Maria als Urbild heiligen Lesens
Schriftsteller-Heilige, Schriftsteller-Patrone
- Eine literatur-theologische Betrachtung -
von
Gerd-Klaus Kaltenbrunner
Unsere geliebte Kirche verehrt von alters her einige Heilige als
vorzügliche Beschützer der Schriftsteller und aller, die mit
Gelehrsamkeit, Bücherwesen und Übersetzungskunst zu tun haben: an
erster Stelle den Evangelisten, Apostel und Lieblingsjünger Jesu, den
Heiligen Johannes, der am Schluß seines Berichtes über Leben, Leiden
und Auferstehung des Herrn versichert: "Es gibt noch vieles anderes,
was Jesus getan hat; wollte man dies im einzelnen aufschreiben, so
könnte, nach meinem Dafürhalten, das Weltall (ton kósmon) die Bücher,
die man dann schreiben müßte, nicht fassen" (Jo 21,25).
Derselbe Johannes schaut auf der Insel Patmos, wo noch heute die Höhle
gezeigt wird, in welcher er zur Zeit der Christenverfolgungen unter
Kaiser Domitian die Geheime Offenbarung empfangen hat, zu wiederholten
Malen geheimnisvolle Bücher: das Buch mit den sieben Siegeln, die
Bücher des Gerichts und das Buch des Lebens: "Und ich sah die Toten,
groß und klein, vor dem Throne stehen. Und Bücher wurden aufgeschlagen.
Und noch ein anderes Buch wurde geöffnet, das des Lebens. Und die Toten
wurden gerichtet nach ihren Werken, wie sie in den Büchern
aufgeschrieben sind" (Offb 20,12; vgl. auch 3,5; 13,8; 17,8; 21, 27).
Welche heilsentscheidende Rolle dem "Lebensbuch des Lammes", wie es
Johannes auch nennt, dereinst zukommen wird, enthüllen seine
furchtbaren Worte: "Wenn jemand nicht im Buch des Lebens geschrieben
gefunden wurde, so wurde er in den Feuersee geworfen", also den Flammen
der Hölle überantwortet (20,15; vgl. 19,20 und Matth 25,41).
Ein Buch zum Verspeisen
Von noch einem anderen Buch berichtet uns der Seher der grandiosen,
sowohl schauererfüllenden als auch hoffnungsfroh beseligenden Gesichte,
und zwar im zehnten Kapitel der Apokalypse. Dieses wundersame
Geschehnis kann wohl niemand, der davon gelesen oder gehört hat, jemals
vergessen. Allein schon wegen dieser einen in höchstem Maße
merkwürdigen Begebenheit verdiente der Heilige Johannes als Patron
aller ernsthaften Schriftsteller und Büchermacher verehrt zu werden:
"Ich sah einen anderen starken Engel vom Himmel herabkommen. Er war in
eine Wolke gehüllt, und der Regenbogen (iris) stand über seinem Haupte,
und sein Antlitz leuchtete wie die Sonne (helios!), und seine Füße
glichen Feuersäulen, und in seiner Hand hatte er ein geöffnetes
Büchlein (biblaridion eneogmenon) ... Und die Stimme, die ich aus dem
Himmel gehört hatte, hörte ich wieder, und sie sprach zu mir: 'Geh hin,
nimm das geöffnete Buch aus der Hand des Engels ... ' Und ich ging hin
zu dem Engel und bat ihn, mir das Büchlein zu geben. Und er sagte zu
mir: 'Nimm und iß es! Deinem Magen wird es zwar bitter sein, aber in
deinem Munde süß wie Honig.' Und ich nahm das Büchlein aus der Hand des
Engels und aß es, und es war in meinem Munde wie süßer Honig; doch als
ich es aufgegessen hatte, da ward es mir bitter im Bauche. Und da sagte
man mir: 'Es ist nötig, daß du wieder weissagst (prophetaiseu) über
viele Völker und Völkerstämme und Zungen und Könige'." (vgl. dazu auch
Ezechiel 2,8; 3,3!)
Welch erhabene, tiefsinnige und vielbedeutsame Handlung! Wie könnte
schöner und eindringlicher der Vorgang völligen Einswerdens mit dem
geoffenbarten wie offenbarenden Wort, die vorbehaltlose Aneignung und
Assimilation der himmlischen Botschaft, die uneingeschränkte Hingabe an
das dem Apostel aufgetragene Prophetenamt ausgedrückt werden als durch
das sinnbildkräftige Verspei-sen der kleinen Schriftrolle, empfangen
von einem Engel, also einem machtvollen Gottesboten! Und wie wunderbar
wird das Doppelantlitz des vom Himmel herabgekommenen Schriftwortes und
Verkündigungsgeheißes umschrieben, nicht durch abgezogene, lebensferne,
bleiche Begriffe, sondern ganz und gar sinnenfällig, drastisch, ja
schmeckbar auf zwiefach mundende Weise: honigsüß und gallenbitter. Das
visionäre Geschehnis erscheint geradezu als eine Art von Heiliger
Kommunion, durch die wir ja ebenfalls das ewige Wort Gottes auf irdisch
höchstmögliche Weise in uns aufnehmen: die zweite Person der
Allerheiligsten Dreifaltigkeit, den menschgewordenen Logos und Sohn
Marias in Gestalt einer kreisrunden, fast hauchzarten Oblate. Wer
dieses lebendige und lebenstiftende Himmelsbrot, panis angelorum,
würdig ißt, dem wird es in Ewigkeit süß und immer süßer munden; wer es
unwürdig speist, der versündigt sich am Leib des Herrn und wird, sollte
er in diesem Tun reuelos verharren, dereinst unaufhörlicher Bitternis
verfallen (vgl. 1 Cor 11, 23-29).
So ist es auch süß und ehrenvoll, durch Engel belehrt,
unvergleichlicher Schauungen sowie hoher Vollmachten gewürdigt zu
werden: zu prophezeien über Völkerschaften und Könige. Süß ist es,
erleuchteten Sinnes zu weissagen, da, nach einem herrlichen Wort des
leider fast ganz vergessenen Philosophen Franz von Baader (1765-1841),
des größten, den das katholisch verbliebene Deutschland nach der
unseligen "Reformation" hervorgebracht hat, "Gott nichts tut, was er
nicht vorher seinen Vertrauten oder Propheten vorhinweiset, welche
sohin die eigentliche Jugend der Societät zu jeder Zeit bilden,
insofern das zeitlich noch Ungeborene doch noch jünger ist als das
zeitlich jüngst Geborene" (S.W. XIV, S.54).
Wie St. Dionysius Areopagita in einem an den Hierarchen Titus
gerichteten Brief sagt, werden die Worte göttlicher Weisheit auch
deshalb mit Honig und Honigseim verglichen, weil sie wie das süße
Bienenwerk heilen, haltbar machen und schönheitspendend sind (galt doch
bei den antiken Griechen und anderen Mittelmeervölkern der Honig, den
ja auch schon das Alte Testament hochpreist, geradezu als
Universalmedizin, Panazee und kosmetisches Elixier). Bitter mundet die
Botschaft jedoch, weil sie viele erschreckende, bestürzende und
unheilvolle Dinge enthält, ja von Himmel und Erde erschütternden
Katastrophen spricht und uns den Glauben zumutet, daß unverlierbare
Schönheit, ewig hochzeitliche Liebe und Sonne, Mond wie Sterne
erübrigende, weil überflüssig machende Lichtheit erst jenseits eines
aus Blutströmen, Feuersbrünsten und Drachenkämpfen gewobenen Eisernen
Vorhangs den im Buche des Lebens eingetragenen Seelen winken. Bitter
ist das Amt des Propheten auch deshalb, weil er, ähnlich der Seherin
Kassandra in der griechischen Tragödie, mit seinen Warnungen und
Weherufen meistenteils auf Undank, Spott oder sogar auf zu purer
Mordwut überwallenden Haß stößt (vgl. Matth 13,57; 21,34-35; 22,3-6;
23,37; Mk 12,2-8; Jo 4,44).
Aber noch aus einem weiteren Grund geziemt dem Heiligen Johannes, dem
Verfasser dreier Briefe, des vierten Evangeliums und der einen Geheimen
Offenbarung, des einzigen prophetischen Buches des Neuen Bundes, die
Würde eines Erzschirmherrn aller christlichen Schriftsteller,
Schriftausleger und Schriftverbreiter. Er durfte nämlich kraft des
Heiligen Geistes, der ihn untrüglich erleuchtet, und dank der
Unterrichtung, welche er von dem Engel empfangen hatte, das letzte
Kapitel des letzten Werks des Neuen Testaments mit dem Bemerken
abschließen, von dem ein weltlicher Autor nur in seinen kühnsten
Träumen träumen kann, und das, wenn er es wirklich niederschriebe, ihn
als einen größenwahnsinnigen Verrückten auswiese, während es in der
Apokalypse ganz angemessen erscheint, ja als Krone, Siegel und
autoritative Authentik oder Echtheitsbezeugung (ich übersetze jetzt
höchstmöglich an den Urtext angeschmiegt):
"Ich bezeuge (martyro ego!) jedem, der die Weissagungsworte dieses
Buches vernimmt: Wer etwas zu ihnen hinzufügt, dem wird Gott die in
diesem Buch beschriebenen Plagen aufbürden; und wenn jemand von den
Weissagungsworten dieses Buches etwas wegnimmt, dem wird Gott wegnehmen
seinen Anteil am Baum des Lebens und an der heiligen Stadt (polis
hagia), von denen geschrieben steht in diesem Buch."
Franz von Sales als Schirmherr glaubenstreuer Autoren
Unsere heilige Kirche, die bereits hienieden, wie in der Lesung am
Sonntag Laetare mitreißend gesagt wird, trotz aller Drangsale und in
allen Drangsalen unerschütterlich in jenes wahre, unvergängliche und
lichtüberströmte Jerusalem hineinragt, welches von oben stammt und
unsere freigeborene Mutter ist (Galater 4,26), unsere Kirche verehrt
nach und neben dem Apostel Johannes noch etliche andere Heilige als
Patrone der schreibenden Zunft und derer, die als Hersteller, Drucker,
Buchbinder oder Kaufleute mit Geschriebenem und Gedrucktem beruflich zu
tun haben.
Ich erinnere insbesondere an den Heiligen Franz von Sales, der neben
Philipp von Neri und Theresia von Lisieux zweifellos zu den menschlich
anziehendsten und liebenswürdigsten, ich wage zu sagen: charmantesten
Heiligen der neueren Zeit zu zählen ist. Franz von Sales, dem die
kleine katholische Kirche des Städtchens geweiht ist, in der ich diese
Betrachtungen niederschreibe, war ein begnadeter Autor, reichlich
ausgerüstet mit dem Doppelgeschenk eines tiefen Feingefühls für die
mystische Wohlgefügtheit und Harmonie der Offenbarungswahrheit und mit
einer herzgewinnenden, sowohl diskreten als auch seelenbeschwingenden
Höflichkeit gegenüber seinen Lesern.
Wenn wir aufrichtig sind, müssen wir uns eingestehen, daß viele Werke
der älteren aszetischen Literatur uns nur wenig ansprechen, und ebenso,
daß wir bei unzähligen Erzeugnissen barocker Wortschmiederei
kaltbleiben. Anders ist es, wenn wir zu den, wie ich vermute, in fast
alle Sprachen der Welt übersetzten Büchern des Heiligen Franz von Sales
greifen, der doch ein ausgesprochener Barockautor und noch dazu ein
Verfasser aszetischer Schriften ist. Wer immer sich unbefangen in
seinen "Theotimus" ("Traité de l'amour de Dieu") oder seine vielleicht
noch anmutigere "Philo-hea" ("Introduction à la vie dévote") versenkt,
wird mit jubelndem Entzücken immer mehr darin lesen wollen und, ganz
von selbst den reizenden Lockungen dieses 1877 von Papst Pius IX. zum
Kirchenlehrer und Schriftstellerpatron erhobenen "heiligen Verführers"
willig erliegend, allmählich auch sein eigenes Sinnen, Trachten und
Leben christlicher zu formen bemüht sein. Was nicht zuletzt vor allem
die "Philothea" des am 28. Dezember 1622 verstorbenen Bischofs von Genf
so anziehend macht, ist der von Seite zu Seite sich steigernde
Eindruck, daß Franz von Sales nicht nur für Geistliche, sondern auch
für Laien, nicht nur für Mönche und Anachoreten, sondern auch für
Weltleute schreibt, eingeschlossen Ladies und Grandseigneurs, Damen und
Kavaliere, Honoratioren und Patrizier, desgleichen für geplagte
Hausmütter und prüfungsfürchtige Studenten, für keinen Achtstun-dentag
genießende Gelehrte, Freiberufler und Handwerker. Mit Recht hat unsere
Kirche diesem hei-liggesprochenen Literaten hohen Ranges, dessen mit
geistlichen Duftblüten, Bildern, Vergleichen, Anmutungen und
Anspielungen auf antike wie patristische Autoren durchsetzter Stil
jeden christlichen Humanisten entzücken muß, eine der schönsten
Meßorationen gewidmet, die, alljährlich am 29. Januar gebetet, auf die
Bücher des Gefeierten deutlich hinweist: "O Gott, Du hast zum Heile der
Seelen Deinen heiligen Bekenner und Bischof Franz von Sales allen alles
werden lassen: verleihe uns huldreich, daß wir, von der wonnigen Gewalt
Deiner Liebe durchströmt, unter der Anleitung seiner Unterweisungen und
auf die Fürsprache seiner Verdienste (auch als Schriftsteller!) die
ewigen Freuden erlangen."
Nicht nur für die Schriftsteller im allgemeinen hat unsere
unerschöpflich reiche Kirche mit St.Johannes und St.Franz Salesius zwei
hervorragende Patrone eingesetzt, sondern auch für die einzelnen
Bereiche der wissenschaftlichen wie der schönen Literatur besondere
Schützer, Fürsprecher und Hüter ernannt oder, wenn vom Volke
traditionell verehrt, sie mit ihrem mütterlichen Segen großmütig gelten
lassen. So versteht es sich von selbst, daß theologische Autoren neben
dem vierten Evangelisten insbesondere den Heiligen Paulus als einen der
Ihren verehren; von den Kirchenvätern sind ihnen vor allem
St.Hieronymus, St. Augustinus und St. Dionysius lieb, welch letzteren
der ebenso fromme wie weise Kardinal Nikolaus von Kues, maximus ille
divinorum scrutator genannt hat, "jenen großen Erforscher der
göttlichen Geheimnisse" (De docta ignorantia 1,16). Augustinus aber ist
bekanntlich durch den Refrain eines Liedchens, das von einem namenlosen
Kind im Nachbargarten gesungen wurde, endgültig zum wahren Glauben
gelangt: Tolle, lege; tolle, lege, "Nimm es, lies; nimm es, lies!"
Diesen Ruf deutete er als Aufforderung, die Bibel aufzuschlagen und die
Stelle zu lesen, auf die er zuerst stieße. Es waren die letzten Sätze
des dreizehnten Kapitels aus dem Brief des Apostels Paulus an die
Römer. Deren Lektüre leitete Augustinus' Umkehr ein (vgl. Confessiones
8, 12, 29).
Weitere Autoren-Patrone ...
Die Hagiographen und unter ihnen vorzüglich die Mariologen wenden sich
naturgemäß an den Heiligen Lukas, der übrigens der einzige Nichtjude
unter den vier Evangelisten ist und das Privileg genießt, von der
Gottesmutter selbst in einige der tiefsten Mysterien unseres Glaubens
eingeweiht worden zu sein. Weil der Grieche Lukas und "Heidenchrist"
noch anschaulicher als die anderen Berichterstatter das Leben Jesu
schildert und überdies, nicht nur bei den Heilungswundern, auf die
Umstände der Krankheiten erstaunlich genau eingeht, gilt er auch als
Patron der Maler (die einst, wie noch die sogenannten Nazarener im
Zeitalter der Romantik, sich in "Lukasgilden" und
"St.Lukas-Bruderschaften" zusammentrafen) sowie als Patron der Ärzte,
Diätetiker, Makrobiotiker, Homöopathen und medizinischen Schriftsteller.
Die Philosophen und philosophischen Autoren huldigten seit vielen
Jahrhunderten der Heiligen Katharina von Alexandrien, dieser
christlichen Hypathia, welche mit Sokrates und Boëthius das Dreigestirn
der philosophischen Märtyrer bildet. Etliche philosophische
Bücherschreiber neuerer Zeit sind auch dem seligen Raimundus Lullus
zugetan, dem glühenden Antiaverroisten, Mohammedaner-Missionar und
Mystiker, der neben die Liebe, welche er unbefangen Amor nennt, als
vierte göttliche Tugend die Weisheit stellt, die Sophia oder Sapientia,
deren drei Töchter eben Glaube, Hoffnung und Liebe sind.
Wer naturkundliche Abhandlungen verfaßt, hat die Wahl zwischen den
beiden heiligen Deutschen Hildegard von Bingen und Albertus Magnus. Die
Rechtsgelehrten, Advokaten und juristischen Fakultäten stehen unter dem
Schutz des Heiligen Yvo, dessen Namen noch heutzutage französische,
belgische, italienische und iberoamerikanische Vereine für den
Rechtsschutz mittelloser Angeklagter und die Unterstützung ratloser
Rechtsuchender ziert. Lehrer des kanonischen Rechts und Autoren
kirchenrechtlicher Bücher können neben St.Yvo überdies noch den
Dominikaner Raimund von Peñafort und den Jesuiten Roberto Bellarmino
als ihre besonderen Gönner betrachten; beide Heilige haben noch heute
mustergültige und im Grund unveralterliche theologisch-juristische
Werke geschaffen.
Den Lyrikern, Musikern, Musikwissenschaftlern, Organisten und Autoren
musikologischer Bücher sind naturgemäß die jungfräuliche römische
Märtyrerin Cäcilia, welche dem Gesang der Engel schon hienieden
lauschen durfte, und der spanische Karmeliter Johannes vom Kreuz ans
Herz gewachsen, der Dichter unter den Mystikern, dessen vom Hohenlied
inspirierte Gesänge Cantico espiritual und L'alma de amor viva nicht
nur zu den Höchstgipfeln geistlicher Poesie, sondern der Weltliteratur
insgesamt gehören. Aber auch der wortgewaltigste der drei
kappadokischen Kirchenlehrer, dem wir neben vielen meisterhaft gebauten
Reden, Festpredigten, Nekrologen und Briefen, die allesamt stilistische
Glanzleistungen sind, rund vierhundert Gedichte mit über
sechzehntausend Versen verdanken, darunter Hymnen, Elegien, Epigramme,
didaktische Poeme und die reizenden Carmina arcana - die Rede ist, wie
man wohl bereits erraten hat, von St.Gregor von Nazianz -, kann mit
hohem Recht als Dichterpatron gelten. Gregor, der seine Schreibzelle
nur verließ, um die Kirche zu besuchen oder um in der Bibliothek ein
seltenes Buch einzusehen, war ein echter poeta doctus, der sogar
theologische Streitfragen und Häresien mit ebensoviel Gelassenheit wie
Eloquenz behandelte. Als er durch ruchlose Ränke seiner Widersacher
dazu gezwungen worden war, auf sein geistliches Amt zu verzichten und
sich in die Einsamkeit eines Landgutes zurückzuziehen, da kündigte er
den Irrlehrern und Ketzern drohend an, was er als fruchtbarer
Schriftsteller in der Tat wahrgemacht hat: "Ihr klatscht mit den Händen
vor Freude, daß meine euch widerwärtige Zunge endlich aufhört, euch zu
treffen. Nun, sie hört auf; aber freut euch nicht zu früh: Meine rechte
Hand ist mir verblieben, und so werden künftighin meine Schreibfedern
gegen euch fechten."
Lob des Lesens und der Legende
Doch was nützt alles Schriftstellern und Dichten, alles Singen und
Sagen, wenn es nicht Leserinnen und Leser gibt, die mit ihren Herzen
mit- und fortschreiben, mit- und weiterdichten, mit- und nachsingen,
das Gesagte mitsprechen und weitersagen?
Autoren haben mächtige Patrone, und ich habe keineswegs alle genannt.
Wäre nicht der selige Bischof Jacobus a Voragine, der hochberühmte
Sammler und Zusammenfasser frühchristlicher wie mittelalterlicher
Heiligenviten mit seiner Legenda aurea, ebenfalls ein würdiger Patron
der Hagiographen und Schöpfer von Legenden, das heißt ursprünglich: von
"Lesenswertem"? Und haben ihm nicht bis in unsere Tage hinein, wie die
liebevoll ausgewählte und entzückend gestaltete Anthologie "Legenden
des 19. und 20. Jahrhunderts" (erschienen im Manesse-Verlag, Zürich
1990, 496 S.) überzeugend beweist, katholische wie evangelische Dichter
mit Gewinn gehuldigt, unter ihnen so namhafte wie Honorb de Balzac,
Heinrich von Kleist, Heinrich Federer, Gustave Flaubert, Reinhold
Schneider, Marguerite Yourcenar ("Unsere Liebe Frau mit den
Schwalben"), Louis Pergaud ("Das Wunder des Heiligen Hubertus"), Marie
Luise Kaschnitz ("Der Mönch Benda"), Selma Lagerlöf ("Das Schweißtuch
der Heiligen Veronika"), Jules Supervielle ("Antonius aus der Wüste"),
Gertrud
von Le Fort ("Die Tochter Jephthas"), Josef Vital Kopp ("Die Tochter
Sions", "Die schöne Damaris") und Diana C. Wyssdom ("Weisheit, die
spielt", "Epitres à un ami bibliophile", "Le sept piliers ou La
naissance de la Sainte Sagesse") ?
Warum habe ich nicht, so könnten überkritische Leser fragen, Jacopone
da Todi erwähnt, der so-wohl herrliche Lauden, geistliche Lobgesänge in
umbrischer Mundart, als auch gegen Bonifaz VIII. gerichtete bissige
Satiren schrieb? Weshalb fehlt der Selige St.Galler Benediktiner Mönch
Notker Balbulus mit seinen Sequenzen, Hymnen und Gedichtzyklen, mit
seinen St.-Stephanus-Liedern, seiner metrisch gestalteten Gallus-Vita
und den "Gesta Caroli Magni"? Hätte ich nicht auch die ausgerechnet am
Valentinstag des Jahres 1961, also an dem Tag, an dem sich seit alters
Freunde und Verliebte mit Scherzen, Blumen und angenehmen
Überraschungen beschenken, von modernisti-schen vatikanischen
Bürokraten aus dem Heiligenkalender getilgte Märtyrer-Jungfrau
Philomena nennen müssen, weil sie zu gleicher Zeit drei Menschen, die
sich untereinander nicht gekannt hatten, die rührende Geschichte ihres
kurzen, aber glorreichen Lebens übereinstimmend enthüllt und überdies
den Heiligen Johannes Vianney, den Pfarrer von Ars, nachweislich zu
seinen besten Predigten inspiriert hat?
Ablaßgewinn durch Lektüre
Gewiß, gewiß wäre noch vieles zu sagen und nachzutragen. Aber würde man
dann diese viel zu lange Betrachtung überhaupt drucken und, wenn sie
gedruckt vorläge, auch lesen? Autoren haben mächtige Patrone, wie schon
gesagt; aber auf Erden sind sie doch zusätzlich angewiesen auf Leser -
männliche wie weibliche, Erwachsene und, wenn es geht, auch
lesehungrige, geistdurstige, wunderempfängliche Kinder! Autoren leben
davon, daß ihre Essays veröffentlicht, ihre Bücher gekauft, rezensiert
und womöglich in ihrem Schaffen durch mäzenatische Großherzigkeit
tatkräftig gefördert werden. Davon wissen gerade christliche,
insbesondere glaubenstreu katholische Literaten ein trau-rig Lied zu
singen. Der Borromäus-Verein seligen Angedenkens scheint im Zuge des
Konzils einge-schlafen zu sein oder sich selbst für obsolet zu halten.
Und die lieben Katholiken begnügen sich, Gott sei's geklagt, mit den
üblichen Zeitungen und, wenn es hoch geht, mit dichterisch,
wissenschaftlich und theologisch meist anspruchslosen, oft sogar
kitschig-sentimentalen Traktätchen, Broschüren und Faltblättern. Im
übrigen huldigen sie dem Moloch Fernsehen und werden auf televisionäre
Weise weniger zu "Mediokraten" als vielmehr zu "Mediokritäten". Sie
jammern pflichtschuldigst über den Verfall christlicher Literatur, aber
wenn man sie nach Ludwig Derleth, Francis Jammes oder Paul Claudel
fragt, wissen sie nicht einmal eines der Werke dieser Magnaten
katholischer Poesie zu nennen. Vielen sind sogar die Namen völlig
unbekannt.
Noch unbekannter ist ihnen das wunderbare Privileg, das der
hochgebildete, gelehrte, frommsinnige und auch schriftstellerisch
überdurchschnittliche Papst Benedikt XIV. am 16. Dezember 1746 in
seiner Bulle "Quemadmodum" voll erzväterlich-hohepriesterlicher Milde
allen Christgläubigen eingeräumt hat: Wer einen ganzen Monat hindurch
täglich eine halbe oder wenigstens eine Viertelstunde dem innerlichen
Gebet und der Betrachtung oder der andächtigen Lesung eines religiösen
Schriftstellers obliegt, kann an einem beliebigen Tage des Monats einen
vollkommenen Ablaß gewinnen, wenn die allgemein üblichen Bedingungen
wie vorherige Beichte, Kommunion und Gebet auf die Meinung der heiligen
Kirche erfüllt sind. Wird diese geistliche Lektüre das ganze Jahr
fortgesetzt - täglich ein halbes, notfalls sogar nur ein
Viertelstündchen! -, dann wird der vollkommene Ablaß allmonatlich
verliehen. Dieser Ablaß kann getrost auch den im Fegfeuer oder
Purgatorium leidenden armen Seelen unserer Lieben zugewendet werden.
Dies die Bestimmung des ehrwürdigen Papstes Benedikt XIV., der mit
bürgerlichem Namen Prosper Lambertini hieß und einer der glanzvollsten
Kirchenrechtler, Wissenschaftler und Kunstförderer unter den
Nachfolgern Petri war. Wenn ich ein Bekenntnis ablegen darf: In meinem
ganzen Leben habe ich noch nie eines Mannes Hände geküßt, weil ich
Kardinal Joseph Mindszenty, obwohl er eine Zeitlang fast mein Nachbar
war, leider nicht einmal flüchtig begegnet bin. Wenn es neben dem
ungarischen Kirchenfürsten noch einen hohen Geistlichen gibt, dem ich
mit einem Handkuß zu huldigen imstande gewesen wäre, dann ist es
Benedikt XIV., jener wunderbare Papst, der das Kunststück
zustandebrachte, gewisse lästerliche Werke Voltaires auf die Liste der
kirchlich verbotenen Bücher zu setzen und gleichwohl dem zweifellos
hochtalentierten Literaten seinen apostolischen Segen zu übermitteln
und überdies einen großzügigen Ablaß allen jenen zu gewähren, die
bereit sind, täglich zumindest fünfzehn Minuten der Lesung der Bibel
oder glaubenstreuer Schriftsteller zu weihen. Aber wer weiß das schon?
Wer mir mißtraut, möge in gutbestückten Klosterbibliotheken in meiner
Quelle nachsehen: "Gebetbüchlein für Verehrer der heiligen Mutter Anna.
Neu und vermehrt herausgegeben von Michael Sintzel. Vierte Auflage.
Sulzbach, in der J.E. von Seidel'schen Buchhandlung", 1849, Seite
129-130.
Was in allen Schriften über Ihn steht ...
Es gibt, wie ich mich in verschiedenen Nachschlagewerken überzeugen
konnte, seit langem anerkannte Schutzpatrone für Schriftsteller,
Gelehrte, philosophische und andere Autoren, für Buchbinder,
Buchdrucker, Buchhändler, Verleger und sogar für Briefträger, Studenten
und Spielzeughersteller, nicht aber für diejenigen, ohne deren
beschauliche Tätigkeit oder tätige Beschaulichkeit alles Geschriebene,
Gedruckte und Gehandelte so tot wäre wie ein tönendes Erz oder eine
klingende Schelle: die Leser.
Eine seltsame Lage, wenn wir bedenken, daß Gott bereits in
vorchristlicher Zeit dem Moses, dem Josue und den Königen Israels zu
wiederholten Malen auftrug, befahl und einschärfte, das Buch des Bundes
und des Gesetzes zu lesen (vgl. 2 Moses 24,7; 5 Moses 17,19 f.; Josue
1,8; 2 Esdras 8,3; 13,1; Isaias 34, 16).
Eine seltsame Lage, wenn wir uns daran erinnern, daß Jesus Christus
schon als zwölfjähriger Bub mit den Schriftgelehrten im Tempel
diskutiert hat und diese berufsmäßigen Bücherleser durch seine Weisheit
"außer sich geraten ließ" (eksistanto), wie der Heilige Lukas mitteilt
(zweifellos aufgrund einer ihm von der Gottesmutter Maria selbst
übermittelten Nachricht). Und auch späterhin, sogar Satan gegenüber,
erweist sich der Sohn Gottes als unübertroffener Bibelleser (vgl.
Matthäus 4,4-10), von dem, abermals durch Lukas, berichtet wird (4,15
ff.), daß er in der Nazarether Synagoge das Buch des Propheten Isaias
mit Worten geistiger Kraft ausgelegt habe: "Und alle gaben ihm Zeugnis
und staunten (ethaumazon) über die Worte der Gnade (lógos tes
charitos), die aus seinem Mund hervorgingen." Sogar der verklärte
Auferstandene fand es seiner nicht unwürdig, den bangen Jüngern auf dem
Wege nach Emmaus den liebevollen Tadel zu erteilen, daß sie schlechte
Leser seien. "O ihr Unverständigen und Trägherzigen, wie schwer fällt
es euch doch, alles zu glauben, was die Propheten gesagt haben! Mußte
nicht Christus dies erleiden und so eingehen in seine Herrlichkeit?"
Und dann heißt es bei Lukas (24,27): "Und angefangen bei Moses und
allen Propheten, erklärte er ihnen, was in allen Schriften (en pasais
tais graphais) über Ihn steht."
Eine seltsame Lage, wenn es wirklich keine Patrone für die Leser gäbe,
da doch sogar Jesus selbst ein begnadeter, ein göttlicher Leser gewesen
ist! Unausdenkbar und dennoch wirklich: In und durch Christus ist der
allwissende Gott und Logos Leser geworden ... Eine um so seltsamere
Lage, wenn wir uns daran erinnern, daß jede heilige Messe neben der
jeweiligen Evangelienperikope eine "Lesung" (und manchmal deren
mehrere) enthält, meistens aus den Apostelbriefen, gelegentlich aber
auch aus dem Alten Testament, der Apostelgeschichte oder der Geheimen
Offenbarung.
Um so seltsamer, wenn wir bedenken, daß die Priesterweihe die Weihe zum
"Lektor" - zum Leser, Vorleser und Hüter des Lektionars, des
liturgischen Lesepults und Lesungsbuches - unaufhebbar voraussetzt; und
daß der römische Heiligenkalender einer kaum zählbaren Schar von
Lektoren (auch von lesenden Knaben und Halbwüchsigen, welche den
Märtyrertod erlitten haben) rühmend gedenkt. Nur im Vorübergehen möchte
ich noch an die lectio divina erinnern, die insbesondere bei den Söhnen
und Töchtern des Heiligen Benedikt und allen anderen von ihm
abstammenden Orden neben der Liturgie und der Arbeit eine zentrale
Rolle spielt.
Um so seltsamer, wenn wir bei dem Völkerapostel Paulus, der, wenn er
nicht gerade betete oder predigte, in den Schriften des Alten Bundes
gelesen hat (die des Neuen Testaments waren ja damals noch gar nicht
oder, allenfalls nur ansatzweise und fragmentarisch vorhanden), im
fünfzehnten Kapitel des Römerbriefes lesen: "Alles, was einst
geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben worden,
damit wir durch die Geduld und durch den Trost der Schriften
(parakléseos ton graphon) die Hoffnung haben" (15,4).
Naheliegend wäre es, dieses patronale Defizit dadurch zu beheben, daß
wir alle Schriftsteller-Heiligen auch als Leser-Heilige würdigen. Wer
schreibt, hat stets zuvor gelesen und Gelesenes zustimmend, ergänzend
oder auch tadelnd verarbeitet. Dies sei ohne Einschränkung zugegeben,
insbesondere im Hinblick auf die großen Kirchenväter und Kirchenlehrer.
Wer nur einige Seiten der "Summa theologiae" gelesen hat, weiß, daß der
Heilige Thomas von Aquino ein geradezu bis zur Weißglut glühender Leser
gewesen sein muß. Mehr als eintausendfünfhundertmal zitiert er den
Areopagiten als geradezu apostolische Autorität: Dionysius dicit ... ;
wie oft er Aristoteles, den er meistens einfach "den Philosophen"
heißt, in seinem monumentalen Werk anführt, hat wohl noch niemand genau
herausgefunden.
Die allerseligste Leserin des Horaz
Nein, nicht nur die Schriftsteller, Dichter und Büchermacher haben ihre
Patrone, deren ranghöchste St.Johannes und St. Paulus sind, sondern
auch die Leser. Diese haben sogar eine Königin. Sie ist jene Frau, der
die Ruhmestitel zustehen, welche keinem anderen Heiligen, und sei er
noch so groß, beigelegt werden: Mater boni consilii, Virgo
Erudentissima, Sedes sapientiae, Regina angelorum, Regina confessorum,
"Mutter des guten Rates, Weiseste Jungfrau, Thron der Weisheit, Königin
der Engel, Königin der Bekenner", wie die Lauretanische Litanei sie
rühmt.
Sinnigerweise stellen unzählige gotische, Renaissance und
Barockkünstler die an die Madonna ergehende Verkündigung (Lukas 1,28
ff.) in einem Lesekabinett dar: der Erzengel Gabriel überrascht die
Tochter Annas, Braut Josephs und dereinstige Gottesmutter in der Stille
eines aufgeräumten Gemachs bei der Lektüre der Heiligen Schrift. Oft
kniet Maria, manchmal sitzt sie auf einem Sessel oder einer Bank, hin
und wieder liegt sie sogar hingestreckt auf einer Matte oder einem
gepolsterten Langstuhl mit Kopflehne; und was tut sie? Sie liest
andächtig in einem aufgeschlagenen Buch.
Am rührendsten und vielleicht auch kühnsten, wenngleich gewiß nicht
künstlerisch am kostbarsten (obwohl durchaus nicht abwegig oder
unziemlich) ist eine Zweiergruppe, die der oberschwäbische Bildhauer
Johann Georg Reusch im Jahre 1757 geschaffen hat und sich in der Kirche
von Unterschwarzach bei Wangen befindet. Sie zeigt die Heilige Anna,
wie sie ihrem Kind Maria das Lesen beibringt. Das Töchterchen, kaum
neun Jahre jung, hält ein zum Betrachter hin aufgeschlagenes Buch, auf
dessen Blättern deutlich zu lesen ist: Odi profanum vul us et arceo,
"Zuwider ist mir der unheilige Haufe und ich halte ihn fern ..." Kein
Wort von Moses, Isaias, Daniel oder einem anderen biblischen
Schriftsteller, sondern der hohepriesterlich tönende Eingangsvers der
ersten Römerode des Horaz! Welch beglückende Synchronizität und
Sinnbildlichkeit! Der lateinische Klassiker Horaz
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