Unterlassene Christusexegese im Alten Testament
von Theol. Prof. P. Severin Grill SOCist
Eine wenig beachtete Ursache der modernen Glaubenskälte ist die mangelnde Christusexegese im Studium des Alten Testamentes und in der auf ihr fußenden Vergleichenden Religionsgeschichte. Christus ist Mittelpunkt und Metron panton. Praktisch ist er das in der Zeitrechnung. Man spricht von Jahren vor und nach Christi Geburt und richtet sich im wirtschaftlichen Leben nach dem christlichen Kalender, sogar in islamischen und atheistischen Ländern.
Doch in der alttestamentlichen Exegese und in der Religionsgeschichte werden Christus und sein Reich (= die Kirche) ignoriert. Bei der Exegese des Alten Testamentes geht man ein auf Stil und Metrum, Literarkritik und Textkritik, Zeitgeschichte und Archäologie, kommt zu verwirrenden Lösungen und versäumt es, auf Christus und die Kirche hinzuweisen. Um die Jahrhundertwende war der Trend groß, besonders die messianischen Weissagungen und Vorbilder aus der Theologie des Alten Testamentes auszuscheiden. Hervorgetan haben sich dabei, um Beispiele anzuführen, die protestantischen Exegeten Marti, Gunkel und Bertholet. Sie grübelten darüber nach, worauf sich die seltsamen Aussprüche der Bibel von dem Erscheinen eines Gesalbten und der Aufrichtung eines Weltreiches beziehen könnten. Solche Ideen seien doch nur in den damaligen Weltreichen wie Ägypten, Assyro-Babylonien und Persien denkbar gewesen. Es sei aber sonderbar, "wie solche ausschweifende Hoffnungen in dem kleinen Zwergstaat Israel entstehen konnten". (1) Es enthalte der Ps 2 "das bis zur Naivität kühne Ansinnen, daß sich die Könige der Erde schleunigst dem kleinen König auf dem Sion zu unterwerfen haben" (2). Die messianische Erklärung des Ps 2, die zuletzt Delitsch vertreten hat und die noch bei Kessler nachklingt, ist endgültig dahingefallen, seit dem man erkannt hat, daß der Ps überhaupt keine Weissagung enthält und daß die Idee eines leidenden Messias dem Alten Testament auch sonst fremd ist". (3) Die Christologie des Ps 44 (45) wird mit den Worten abgetan: "Die altchristliche Überlieferung hat im Ps 45 den König und seine Braut auf Christus und die Kirche gedeutet. Eine ausführliche Widerlegung dieser Auffassung hat noch Baethgen für nötig gehalten." (4) Marti gibt bei der Erklärung von Is 53 zu, daß der leidende Gottesknecht Christus sein könnte, versetzt aber den christlichen Exegeten einen Seitenhieb, daß sie eine juristisch-dogmatische Theorie", sc. das Sühneleiden, aus der Stelle abgeleitet hätten. (5) Zur Gleichstelle Zach 12,10 - sie blicken hin auf den Durchbohrten - sagt er: "Es handelt sich um die Tötung eines Unschuldigen. Es sind Regierung und Volk. die sich des Justizmordes schuldig gemacht haben. Wer der Martyrer ist, fragt sich". (6) Neuestens wird unter dem siegreich einziehenden König der wiederkehrende David unter dem beklagten Durchbohrten der aufrührerische Sohn Absalom verstanden. (7)
Das Alte Testament war seiner Bestimmung nach eine Vorbereitung des Neuen, gleichsam ein Modell, ausgeführt an der religiösen Geschichte eines kleinen Volkes, um die Absichten Gottes an der ganzen Menschheit anzudeuten und vorzubereiten. Dies ergab die Vorbildlehre wie z.B. der Durchzug durch das Rote Meer und die Befreiung von der Knechtschaft Pharaos eine Andeutung der Befreiung der Menschheit von der Knechtschaft des Teufels. Dazu sagt Augustinus: "Daß Jesus, der Sohn Gottes, im Fleische kommen, sterben, auferstehen und in den Himmel auffahren werde, daß er durch seinen allmächtigen Namen in allen Völkern ihm ergebene Anhänger haben, daß in ihm die Nachlassung der Sünden verliehen und den Gläubigen das ewige Heil zugewendet werde - das war der Gegenstand aller Verheißungen und aller Weissagungen des (hebräischen) Volkes, das der Sinn seines Priestertums, seiner Opfer und aller seiner Sakramente." (8)
Während die älteren Protestanten die Vorbildlehre noch als legitime Angelegenheit der alttestamentlichen Theologie behandelten, haben sie die Neueren gänzlich auegeschieden. Bertholet schrieb einen Kommentar zum Buche Levitikus, in dem er genau auf die Riten und Gesetze des alttestamentlichen Kultes eingebt, aber mit keinem Wort die Erfüllung in Christus und der Kirche erwähnt. Dieses Verfahren in der Exegese des Alten Testamentes hat wie die Ausscheidung der messianischen Weissagungen zur Abkehr von Christus geführt. (9) K. Barth hat einmal den Ausspruch getan: "Ich weiß, was es heißt, wenn man am Sonntag auf die Kanzel steigen soll und man in der Theologie nur Literarkritik und Archäologie gehört hat."
Die gleiche Erscheinung begegnet in der Vergleichenden Religionsgeschichte. Einerseits braucht man das Christentum, um es als Maßstab zu benützen, andererseits möchte man es als Nummer in die Liste der Religionen einreihen. Christus wird dann neben Zoroaster, Pythagoras, Buddha und Laotse u.s.w. gestellt als ihr Kollege, während er ihr Herr ist.
Bultmann behauptet, daß die Evangelisten nach dem griechischen Text zitieren, der aber oft vom hebräischen abweiche und etwas aussage, woran die Propheten nicht gedacht haben. "Diese Art, von Weissagung und Erfüllung zu reden, ist einer Zeit, in der das Alte Testament als geschichtliches Dokument verstanden wird und nach der Methode historischer Wissenschaft interpretiert wird, unmöglich geworden." (10 Er weist auf Is 7,14 hin, wo der hebräische Text nicht Jungfrau, sondern junge Frau habe. Erstens kann alma auch die junge, aber unberübrte Frau bedeuten und zweitens haben die alten Übersetzungen (griechisch, lateinisch, syrisch' arabisch) durchwegs "Jungfrau".
Exegeten, die nur zeitgeschichtlich auslegen wollen, zeigen, daß sie die Eigenart Israels als prophetisches Volk nicht verstehen. Israel ist und bleibt bis heute das Volk, dem Gott seine Offenbarungen anvertraut hat (Röm 3,2). Es ist daher von vornherein falsch, es wie ein anderes geschichtliches Volk mit den gewöhnlichen Methoden der Geschichtsforschung beurteilen zu wollen. Bernhard v. Cl. nennt die bloß geschichtliche Exegese "ein Benagen der Rinde (rodere corticem), das wir den jüdischen Lehrern überlassen können." (11) Ohne Christus als Mittelpunkt können wir weder das Alte Testament noch die Erscheinungen der Vergleichenden Religionsgeschichte richtig deuten. "Ohne mich könnt ihr nichts tun. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann, wenn sie nicht am Weinstock ist, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt." (Joh 15,5) (12)
Anmerkungen: 1) H. Gunkel, Die Psalmen. 1926, S. 9. 2) B. Duhm. Die Psalmen 1899, S. 10 3) Gunkel S. 94 4) Gunkel S. 193 5) Das Buch Jesaia, 1900, S. 352 6) Das Dodekapropheton, 1904, S. 447 7) Kl. Seybold, Hoffnungen auf die Wiederkunft des Davidischen Zeitalters in Zach 9-14' Trschr. Judiaca, Zürich, Sept. 1973, S. 99-104 8) Brief an Volusian PL 33,522 9) Levitikus 1901 10) In "Probleme alttestamentlicher Hermeneutik". Herausgegeben von Cl. Westermann, München 1961, S. 30 11) Brief 106. PL 182,242 12) Die Lage hat sich inzwischen insofern geändert, als auch protestantische Exegeten zugeben, daß die Typik zur alttestamentlichen Theologie gehört. Siehe meine Hermeneutik des Alten Testamentes. Horn 1965, S.80.
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