Das Geburtsjahr Christi und die Schätzung des Quirinus
Von Theol. Prof. P. Severin Grill SOCist
Literatur:
Die ausführlichen Artikel im LThK, 2.Aufl. a) Die Biblische Chronologie. Bd. 2, S. 421 b) Dionysius Exiguus, Bd.3, Sp.406. P. Schanz: Commentar über das Evangelium des heiligen Lucas, Tübingen 1888, S.115-125. M.J. Lagrange: Evangile selon S. Lucas, Paris 1941, p.67s. Dionysius Bar Salibi. LThK 3,401. Lukaskommentar. Syrischer Text, herausgegeben von A. Vaschalde. Paris 1939.
1. Das Geburtsjahr Christi. Unsere heutige Zeitrechnung geht bekanntlich auf den Abt Dionysius Exiguus zurück (+ um 540 in Rom). Nach allgemeiner Ansicht der Historiker setzt Dionysius seine Daten um 6-7 Jahre (andere: um 4 Jahre) zu spät an. Die Geburt Christi fällt demnach 5-6 Jahre vor der heutigen, gewöhnlichen Annahme. Es besteht kein Widerspruch zwischen dem Tode des Herodes (4 vor Chr.) und der Geburt Christi, weil ja auch Christus damals schon geboren war.
2. Die Schätzung des Quirinus. Schon 1888 machte P. Schanz aufmerkeam, daß zwischen zwei Schätzungen zu unterscheiden ist: einer vor Quirinus und einer unter demselben. "Es wird die Schätzung (bei der Geburt Jesu) von einer anderen) unter Quirinus vorgenommenen unterschieden ... Seine Statthalterschaft ist nur zu seiner allgemeinen Zeitbestimmung hinzugefügt. "Próte" könnte auch für "protéra" gesetzt sein: früher, als Quirinus Statthalter war". Schanz bringt bereits zahlreiche Literatur zur Frage. Diese Lösung hat M.J. Lagrange in seinem Kommentar zu Lukas übernommen. Er übersetzt: "Auguste ordonant que l'univers fût recensé. Ce recensement fût anterieur à celui, qui eut lieu Quirinus étant gouverneur de Syrie"(Augustus befahl eine Volkszählung des ganzen Reiches. Diese Volkszählung dürfte vor derjenigen vorgenommen worden sein, die stattgefunden hat, als Quirinus Statthalter von Syrien war.) (Evangile selon S.Luc. P.67). Auch er bringt zahlreiche Literatur und besonders den Nachweis, daß es sich um eine typische Brachylogie (knappe Ausdruckeweise) handle, die in der syrischen und griechischen Stilistik sehr häufig ist.
Der bisher unbekannte Lukaskommentar des Dionysius Bar Salibi (+ 1171) bestätigt die Lösung der Schwierigkeit mit Hilfe der Unterscheidung von zwei verschiedenen Aufschreibugen. 7Er sag~t wörtlich: "Diese Aufschreibung (bei der Geburt Jesu) war eine frühere und nicht jene in der Statthalterschaft des Quirinus ... Denn solche Aufschreibungen hat es viele gegeben unter Augustus. Aber jene war eine frühere in der Regierung des Augustus (eine maktebonutho kadmoitho), die Augustus durchführen ließ. - Das verhält sich so, als wenn einer sagte: Zu welcher Zeit ist denn das geschehen? Und man antwortet (ihm): Zur Zeit, da Augustus den Quirinus als Statthalter nach Syrien sandte. Es ist bekannt, daß dies so auch in den griechischen Codices geschrieben steht, daß nämlich diese Aufschreibung eine frühere war."
Nun berichtet auch Tertullian Adv. Marcionem 4,19 von einem Census, der im Jahre 6 v. Chr. durch den Vorgänger des Quirinus, den Statthalter Sentius Saturninus veranstaltet wurde (Saturninus war Statthalter von 10/9 bis 6/5 v.Chr.). Lukas erwähnt den Quirinus nur deshalb, um gänzlich unorientierten Lesern einen Begriff von den Zeitverhältnissen zu geben. Nun war aber die Schätzung des Quirinus viel bekannter als die des Sentius Saturninus, weil es bei der quirinischen zu einem Aufstande gekommen war, den eine Zelotenpartei unter Saddok erregt hatte. Der jüdische Geschichtsschreiber H. Graetz berichtet im 1.Band seiner Geschichte der Juden (Breslau 1888, S.477) ausführlich über diese revolutionäre Bewegung, von der Lukas sich distanziert.
Die Übersetzung "diese Aufschreibung war eine frühere gegenüber jener, die unter Quirinus stattfand" stützt sich auf die Bedeutung von "quadmoitho" im Sinne von "prior, antea" (früher), die mehrfach belegt ist. Siehe Brockelmann: Lexicon Syriacum. Halae 1928. S.646 B. Interessant wäre es zu untersuchen, welche deutsche Übersetzungen diese Lesart verwenden oder wenigstens auf sie aufmerksam machen wie Peter Ketter: Das Neue Testament, Stuttgart 1939.
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