DER VERLORENE SOHN
von Reinhard Lauth
Jedermann kennt das Gleichnis vom verlorenen Sohne - aber kaum jemand hat darüber tiefer nachgedacht. Die übliche Meinung ist, daß er sich dadurch vergangen habe, daß er, nachdem er sich das Erbe hatte ausbezahlen lassen, dieses Vermögen durch ein luxuriöses Leben verschwendete. Aber die Schuld des verlorenen Sohnes liegt nicht da; sie liegt höher hinauf - und da ist der Schlüssel seiner ganzen nachfolgenden Geschichte zu suchen.
Die ganze Katastrophe ereignet sich nämlich schon an der Stelle, wo er vom Vater verlangt: "Gib mir meinen Vermögensanteil"!
Niemand kann sich selbst die Ehre nehmen, sondern sie kommt dem zu, dem sie von Gott gegeben wird. Nicht wir haben den Herrn zu unserem Herrn gewählt, sondern Er hat uns erwählt. (Joh. XV,16.) Wir können uns auch nicht unsern Anteil an der Autorität einfach nehmen, ja ihn nicht einmal fordern, sondern er muß uns von dem übergeben werden, der sie rechtmäßig innehat. Der Sohn dieses Mannes aber denkt andern. Er verlangt "seinen Anteil", indem er voraussetzt, daß er ihm gehöre. Das ist im Grunde ebensoviel, als wenn er ihn sich mit Gewalt nähme. Jedenfalls ist die Gesinnung da, er hält sich für berechtigt, sich dieses Vermögen des Vaters anzueignen.
An nichts erkennt man so sicher den wahren katholischen Christen, als daran, daß er sich dieses Recht auf Autorität nicht von sich aus anmaßt. Vielmehr ist dies der Geist der Rebellion. Nicht der Sohn, der Vater hat dieses Vermögen geschaffen und hat diese Autorität inne. Er hat sie, wenn er nicht ebenfalls vom Geist der Anmaßung besessen war, nicht deshalb, weil er sie sich gewaltsam angeeignet hätte, sondern weil sie ihm rechtsmäßig zugekommen sind. Letzten Endes aber ist nur Einer der Herr: Gott.
Jedes rechtmäßige Vermögen, jede wahre, sich selbst bewährende Autorität kommt von Gott, gehört Gott als dessen Eigentum. Der Mensch, der von Gott damit betraut ist, vertritt an dieser Stelle Gott und verwaltet Sein Eigentum. Wer sich eigenmächtig ein solches Vermögen und eine solche Autorität zueignet, ja, wer sich auch nur dazu berechtigt glaubt, der vergreift sich mittelbar an Gottes Eigentum und an Gottes Autorität.
So steht für das Kind der Vater in der Familie an Gottes statt; so der Lehrer für den, den er lehrt; so der Priester für die Gläubigen. Nicht ihr habt Mich gewählt, sondern Ich habe euch erwählt, sagt der Herr. Der verlorene Sohn aber maßt sich die Bestimmung über das Eigentum des Vaters an und usurpiert dessen Autorität. Er bestimmt damit, wer Autorität ist und wer das Vermögen verwaltet. "Was ist das allgemeine Wahlrecht"? hat Léon Bloy gefragt, und geantwortet. "Die Wahl, wer Vater in der Familie sein soll, durch die Kinder." Sie bestimmen, was mit dem Vermögen zu geschehen hat, sie wählen, wer ihr Vater ist. Und das ist exakt: Prävarikation an der Sache Gottes.
Um die Monstrosität dieses Geschehens völlig deutlich zu machen, möchte ich es noch drastischer ausdrücken: sie wollen im Grunde genommen bestimmen und darüber verfügen, daß und wie der Vater sie zeugt. Wer versteht, welch ungeheuerliches Verbrechen dies ist - eben die Anmaßung, wie Gott sein zu wollen -, der versteht auch, was in der Geschichte des verlorenen Sohnes geschehen ist.
"Es ist Dir nicht erlaubt, die Blöße Deines Vaters aufzudecken?" hat der Hl. Geist gesprochen. Cham, der es tat, wurde deshalb mit dem Fluch belegt, daß er der letzte Diener seiner Brüder, d.i. derer, die den Vater in seiner Schwäche ehrten, sein sollte. Dostojewskij hat in seinen "Brüder Karamasov" mit höchster Eindringlichkeit gezeigt, daß wir in keinem Falle das Recht haben, die Autorität und das Eigentum unseres Vaters anzutasten, und sei er ein Fjedor Karamasov. Mögen die Handlungen des Vaters auch die quälende Frage in uns .aufsteigen lassen: "Wozu lebt ein solcher Mensch?" Daß Dimitrij das erkennt und danach handelt, darin sah Dostojewskij die Haltung, die allein die Menschheit retten kann. Unsere leibliche, und vielmehr noch unsere geistige Zeugung ist ein solch ehrfurchterregendes Geheimnis, daß uns der Zugang dazu durch unsere Geschöpflichkeit kategorisch versagt ist. Wer dieses Heiligtum von sich aus eintreten, wer darüber verfügen will, der will, was Satan will: sein wie Gott.
Es dauert nur ganz kurze Zeit, nur wenige Tage, und der Sohn zieht weit weg vom Vater, in eine ferne Gegend. Ein bezeichnender Umstand; nachdem er noch zuvor alle versammelt hatte! Was besagt dies? Auch die Frau, die die Drachme endlich wiedergefunden hat, versammelt ihre Nachbarinnen und Freundinnen, vor Freude, daß sie das Geld nun wieder hat. Ist es dieselbe Freude beim verlorenen Sohne? Nein, es ist eine ganz andere Freunde. Er freut sich, daß er nun endlich das, was bisher nur der Vater hatte, zu seinem Besitz und Verfügung hat. Er ruft "alle" zusammen, damit sie an dieser Freude teilhaben und ihn in seiner Anmaßung bestätigen. Es sind die demokratischen Mehrheitswähler, die den Aufstand legalisieren. Der Sohn braucht diese Zustimmung, um sich bestätigt zu sehen, denn auch er spürt irgendwie, daß ihm die wirkliche Autorität, die der Vater hat, fehlt; also sucht er einen Scheinersatz für sie.
Er zieht weit weg vom Vater. Das ist sinnbildlich für den ungeheuren Abstand, der ihn durch seinen eigenen Entschluß vom Augenblick seiner Anmaßung an vom Vater trennt. Auch ist er dort nicht mehr des Vaters angesichtig. Das Vermögen hat er, die damit erworbene Scheinautorität auch. Es wäre peinlich, wenn ihn der Anblick der echten Autorität des Vaters daran erinnerte, daß er selber sie nicht hat und daß er über etwas verfügt, worüber er kein Verfügungsrecht hat. Schließlich braucht er auch, wie er meint, nun auch den Vater nicht mehr; er kann selbst, was dieser konnte.
"Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und alles andere wird euch dazu gegeben werden!" hat Christus gesagt. Der verlorene Sohn hat zuerst "alles andere" gesucht, denn er glaubt, daß ihm das Reich Gottes schon dazu gegeben werde. Aber darin besteht die furchtbare Verblendung. Er verliert nicht nur das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, sondern auch noch alles andere.
Was hätte er denn tun müssen? Er hätte nicht um des Zweckes des persönlichen Gewinns nach der Autorität greifen sollen, sondern der Gerechtigkeit des Gottesreiches dienen. Er hätte sein Werk so gut, als er nur konnte, verrichten und dem Willen und den Plänen des Vaters dienen sollen. Dann wäre er in das Werk hineingewachsen, und die Autorität wäre ihm zugekommen, nicht als Beute einer Anmaßung, sondern als verantwortlich zu übernehmende Gewalt. Über ein Vermögen verfügen, ein Amt verwalten, heißt eine Verantwortung tragen. Tragen! denn sie ist für ein Wesen, das nicht wie Gott die Autorität und das Vermögen in Substanz ist, eine Last, aber eine leichte Last gegenüber der Last einer angemaßten Autorität, die man sich zu sichern sucht. Diese Würde wäre ihm von Gott zugekommen, und eben deshalb hätte sie jeder andere vor dem Forum seines Gewissens, ob er wollte oder nicht, als rechtmäßig anerkennen müssen. "Alles andere" wäre freilich mit dieser Würde zugleich gekommen. Aber Jesus hat uns in den drei Versuchungen in der Wüste oberhalb des Jordans gezeigt, wie der sittliche Mennseh sich dies bezüglich verhält. Der Teufel knüpfte an jenes Wort Gottes an, das Jesu Geist ganz erfüllt hatte, als er getauft wurde und der Himmel sprach: "Wenn Du der Sohn Gottes bist ...". Dann kannst Du doch, flüsterte er ein, selbstherrlich über das Brot verfügen; dann steht es Dir doch als ein Recht zu, daß Gott, der Vater, Dir auf wunderbare Weise hilft; dann mußt Du doch auch über alle Reiche der Welt herrschen! Allerdings mußt Du dann mich, den Teufel anbeten, d.i. die Selbstherrlichkeit (vor Gott) Dir zum höchsten Werte machen. Jesus weist das zurück: er will ausschließlich die Gerechtigkeit des Reiches Gottes, er will nicht selbstherrlich über all das andere verfügen. Der Vater ist es, der Ihn verherrlicht. Das heißt nicht, daß er nicht auch das Brot, die sich manifestierende Wunderkraft Gottes und die Königsherrschaft über die ganze Erde in seinen Endzweck einbezieht. Aber sie sind nicht der Beweggrund seines Wollens - da liegt der Unterschied.
Der Verlorene Sohn wollte "alles andere"; er verliert allein schon durch dieses Wollen die Gerechtigkeit des Reiches. Wo die rechtliche Gesinnung im Prinzip zerstört ist, kann keine Gerechtigkeit mehr wirklich werden und keine Harmonie mehr sein. Er wird wohl diese Gerechtigkeit für etwas zu "allem anderen" Akzessorisches oder für sehr selbstverständlich gehalten haben, so wie unsere heutigen Demokraten glauben, die Menschlichkeit versteht sich von selbst oder ergebe sich als Resultate einer sozial zweckmäßigen Umweltveränderung. Er sollte eines ganz anderen belehrt werden!
Das erste, was er mit dem angeeigneten Vermögen tut, ist, daß er luxuriös lebt. "Er konsumierte alles", sagt die heilige Schrift. Haltung unseres modernen Menschen, der seine Gesellschaft stolz eine "Konsumgesellschaft" nennt. Andere haben geschaffen; er hält es für selbstverständlich, daß das alles für ihn da ist; er konsumiert. Was durch echte Werk-Gerechtigkeit und -Treue entstanden ist, das alles hat natürlich ihm zur Verfügung zu stehen und das verbraucht er, ohne auch nur zu bemerken, was es gekostet hat, physisch und moralisch. Der ältere Bruder wird sogar noch deutlicher, er sagt, daß der verlorene Sohn alles meta pornon, mit Lustdirnen, cum meretricibus, mit solchen, die an der Liebe verdienen, "verschlungen habe." Der verlorene Sohn sucht die Lust um der Lust willen, da er die Gerechtigkeit zurückgesetzt hat; er findet sie im Porno. Aber er findet keine echte Liebe mehr, sondern nur noch deren Surrogat für Geld. Seine Lebenssubstanz zehrt sich auf, unaufhaltsam, da er sie ohne die Gerechtigkeit nicht nur nicht mehr vermehren kann, sondern ohne sie auch nicht einmal erhält, was doch jeder Mensch kraft seiner Vernunftnatur letztlich sucht: Liebe.
Mit dem ungehemmten Konsum aber gerät der Verlorene ins Elend. In dieser Welt kommt nichts von nichts. Wer nicht sammelt; der zerstreut, und niemand und nichts sammelt an seiner Statt. Es kommt die große Hungersnot, die "Wirtschaftskrise" und mit ihm das Elend. Er hat dem Herrn nicht dienen wollen; jetzt fällt er unter die ökonomische Herrschaft eines Fremden. "Er hing einem der Bürger, heni tôn politôn, jener Region an", sagt der Herr. Er hat den Vater verachtet, er hängt dem Fremden an, dem Politen, der seinerseits sehr genau der Stellvertreter eines Anderen ist, nämlich des Herrn dieser Welt.
Dieser läßt ihn auf seinem Gute die Schweine hüten. Der Staat, die Gesellschaft, ohne Gott versklaven den Menschen, der doch seiner Herkunft nach Gotteskind ist, zum äußersten Elend, sie degradieren ihn zur "Schweinerei". Nachdem er sich von Gott losgemacht hatte, wollte er sich im Schweinischen vergnügen, jetzt muß er den Schweinen dienen und kann und darf nicht einmal mehr das konsumieren, was sie verzehren. Unsere einst christliche Wohlstandegesellschaft wird sich bald an diese Worte erinnern, falls sie sich dann überhaupt noch an etwas zu erinnern vermag. Dem verlorenen Sohn fällt nun ein, daß im Hause seines Vaters selbst die Lohnarbeiter gutes Brot im Überflusse haben: Brot, das bedeutet das, was sie zu einem gesunden Leben und rechtschaffenen Wirken brauchen, nicht Schoten von Hülsenfrüchten, - allerdings auch nicht Kuchen. Ihnen ist eben dazugegeben, was die Bemühung um die Gerechtigkeit des Gottesreiches mit sich bringt. Sehen wir hier einen Augenblick auf eine Parallele: auf die kanaanitische Frau, die Jesus im Gebiet von Tyrus und Sidon so hartnäckig anflehte. Auch sie bittet darum, doch wenigstens von den Brotstücken essen zu dürfen, die die Kinder des Hauses den Hunden geben. Der Herr war ergriffen von ihrem Glauben. Er beobachtete sie und schickte sie nicht weg, wie die durch ihre hartnäckige Aufdringlichkeit verärgerten Jünger wollten, sondern ließ sie schließlich zu sich kommen und erhörte sie, weil ihr Glaube groß war.
Hier will die Heidin gern das Brot der Gerechtigkeit, das für die Hunde, d.i. die gezähmten, dienstbaren Triebe abfällt, essen, wenn man es ihr nur gibt. Dort möchte das rebellische Gotteskind gern die für die Schweine, d.i. die hemmungslosen unreinen Triebe bestimmten Schoten verschlingen, um seinen furchtbaren Hunger zu stillen, die man ihm aber nicht einmal gibt.
In diesem äußersten Elend kommt der verlorene Sohn zur Umkehr. Aber man muß diese recht verstehen. Nicht der Gedanke, daß die Lohnarbeiter im Hause des Vaters Brot im Überflusse haben, als der Gedanke, der auf "bessere Lebensbedingungen" ausgeht, bewirkt sie. Das wäre nur ein anderer Materialismus! Es ist der Gedanke, daß er dem Vater gegenüber gesündigt hat, als er seinen Anteil verlangte, und daß er deshalb nicht einmal das wert ist, was ein Lohnarbeiter, der ja nur ohne jeden Anspruch auf das Vermögen und die Autorität tätig ist, wert ist. Jetzt wäre er bereit, ohne alle Ansprüche im Reiche Gottes zu dienen.
Wer erkennt nicht in der Gestalt des verlorenen Sohnes die Christenheit? Hatten die Juden sich nicht dagegen mit aller Macht gewehrt, daß das Reich Gottes auch den Heiden gegeben werden sollte? Hatten sie nicht darauf hingewiesen, daß sie nicht mit der unbedingten Ausschließlichkeit, die sie selber hatten, den reinen Glauben bewahren würden? Der Herr hat sie dennoch zu Söhnen angenommen und ihnen sogar den Anteil am Erbe herausgegeben, als sie ihn verlangten. Was hat die Christenheit getan? Sie hat darüber verfügt. Von den Königen angefangen, die ihre Autorität und ihre Herrschaft suchten, und nicht die des Herrn (von seltenen Ausnahmen abgesehen), bis zur modernen "Volks"Herrschaft, die nur noch ökonomische Interessen kennt und sich ihr universelles Konzentrationslager selber schafft. Gottes Vermögen ist verschwendet, und da ist niemand mehr, der stellvertretend Gottes Autorität realisiert. Da sind nur noch selbstherrliche Vermögensverwalter, genannt 'Papst' und 'Bischöfe', die alles verschwenden, was noch an Substanz in der Kirche vorhanden ist und für die ungestörte "Schweinerei" im Machtbereich jener Politiker sorgen, an die sie sich gehängt haben.
(Fortsetzung folgt)
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