wunder sind nur aufgebauschte Erzählungen von Leuten, die von eingebildeten Krankheiten geheilt worden sind. Obwohl Essener, hält er sein Gelübde nicht und ißt Fleisch und trinkt Wein usw. Beim Paschamahl kommt es zu wilden Szenen. Die Passionsgeschichte ist gefälscht. Jüdische und römische Polizei ist auf Jesus aufmerkeam geworden. Nach dem Einzug wird er verhaftet und von Juden und von Pilatus zum Tode verurteilt. In einer spiritistischen Sitzung erscheint er und überträgt dem Petrus die Oberleitung der Kirche mit den Worten: Weide meine Lämmer...... ich habe sie irregeführt (!).
Der Zweck des Romans ist klar ersichtlich: Das christliche Jesusbild und die Mission der Kirche radikal zu zerstören durch Leugnung der Gottheit Jesu, der jungfräulichen Geburt, Glaubwürdigkeit der Evangelien, Kampf gegen die Lehre der Trinität und Eucharistie. Es ist somit aller Grund vorhanden, vor den Hypothesen der Formgeschichte vorsichtig zu sein.
Diese Anschauungen der freien Bibelexegese, die sich nunmehr in die Formgeschichte eindrängen, sind von Papst Pius X. (1903 bis 1914) und von Papst Pius XII. (1939-1958) in ihren Enzykliken verurteilt worden. Siehe Denzinger: Enchiridion Symbolorum. Herder 1957, S. 564 ff. und S. 702 ff.
Im Banne dieser Formgeschichte stehen alle Schmähwerke, die über Jesus in den letzten Jahren erschienen sind wie Holl: Jesus in schlechter Gesellschaft; Hofer: Jesus gefragt; Augstein: Jesus, Menschensohn. u.a.m.
Anmerkungen:
(1) Grätz zweifelt einerseits daran, daß Jesus das Epitheton "Sohn Gottes" wörtlich nahm, andererseits setzt eben die wörtliche Bedeutung voraus, daß der Hohepriester sie wörtlich nahm und Jesus deswegen zum Tode verurteilte. "Aber schließlich hat ihn nicht der Hohepriester, sondern Pilatus als Aufwiegler zum Tode verurteilt. Erdacht ist der Zug, Pilatus habe ihn unschuldig befunden und retten wollen." (s. 499 - 503).
(2) Falsch. Das Alte Testament kennt die b,ne Elohim - die Gottessöhne (Engel), Ps 29; Job 1,6 2,1; Ri 13,3 6,22; 2 Sm 14.17-20 David ein Bot Gottes. Sap 2,13-18: "Der Gerechte ein Sohn Gottes" Ps 2,7: "Von Gott gezeugt."
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