Von der Weigerung, erwachsen zu werden
von
Werner Olles
Der amerikanische Lyriker und Erzähler Robert Bly vertrat in seinem
1997 erschienenen Buch "Die kindliche Gesellschaft. Über die Weigerung
erwachsen zu werden" die These, daß die westlichen
Wohlstandsgesellschaften nicht allein "durch die kapitalistische
Erwerbsgier entstellt wurden, sondern auch durch ein geradezu debiles
Mißtrauen gegenüber den Errungenschaften von Religion, Literatur und
Philosophie, kurz gegenüber allem, was wir vergangenen Generationen
verdanken". Viele "Halberwachsene" wären heute der Überzeugung, "daß
ihnen die Tradition nichts Brauchbares geschenkt hat". Die Wahrheit
vergangener Zeiten laute jedoch, "daß der einzelne in der Schuld aller
anderen Menschen, der Lebenden und der Toten, steht, und nicht nur der
Menschen, auch der Pflanzen, Tiere und Götter".
Wenn also die Krise am Anfang des 21. Jahrhunderts eine Krise der Werte
als solche ist, und wir auf das zutreiben, was Freud in seinen
"Kulturtheoretischen Schriften" die "reine Herrschaft des Todestriebs"
nennt, liegt dies zu einem erheblichen Teil ganz offensichtlich daran,
daß wir unsere Fähigkeit, zur Reife zu gelangen, verloren haben. Man
spaziere nur einmal durch eine beliebige deutsche Großstadt und achte
auf den jugendlich-naiven Ausdruck in den Gesichtern der Passanten
aller Altersstufen. Oder man betrachte sich Fotos von Männern und
Frauen, die vor fünfzig Jahren gelebt haben und deren physiognomische
Merkmale ihr Alter und ihr Erwachsensein eindrucksvoll bestätigen. Man
sieht auf diesen Bildern Menschen, die sich gewiß auch zu amüsieren
verstanden, aber dennoch stets mit beiden Beinen mitten im wirklichen
Leben standen. Und rufen wir uns die eigene Kindheit und Jugend ins
Gedächtnis zurück, dann erinnern wir, daß es uns damals kaum schnell
genug gehen konnte, erwachsen oder zumindest älter zu werden. Hinzu
kommt das Phänomen der Scheinselbständigkeit. In den fünfziger und
sechziger Jahren lebte die überwiegende Mehrzahl der jungen Leute
Anfang zwanzig noch im Elternhaus. Die Berufstätigen unter ihnen gaben
einen Teil ihres Einkommens als Miet- und Essenszuschuß ab. Inzwischen
bestehen siebzehnjährige Schüler auf einer eigenen Wohnung, nur für die
Miete und die anfallenden Nebenkosten sollen gefälligst die Eltern oder
das Sozialamt aufkommen. Derart großzügig alimentiert kann man seine
Scheinselbständigkeit durchaus einige Jährchen unbeschwert genießen,
sich in seinem Selbstbetrug gemütlich einrichten und rundum sauwohl
fühlen.
Die Straße in der Siedlung am Stadtrand, in der wir leben, gehört jeden
Samstag zwischen 15 und 17 Uhr den Rollschuhläufern. Mit Sturzhelm,
Ellbogen-, Knie- und Schienbeinschützern bestens gegen alle Risiken
ihres kindlichen Vergnügens abgesichert rollen sie fröhlich dahin. Das
Phänomen an der Sache ist, daß es sich bei den fröhlichen Rollern
keineswegs um Kinder oder Halbwüchsige handelt, sondern um Erwachsene
zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahren, die dem Zwang zur
Popularität, den die kindliche Gesellschaft mit ihrer Offenheit für die
Banalitäten der Pop-Kultur, ihrer ökonomischen Unsicherheit und ihrer
Zerstörung der Höflichkeit ohne jede Gegenwehr nur allzu gerne
nachkommen. Wenn wir abends den Fernseher einschalten, beginnen wir
langsam zu verstehen, warum eine Gesellschaft, die von ewigen
Jugendlichen geführt und regiert wird, sich derartig verhält. "Das
Fernsehen ist das Contergan der modernen Gesellschaft" schreibt Robert
Bly, und Karl Marx würde sein Verdikt gegen die Religion als "Opium des
Volkes" heutzutage mit Sicherheit entsprechend ändern: Das Fernsehen
ist längst zum Opium des Volkes geworden. Etwa ein Drittel ihrer wachen
Zeit verbringen Kinder heute vor dem Bildschirm. Über zehn Prozent
lesen überhaupt nicht mehr, und nur ein ein Fünftel aller Abiturienten
ist in der Lage die für ein Universitätsstudium erforderliche Literatur
zu bewältigen. Von den angehenden Pädagogen gestand in einer vor
wenigen Jahren durchgeführten Studie ein Viertel "schon immer mit dem
gedruckten Wort auf Kriegsfuß gestanden zu haben". Wissenschaftlich
bewiesen ist heute, daß das Fernsehen genau jene Fertigkeiten des
menschlichen Gehirns nicht ausbildet, die später für gute Leser
notwendig sind: Sprache, aktives Denken, Beharrlichkeit und innere
Kontrolle.
Im westlichen Kulturkreis haben Kinder und Erwachsene jahrhundertelang
Musik gelernt, indem sie solche Musik hörten, die die vorangegangene
Generation geliebt hatte, ob es nun Volklieder, Opern, Operetten,
Mozart, Bach oder einfache Tanzmusik war. Nachdem die Musikindustrie
dahinter kam, daß sich Riesengewinne damit scheffeln ließen, wenn jede
Generation ihre eigene Musik hört, war es mit dieser Konvergenz vorbei.
Gegen die neuen Stars der Massenunterhaltung hatten die Eltern keine
Chance. Dieser blitzartige Schachzug der Unterhaltungsindustrie, die
Stelle der Eltern einzunehmen, verlief ziemlich reibungslos und kam vor
allem so rasch, daß keiner ihm wirkunsgvoll entgegentreten konnte. Es
kam jedoch noch schlimmer. An die Stelle romantischer und von
Liebesleid und Einsamkeit erzählenden Balladen und der
zärtlich-verspielten Texte der Beatles, denen man selbst als
Erwachsener noch etwas abgewinnen konnte, traten Hard-Rock und später
"Gangster-Rap", dessen Texte offenen Haß auf Frauen artikulieren, mit
Mord und Vergewaltigung kokettieren und zu brutaler Gewalt aufrufen.
Wenn man weiß, daß inzwischen bereits Sechs-, Siebenjährige diese Musik
hören, deren in frühkindlichem Lallen hervorgestoßene Gewalt-Parolen
ebenso wie das unzurechnungsfähige Techno- und Hard Rock-Gedröhn
jederzeit in ein primitives Pogrom umschlagen können, wundert man sich
über die spektakulären Massenmorde in unseren Schulen überhaupt nicht
mehr.
Die Gehirnforschung weiß heute, daß die von Kindern und Jugendlichen am
häufigsten gehörte Musik mit ihrem hämmernden Rhythmus vor allem von
der rechten Gehirnhälfte verarbeitet wird, die das Stück als Ganzes
hört und nicht in seine Teile zerlegt und hinterfragt. In der Folge
versetzt sich das Gehirn in einen Alpha-Zustand, der aktives Denken und
Lernen unmöglich macht und die Individuen bis zur offenkundigen
Ichlosigkeit regrediert. Genau dies ist aber die beste Voraussetzung
sich den ausgefransten, furchterregenden und halbwahnsinnigen Werten
der infantilisierten Spaß-Gesellschaft, "deren Mitläufer wirklich eine
grobe Unverschämtheit begehen, wenn sie "Ich" sagen" (Robert Kurz),
widerstandslos anzupassen.
Einem Reisenden im Mittelalter, der sich Paris oder Straßburg näherte,
stand klar vor Augen, daß an diesen Orten die Seele eines Menschen den
höchsten Wert besaß. Wenn wir uns heute, ob von der Autobahn oder mit
dem Zug kommend - um nur eine Beispiel zu nennen - Frankfurt am Main
nähern, sehen wir zunächst die Wolkenkratzer des Bankenviertels und
sind uns sofort bewußt, worauf es hier allein ankommt und was hier
zählt. Die Manager der Konzerne interessieren sich nämlich inzwischen
eher für die Generation junger Inder die als zukünftige
Computerspezialisten heranwächst oder junger Indonesier, die für die
günstige Fertigung von Mikrochips interessant sind, als für die Jugend
im eigenen Land. Diese jungen Philippinos, Indonesier und Inder haben
in der Tat noch gelernt, daß sie Teil einer Gemeinschaft sind, und daß
sie ihre Kindheit und Adoleszenz nicht auf Dauer beliebig verlängern
können. Unsere Jugendlichen erwarten hingegen, daß ihre Bedürfnisse
hier und jetzt erfüllt werden. Das Bewußtsein in einer
gesellschaftlichen Struktur zu leben, die aus Sorgen und Mühen,
Triebverzicht, Arbeit, Verantwortung und uneingelösten Schulden
gegen-über Gott und ihren Nächsten besteht, ist ihnen gänzlich abhanden
gekommen.
Der Haß und die Verbitterung, die zwischen der politischen Linken und
der politischen Rechten eines Landes herrscht, der Konflikt zwischen
den Generationen und der Krieg zwischen den Geschlechtern, sind
ebenfalls deutliche Zeichen einer infantilen Gesellschaft. Mitte der
sechziger Jahre brachen Familienregeln zusammen, die seit Jahrhundert
relativ unangefochten gegolten hatten. Tatsächlich geschah dies nicht
nur in den kapitalistischen Gesellschaften des Westens, sondern auch
dort, wo Fernsehen und Wohlstand noch nicht angekommen waren. In der
Volksrepublik China stürzten die "Roten Garden" im Verlauf ihrer
Kulturrevolution die fundamentalen Werte des Konfuzianismus in einem
Ausmaß, von dem die westlichen Achtundsechziger nicht einmal zu träumen
wagten. Gut ein Drittel der reichen kulturellen Erbschaft Chinas -
darunter unersetzbare Schriften, Bilder, Gebäude, Skulpturen und
Keramikarbeiten - wurde damals mutwillig zerstört. Noch weitaus
blutiger und gewalttätiger ereignete sich das gleiche Phänomen ein paar
Jahre später in Kambodscha.
Am Ende des 20.Jahrhunderts und zu Beginn des 21. leben die heutigen
Halberwachsenen hingegen in einem Zustand ausdrucksloser Gefestigtheit,
von spektakulären Ausnahmen abgesehen ohne organisierte
Gewaltausbrüche, aber auch ohne Spontaneität und Kreativität. Die
Hauptaufgabe ihrer deformierten Psyche besteht darin, mit Drogen,
Alkohol und beziehungslosem Sex ihre Wut und ihre Trauer über den
Zustand des psychischen Elends, in dem sie zu leben gezwungen sind, zu
betäuben. Die Sozialwissenschaft spricht angesichts der Muster einer
institutionalisierten Jugend von einem eher unpolitischen und von der
gesellschaftlichen Verantwortung entbundenen Zeitalter des
Moratoriums-Menschen, das für viele eine einzige große Fete und ein
realitätsentlastendes Intermezzo darstellt, solange man nicht unter dem
Zwang steht sich als mündige Individuen präsentieren zu müssen.
In unserer gegenwärtigen Gesellschaft hat der Erwerbs- und
Konsumkapitalismus auf der ganzen Linie den Sieg davon getragen. Wie
alle Kolonisatoren begann auch er sein Zerstörungswerk am Wertesytem
des unterworfenen Volkes und endete mit der Demontage aller tradierten
Kultur. An diesem Punkt stehen wir heute. Wir sind die erste Kultur der
Geschichte, die sich selbst kolonialisiert hat. Wir haben kein Zentrum
und keine geistige Mitte mehr, die wir lieben, verehren, anbeten und
fürchten, denn wir haben Gott auf den Müllhaufen befördert. Als die
Rolling Stones 1969 in Altamont ihr "Sympathy for the Devil" sangen und
die Hells Angels synchron dazu einen jungen Schwarzen erstachen, roch
die Luft nach Schwefel und das Licht glänzte schaurig und dämonisch
über den psychedelischen Wolken. Diese psychedelischen Verführer
schufen eine Hölle, in der die Jungen durch den Konsum von Drogen nicht
nur symbolisch ermordet wurden. Die amerikanischen Indianer sahen
damals beispielsweise mit Entsetzen, daß junge Weiße ohne die
Anwesenheit und Begleitung von erfahrenen Älteren, die imstande gewesen
wären ihre Seelen vor bösen Geistern zu schützen, LSD und Peyote
schluckten. Auch die Zerstörung des Ältestensystems in Kambodscha, wo
Alte, Lehrer, Künstler, Priester, Mütter und Väter in den siebziger
Jahren millionenfach gezielt ausgemordet wurden und die Ermordung von
Älteren in Somalia waren nur der Auftakt für kommende Barbarismen.
Wir wissen seit langem, daß das Bedürfnis nach Ordnung unter
sogenannten Normalbürgern durchaus terroristisch werden kann. Daß das
primäre Bedürfnis nach Lust und Spaß unter Vergnügunssüchtigen
ebenfalls terroristische Ausmaße annehmen kann, weiß man spätestens
seit der Etablierung der Love-Parade. Andererseits sind ihre Anhänger
im gewissen Sinne die logische Folge der Achtundsechziger-Rebellen.
Anders als authentische Revolutionäre in kommunistischen Diktaturen
oder in Latein-Amerika, die Gefängnis oder Folter immer auch als eine
selbstverständliche Konsequenz ihres Widerstands betrachteten, hatten
die Achtundsechziger den Wunsch von Halberwachsenen nach schranken- und
folgenlosen Aktionen. In diesem Wunschdenken wurden sie von ihren
Lehrern und Mentoren noch bestärkt, und die Bewegung brach zusammen,
als der damals noch nicht gänzlich entkernte Staat mit aller Vorsicht
und großer Milde die Ordnung wieder herzustellen versuchte.
Die kulturelle Linke verschweigt heute, daß das heillose Chaos, das sie
anrichtete, die Kolonialisierung unserer Kultur und das Abgleiten in
unkontrollierbare Zustände und kapitalistische Profitgier nach Kräften
förderte. Anstatt über den erlittenen Verlust zu trauern, was
angebracht wäre, hat die infantile Gesellschaft eine falsche Lustigkeit
zu ihrem obersten Prinzip erhoben, die sie mit flackernden Augen als
neue Weltanschauung ausgibt. Damit ist sie aber auch auf dem äußersten
Punkt der Idiotie angekommen. Unfähig die gesellschaftlichen Ursprünge
ihres Leidens durch die verschleierte Sozialisierung der Jugend zu
erkennen, wird das eigene Elend im Rückzug in immer absurdere mediale
Simulationen zum Privatismus stilisiert. Die Kleinanzeigen in linken
und ex-linken Stadtmagazinen sprechen mit ihrem narzißtischen Gestammel
wahrlich Bände.
In der Kultur der amerikanischen Indianer herrschte die Überzeugung,
daß man vor jeder Entscheidung deren Folgen bis in die siebte
Generation überdenken sollte. Ein anderes Beispiel für vertikales
Denken ist die Vorstellung, daß gleichzeitig mit uns ein spiritueller
Zwilling geboren wurde. In Rußland sind gewisse Züge dieser schönen
Tradition noch erhalten, dort wird der Name mit einem Heiligen geteilt
und bei Geburtstagsfeiern Kerzen für den Zwilling angezündet. In der
infantilen Gesellschaft feiert die Masse als inszenierte Moden- und
Fleischbeschau nur noch sich selbst, und längst fühlt sich dabei keiner
mehr dem anderen gegenüber verpflichtet. Und wenn wir die
halberwachsenen Kulissen der Polit-Pop-Kultur betrachten, die sich
gelangweilt auf den Regierungsbänken und ihren Parlamentssitzen räkeln,
wird einem schnell klar, daß Entscheidungen, die hier getroffen werden,
eher der Auslagerung von Problemfeldern dienen, als den Problemen auf
den Grund zu gehen. Einig ist man sich hier nur noch im Haß auf die
Vergangenheit. Dieser Haß ist jedoch, wie der große kolumbianische
Philosoph Nicolàs Gómez Dávila schreibt, "ein eindeutiges Symptom einer
Gesellschaft, die verpöbelt."
Was wir heute vor uns sehen, ist eine ganze Schüler- und
Studentengeneration, die in einer kulturell verödeten Landschaft lebt.
Das Christentum hat längst seine prägende Kraft verloren, die Älteren
sind ohne jede Macht und der sogenannte Generationenvertrag ist das
Papier nicht wert, auf dem er gedruckt ist. Wir erleben ein
schwindendes Interesse an Geschichte, Philosophie, an den schönen
Künsten, an Sprachen - übrigens auch der eigenen Muttersprache -, an
klassischen Bildungsgütern wie der Bibel, Shakespeare, Goethe, der
Antike oder griechischer Mythologie. Dort, wo einst schöne alte Häuser
standen, wo Menschen sich an vertrauten Plätzen zum Gespräch trafen und
inmitten blühender Gärten flanierten, finden wir heute die üblichen
Ruinen des Fortschritts: Supermärkte, Hochhäuser und Stadtautobahnen.
Eine Technologie der Zerstörung, dessen Zielscheibe die Jugend ist, hat
sich etabliert. Überall stoßen wir auf monströse Häßlichkeit,
Uniformität, Ähnlichkeit und Gleichheit. Erwachsene regredieren in die
Adoleszenz, Kinder und Jugendliche gehen dagegen den umgekehrten Weg,
weigern sich erwachsen zu werden und verbleiben freiwillig in einem
selbstgewählten Zustand permanenter Infantilität.
In seinem vor fast vierzig Jahre erschienenen Buch "Auf dem Weg zur
vaterlosen Gesellschaft", einer aus psychoanalytischer Sicht recht
genauen Zustandsbeschreibung und Analyse der Fundamentalkrise der
infantilen Gesellschaft, schrieb Alexander Mitscherlich: "Die
Massengesellschaft mit ihren Arbeitsaufforderungen in Abhängigkeit
unter Ausschluß der spurenhaften, selbstverantwortlichen Leistung,
schafft ein Riesenheer von rivalisierenden, neidischen Geschwistern".
Die Möglichkeiten und Chancen der Selbstheilung einer kolonialisierten
Kultur und kindlichen Gesellschaft sah er als relativ gering bis
aussichtslos an. Dieser pessimistischen Einschätzung vermag man heute
weniger denn je zu widersprechen.
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