Christus: Eckstein zwischen Judentum und Christentum
Ausschnitt aus einer Adventspredigt
von Kardinal Faulhaber
"Oftmals und auf vielfache Art hat Gott in der Vorzeit durch die Propheten zu den Vätern gesprochen. In der Fülle der Zeiten hat er zu uns gesprochen durch seinen Sohn." (Aus der dritten Weihnachtsmesse, Hebr. 1,1f.)
Über dem Weihnachtsfest und seinem Vorabend liegt wie schon der Name sagt, eine heilige Weihe. Wir denken an die glücklichen Kinder, die mit strahlenden Augen und zappelnden Herzen unter dem Christbaum stehen. Wir denken an die unglücklichen Opfer der wirtschaftlichen Not, die in Erinnerung an ihre sorgenfreie Jugend stille Tränen weinen. Wir denken an die Gefangenen und Verbitterten, deren Seelen am Heiligen Abend leichter als sonst einem guten Wort sich öffnen.
Die Weihe der Weihenacht kann durch dreierlei Menschen getrübt werden. Die einen, die Oberflächlichen, haben über dem Christbaum und den Christgeschenken und dem Drum und Dran von weihnachtlichen Volksgebräuchen die Hauptsache des Christtages, das Christkind, vergessen. Christbaumfeiern ohne Christkindglauben sind Schalen ohne Kern. Die anderen, die Christusleugner, haben das Weidnachtsgeheimnis als Mythus und Märchen erklärt und den Bericht des Evangeliums nicht gelten lassen. Das Evangelium vom neugeborenen Sohn der Jungfrau ist nicht ein Märchen aus tausend und einer Nacht, es ist eine geheimnisvolle, aber eine geschichtliche Tatsache, in den Geschichtsquellen der Evangelien beurkundet. Wieder andere, die Kindischen (...) reden und singen in süßlicher Weise vom Jesulein und den Engelein und vermengen Evangelium und Märchengeschichten. Gewiß müssen wir mit den Kindern in der Sprache der Kinder reden und selber „wie die Kinder werden“, ‚die Erwachsenen aber sollen feste Speise haben’ (Hebr. 5, 13f) Weihnachten soll auch für die Männer Feiertag sein, nicht. bloß für die Kinder, und den männlichen Charakterzug des Christentums nicht verleugnen.
„Ich bin das Alpha und der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“ spricht Gott der Herr, in der Geheimen Offenbarung im ersten und letzten Kapitel (1, 8. 21; 21,6; 22,13). Gottes Werke bleiben nicht auf halbem Wege stecken. Hat der Herr in seinem Heilswerk einmal A gesagt, den Anfang gemacht durch die Offenbarungen des Alten Bundes, dann führt er sein Werk auch zu Ende, bis zum Zet oder nach dem griechischen Alphabet bis zum Oméga, durch die Offenbarungen des Neuen Bundes.
„Oftmals und auf vielfache Art hat Gott in der Vorzeit durch die Propheten zu den Vätern gesprochen. In der Fülle der Zeiten hat er zu uns gesprochen durch seinen Sohn. Christus ist das Endziel des Gesetzes.“ (Röm. 10,4), das Oméga, an den die Verheißungen des Alten Bundes ausmünden. Derselbe Christus ist das Alpha, in dem die Erlösung des Neuen Bundes ihren Ursprung hat. Christus schließt die Tore des alttestamentlichen Tempels und öffnet die Tore des neuen Gottesreiches. Er verabschiedet die Propheten und beruft die Apostel. Christus ist die persönliche Erfüllung und der Schlußstein des Alten Bundes, der Stifter und Eckstein des Neuen Bundes, die persönliche Brücke vom Judentum zum Christentum.
Christus ist die Erfüllung des Alten Bundes. In einer messianischen Weissagung (Gen. 49 26) wird Er aus weiter Ferne gegrüßt als die „Sehnsucht der Hügel von Anfang an“. Aus den Zelten der Erzväter dieser hochragenden Hügel der Urzeit, aus den Schriftrollen der Propheten, aus den messianischen Vorbildern, aus den Psalmen, aus der ganzen Liturgie der altbiblischen Zeit grüßt es und winkt es nach dem Gesalbten des Herrn. Immer lauter worden die Sehnsuchtsrufe von der dritten zur sechsten, von der sechsten zur neunten Stunde. In der elften Stunde lag über dem Lande der Verheißung eine Stimmung, so wie die natürliche Schöpfung sozusagen den Atem anhält, wenn im Osten auf dem Berg das Morgenrot leuchtet und jeden Augenblick die Sonne emporsteigt. Als der letzte Prophet, Johannes der Vorläufer, am Jordan seine Adventspredigten hielt, strömte alles hinaus und die Behörde legte ihm die amtliche Frage vor: „Bist du es, der da kommen soll, oder müssen wir noch länger auf einen andern warten?“ (Luk. 7,19 f) Und als die ersten Apostel berufen wurden, läuft einer zum andern mit der frohen Kunde "Du, wir haben Den gefunden, von dem Moses im Gesetz und die Propheten geschrieben haben“ (Joh. 1,45). Das sind doch deutliche Zeichen dafür, wie stark die Seelen damals mit Sehnsucht nach dem Erwarteten geladen waren. Der Prophet Isaias läßt den Messias sagen: "Der Geist des Herrn ist über mir. Er hat mich gesalbt und gesandt, den Armen die Frohbotschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu heilen, den Gefangenen Straferlaß zu verkünden, den Eingekerkerten die Freiheit, und das Jahr der Versöhnung auszurufen" (Is. 61, 1-3).
In der Fülle der Zeiten liest Jesus diese Stelle in der Synagoge seiner Heimat vor, gibt die Rolle zurück und spricht: "Heute ist dieses Schriftwort in Erfüllung gegangen" (Luk. 4,16-21). Damit hat er selber öffentlich erklärt: Ich bin die Erfülllung, das Oméga der messianischen Weissagungen.
In den Jahrhunderten der Sehnsucht mag die Frage oft zum Himmel gestiegen sein: Wo bleibt er doch und warum läßt er solange auf sich warten? Warum der Heiland so spät geboren wurde: "Mein Vater ist immer an der Arbeit"(Joh. 5,17). In der Durchführung des göttlichen Heilsplanes gibt es keine Unterbrechung, aber auch keine Überstürzung. Kene Pause, aber auch kein sprunghaftes Voranstürmen. Die kurzlebigen Menschen möchten den Auegang der Dinge erleben und fragen ungeduldig : "Lieber Herrgott, warum so langsam?" Der Ewige, vor dem tausend Jahre wie ein Tag sind, hielt seine Augen auf Bethlehem gerichtet und setzte mit dem ihm eigenen Jahrhundertschritt die Meilensteine auf dem Weg nach Bethlehem. Der Mensch wurde erst dann erschaffen, als Sonne und Sterne leuchteten und die ganze Schöpfung wohnlich eingerichtet war und bereit stand, den Menschen, ihren König, zu empfangen. Der Gottmensch wurde erst dann geboren, als nach einem langen Advent die Lichter der messianischen Weissagungen brannten und die Welt bereit stand, den Heiland, ihren König, zu empfangen. Fragt nicht mehr, warum der Heiland so spät geboren wurde. Er sollte nicht bloß Tau vom Himmel und Geschenk von Oben, er sollte auch „die Frucht des Landes“ sein (Is. 4,2) und „aus der Erde hervorsprossen“ (Is. 45,8) Er sollte also nicht in die Welt hineinfliegen, so schnell wie ein Pfeil; er sollte langsam aus der Erde hervorsprossen wie eine Pflanze. Zudem sollte die heidnische Menschheit zuerst das Elend der Gottentfremdung durchkosten bis zur bitteren Hefe. Zuerst sollte sie auf der Suche nach dem Glück der Seelen alle Türen der Erde abbetteln und mit dem verlorenen Sohn zur Erkenntnis kommen: Für uns Menschen gibt es keine Selbsterlösung. Auf langen Irrwegen war die heidnische Welt ihrem Schöpfer entlaufen. In langsamer Führung sollte sie von der unendliche Erbarmung in die Arme Gottes zurückgeführt werden. Das erzieherische Walten Gottes brauchte seine Zeit. Darum wurde der Heiland der Welt so spät geboren.
Christus ist die Erlösung des Alten Bundes. Menschen können auch nach ihrem Tod noch eine Weile weiterwirken in ihren Kindern, in ihren Schülern, in ihren Büchern und Werken. Vielleicht wirft sogar ein Denkmal von ihnen noch eine Zeitlang seinen Schatten auf einen Fleck Erde. Noch niemals aber war ein Mensch vor seiner Geburt Jahrhunderte lang angemeldet, wie das Kind von Bethlehem durch die Propheten angemeldet war. Auch jenen Männern, denen die Weltgeschichte den Beinamen der Großen gab, hat vor ihrer Geburt kein Hahnenschrei gegolten, während dem Kind von Bethlehem, dem Größten der Großen, schon vor der Geburt die Grüße der Jahrhunderte, die Heilrufe der messianischen Weissagungen entgegentönten. Diese Tatsache ist für sich allein ein Beweis für die Gottheit des Gott-mit-uns, ein Stück Evangelium, ein Vorzug von einzigartiger Größe, ein Zeugnis, daß Christus der einzige Übermensch der Weltgeschichte ist. Übermenschlich, weil die Jahrtausende nach seinem Tod seine Segensspuren nicht verwischen konnten. Übermenschlich, weil er schon vor seiner Geburt als 'Engel des Bundes' das auserwählte Volk führte und selber bestimmte, in welchem Volk und von welcher Mutter er geboren wurde.
Christus ist Weltheiland in des Wortes weitestem Sinn, Erlöser für alle Welt, für die vor-christliche Menschheit und für die nach-christliche. "Es hat dem Vater gefallen, durch seinen Sohn alles mit sich zu versöhnen, alles auf Erden und alles im Himmel, indem er Versöhnung stiftete durch das Blut seines Sohnes am Kreuze" (Kol 1,19 f). Es wäre einseitig und kurzgichtig, dabei nur an die nachchristlichen Zeiten zu denken. Das Kind in der Krippe breitet seine Arme nach allen Seiten, wie später am Kreuz, als wollte er sagen: "Für euch alle". Der Verlauf der weltgeschichtlichen Erlösung ist wie eine Prozession geordnet: In der Mitte der Heiland. Die vor-christliche Menschheit zieht vor ihm her mit dem Adventsgesang: "Morgen werden wir die Herrlichkeit Gottes sehen". Die nachchristliche Welt zieht hinter ihm her mit dem Weihnachtslied: "Wir haben seine Herrlichkeit gesehen“. Die Weltgeschichte ist nicht bloß Weltgericht, sie ist viel mehr Welterlösung.
Auch die Gnaden der vorchristlichen Zeit sind dem Welterlöser zu verdanken. Man wird mich fragen: Wie kann man die Früchte eine Baumes pflücken, bevor der Baum gepflanzt ist? Antwort: Wenn die Mutter Christi 50 oder 6O Jahre vor dem Kreuzestod Christi vor der Erbsünde bewahrt blieb und voll der Gnade war, im Hinblick auf den künftigen Versöhnungstod ibres Sohnes ~ dann konnten die Menschen des Alten Bundes ebenso gut 500 oder 5000 Jahre aus den Quellen des Heiles schöpfen, die erst viel später am Fuße des Kreuzes entspringen sollten. Wenn der Vorläufer Christi vor dem Tode Christi im Schoße der Mutter geheiligt werden konnte, dann konnte die Erlöserliebe Gottes auch anderen Menschen einen Vorschuß von den Gnaden des Kreuzes zuwenden. Die ganze Brautausstattung des Volkes Israel, seine Auserwählung und seine Verheißungen, sein Gesetz und die übrigen Hl. Bücher, sein Gottesdienst und die Wunder seiner Geschichte, alles war Anleihe vom Kreuze Christi. Die Rede von Anleihe ist, wie alles Vergängliche nur ein Gleichnis".
Man hat weiter gefragt: Warum hat Gott die Menschheit nach der ersten Sünde nicht aussterben lassen? Wenn die Menschheit doch nur dazu geboren wurde, um den Fluch der Erbsünde weiter zu vererben, das Arbeiten ,unter Disteln und Dornen’ die Mutterschaft unter Schmerzen, das ständige Umlauertwerden von der Schlange, wäre es nicht ein leichteres Los, ja eine richtige Erlösung für die Menschheit gewesen, wenn sie nach der Erbsünde ausgestorben wäre?
Heute geben Krippe und Kreuz die Antwort: Nein, es wäre nicht besser gewesen. Die Kinder Adams sollten weiterleben, nicht bloß um den Fluch der Erbsünde und der Schlange weiterzutragen, vielmehr um dem Segen der Erlösung und des Schlangentreters entgegenzuwandern.
Wie groß steht in diesem Licht der Heiland vor unseren Augen! Als Weltheiland Alpha und Oméga der Weltgeschichte, Manna des Alten, Hostie des Neuen Bundes.
Christus hat, was aus dem Alten Bund ewigen Wert hatte, in den Neuen und ewigen Bund eingebaut, dabei aber den Bausteinen den Omégastempel der Vollendung aufgedrückt. Der Brief an die Hebräer bringt den Nachweis: Christus ist mehr als die Engel, mehr als Moses, mehr als die Hohenpriester und ihre Opfer in der Vorzeit. Christus hat das mosaische Zehngebot für die christliche Welt und Lebensordnung beibehalten, dabei aber durch die evangelischen Räte den Aufstieg zu höherer Vollkommenheit aufgetan. Christus hat dem sittlichen Wert des alten Gesetzes ein gutes Zeugnis ausgestellt, indem er den Wortlaut seiner Hauptgebote, der Gottes- und Nächstenliebe, aus dem mosaischen Fünfbuch übernahm (Deut. 10,12; 13,3 u.a., Levit. 19,11; Mat. 22,37), dabei aber dem Worte Gott einen viel höheren Sinn gab und unter dem Nächsten jeden Menschen verstand nach dem Gleichnis des barmherzigen Samariters, nicht mehr bloß den Volksgenossen. Nächstenliebe nach dem Herzen Jesu erwartet für ihre Wohltätigkeit keine Gegenleistungen. Nächstenliebe nach dem Herzen Jesu verurteilt mit aller Strenge den Irrtum und d,.ie Entweihung des Heiligtums, nimmt sich aber mit aller Milde um die irrenden Menschen an und löscht die glimmenden Dochte nicht aus. Ebenso hat der Stifter des Neuen-Bundes die unsterblich schönen Gebete aus den Hl. Büchern des vorchristlichen Judentums in seine Liturgie übernommen. Darum klingen im Gottesdienst der Kirche die altbiblischen Psalmen und Lesestücke der Propheten weiter. Auch an den höchsten kirchlichen Feiertagen, heute Nacht in der Christmette, vor Ostern in der Charwoche. In seinem Vater unser hat der Menschensohn die Bitten „Geheiligt werde Dein Name, zu uns komme Dein Reich, Dein Wille geschehe" an die erste Stelle gesetzt und dann erst die Bitte um das tägliche Brot und um die Erlösung vom Übel folgen lassen. Die Männer des Alten Testamentes hätten das Vaterunser nach hebräischer Art von rückwärts zu lesen begonnen. Auf dem Berge der Verklärung erschienen Moses und Elias an der Seite Christi, als wollten sie das Gesetz und die Bücher der Propheten den Aposteln des Neuen, Bundes übergeben, die auf dem Tabor dabei waren.
"In der Fülle der Zeiten hat er zu uns gesprochen durch seinen Sohn“. So laßt uns, was der Sohn zu uns gesprochen hat, heilig halten und in den Evangelien immer wieder nachlesen! Wir finden Zeit dazu, wenn wir ernstlich wollen und in anderen Dingen Zeit einsparen. Das Evangelium ist mehr als irgendein Menschenbuch, darum kann uns kein Menschenbuch das Evangelium vollwertig ersetzen.
Göttlicher Meister, aus Deinem Buche leuchtet die Sonne, an deren Gluten die Menschen sich wärmen. Du Alpha und Oméga, Du Verheißung und Erfüllung, Du Eckstein der alten und der neuen Verbundenheit mit dem Vater, Du Manna der alten und Hostie der neuen Zeit, komm und öffne unsere Augen, damit wir Dein Bild im hl. Evangelium immer klarer erschauen! Sprich Dein Ephetha, Damit wir auf Deine Worte, Die Worte des Lebens, immer williger hören! Öffne unsere Lippen, damit wir Deine Frohbotschaft immer weiter verkünden! Heiland der Welt, gib uns Macht, Kinder Gottes zu werden und morgen Deine Herrlichkeit zu sehen! Amen.
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